Donnerstag, 25. Oktober 2007

Keith Jarrett

Das Raubtier nähert sich der Beute Sternstunde: Keith Jarretts virtuoser Auftritt in der Alten Oper Frankfurt

Nun verzeichnet die Topographie seiner Solo-Auftritte auch Frankfurt am Main. Keith Jarrett, der Praeceptor Musicae, dessen Konzerte von seinen Anhängern wie Epiphanien gefeiert werden, hat seine monomanischen Improvisationsabende, die ihm für alle Zeiten einen Platz in den Annalen sichern, im Jahr 1973 in Bremen begonnen. Seitdem lässt sich seine einzigartige Karriere, ähnlich der eines großen Feldherrn, auch an den Städten ablesen, die er seiner Ästhetik unterworfen hat: Lausanne, Köln, Kyoto nebst ein paar anderen japanischen Großstädten, Bregenz, München, Paris, Wien, Mailand, New York. Jetzt also Frankfurt.
Zu Beginn mag es eher Zufall gewesen sein, welcher Ort in die Gunst seiner solistischen Kunst kam. Und die Kölner Oper, in der im Januar 1975 jener legendäre Mitschnitt gemacht wurde, der als „The Köln Concert“ zu den erfolgreichsten Veröffentlichungen in der neunzigjährigen Geschichte von Jazzaufnahmen gehört, würde heute mit einem solch erbarmungswürdigen, erst nachträglich im Studio von allen Intonationstrübungen und Nebengeräuschen befreiten Flügel kaum mehr das Wohlgefallen des Meisters erregen. Aber schon seit den „Sun Bear Concerts“ dosiert Keith Jarrett seine Solokonzerte und wählt die Orte seiner Bühnenpräsenz so sorgfältig wie ein Architekt den Untergrund für einen Wolkenkratzer. Frankfurt konnte sich somit geehrt fühlen, und es war den bisweilen skurrilen, nahe an Hysterie grenzenden Phobien des Künstlers – man kennt mittlerweile seine Ausfälle gegen Fotografen und notorische Huster – vollkommen gewachsen. Ob Jarrett auch seinem Publikum gewachsen war – dazu später mehr.
Fast vierzig Jahre freie Improvisationen, Musik aus dem Nichts, wie Jarrett selbst das nennt – was hat sich dabei verändert? Wenn man an die ausschweifenden Rhapsodien vom Kölner Konzert oder auch von den Auftritten in Paris und Wien denkt, dann wirken heute viele seiner Improvisationen und Stegreifkompositionen geradezu wie Bagatellen. Bagatellen freilich im Sinne Beethovens nicht als Nebensächlichkeiten verstanden, sondern als konzentrierte Charakterstücke. Auf der in Osaka aufgenommenen Einspielung unter dem Titel „Radiance“ hat er das in Vollendung exerziert. Es sind Miniaturen von einer musikalisch-gedanklichen Dichte, die schier den Atem stocken lassen. Für das, was dieser Mann in zwei Minuten am Flügel erzählt oder auch verschweigt, dabei aber stets durchschimmern lässt, benötigen andere Pianisten das Format ganzer Bildungsromane.
Auch Jarretts Frankfurter Konzert, seit Monaten ausverkauft und wie ein gesellschaftliches Ereignis höchsten Ranges herbeigefiebert, war – vor allem nach der Pause und bei den generös gewährten Zugaben – randvoll mit solch geschliffenen Preziosen der Klavierkunst. Als wolle er vor Debussy den Hut ziehen, begann Jarrett das Konzert mit einer vorüberhuschenden Fantasie, die sich mehr an Ganztonskalen als an verminderten Quinten zu orientieren schien. Und schon hier wirkte er nicht so sehr wie ein Pianist auf der Suche nach dem rechten Ton, viel eher wie ein Raubtier, das sich seiner Beute nähert.
Keith Jarrett hat den Flügel nie als ein Instrument betrachtet, dessen Funktionen und Klangeigenschaften man mit entsprechender Technik ausschöpfen kann. Für ihn war das Instrument ein Gegner, den man bezwingen musste, bisweilen mit List und Tücke, bisweilen mit tänzerischem Ablenkungsmanöver, manchmal mit brachialer Gewalt, nicht selten aber, indem man sich das Instrument buchstäblich einverleibt hat. Gelegentlich erschien es wie das Spiel zwischen Katz und Maus, wobei immer außer Frage stand, wem hier welcher Part zugesprochen wurde. In den besten, fast möchte man sagen: den magischen Momenten aber verschwanden die Barrieren, waren die Tasten mit dem Spiel der Finger eins, und es entstand – man verzeihe das Pathos – eine Musik, so schlackenlos und formvollendet, eben so ideal, wie Plato sie sich vorgestellt haben könnte.
Ein solcher Moment war in der Alten Oper Frankfurt etwa im ersten Stück nach der Pause erreicht, über dessen Rhythmus aus Spanish Harlem sich ein wahrer Zaubergarten an Fiorituren und Modulationen ausbreitete. Oder in der ersten Zugabe, einem traditionellen Blues, von dem sich keiner der altehrwürdigen Veteranen aus dem Delta oder aus Chicago je hätte träumen lassen, was er an technischer Brillanz, harmonischer Erweiterung und spielerischer Virtuosität verträgt, ohne an Charakter einzubüßen. Am besten ist Keith Jarrett, dieser Schamane am Klavier, aber immer dann, wenn er seine überschäumende Phantasie selbst zügelt und – wie im zweiten Stück nach der Pause – über einem Bassriff schier endlose und zugleich minimale melodische Variationen entwickelt, als werde hier ein Arbeitslied im Rhythmus einer Chaingang abgeschliffen und je nach Stimmung zurechtgesungen.
Auch im ersten Teil des denkwürdigen Frankfurter Konzerts gab es solche lichten Momente, waghalsiges Improvisieren, abenteuerliche Tonartenwechsel, vierstimmige Jazz-Sätze, volksliedhafte Schlichtheit mit einem interessiert um die Eckpfeiler der Bluenotes und Offbeats schauenden Erik Satie. Aber auch ein-, zweimal uninspiriertes Stochern auf den Klaviertasten, das der übersensible Jarrett einem einzigen in die Stille des Saales platzenden Huster anlastete und zum Anlass für eine Lehrstunde über die wahre Art des Verhaltens bei Klavierabenden nahm. Ungerechterweise. Denn ein disziplinierteres Publikum als das in Frankfurt, das sich vor lauter Respekt dem Künstler gegenüber zunächst sogar den spontanen Applaus versagte, dürfte er so schnell nicht wieder finden. Jarrett sollte sich vielleicht selbst an sein Konzert in der Pariser Salle Pleyel vor zwei Jahren erinnern, das im chaotischen Blitzlichtgewitter von Hunderten von Handys unterging. Frankfurts Alte Oper hat ein bemerkenswertes Konzert erlebt und einem genialen Musiker den verdienten frenetischen Applaus beschert. Es hätte eine noch glänzendere musikalische Sternstunde werden können, wenn Jarrett dem Publikum den gleichen Respekt gezollt hätte.

WOLFGANG SANDNER
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.10.2007 Seite 39