Montag, 13. April 2009
Versagt hat nicht die Marktwirtschaft
In der schweren Finanzkrise muss der Staat retten und regeln. Die Anhänger einer freiheitlichen Ordnung dürfen aber nicht zulassen, dass deren Prinzipien jetzt in Frage gestellt werden. Von Roland Koch
Man weiß in diesen Tagen nicht mehr ganz genau, was schlimmer ist: die Hilflosigkeit derer, die an den Erfolg der Marktwirtschaft glauben wollen, oder das Triumphgeschrei derer, die schon immer den freien Kräften misstraut und der Staatswirtschaft das Wort geredet haben. Die Welt ist aus den Fugen. Ohne Staat gibt es keine Rückkehr zur Stabilität; und dennoch wird jede Zukunftsplanung die gleichen Fragen nach den Prinzipien beantworten müssen wie in allen Jahren seit Beginn der Industrialisierung.
Die Idee der Marktwirtschaft ist nicht der Grund für das Desaster der Weltfinanzindustrie. Im Gegenteil, selbst mit solchen Krisen wird eine dezentrale marktwirtschaftliche Ordnung noch besser fertig als jede staatszentrierte Planwirtschaft. Der kollektive Kollaps der Staatswirtschaften des Ostens liegt zwar schon zwanzig Jahre zurück, aber er hat zumindest den Mythos zerstört, staatliche Lenkung führe zu Wohlstand und Stabilität. Und dennoch, wenn die von der Marktwirtschaft Überzeugten in diesen Tagen nicht aufpassen und um die Erklärungs- und Begriffshoheit kämpfen, dann kann diese Krise unsere Gesellschaft mehr verändern als alle Umwälzungen der vergangenen Jahrzehnte. Denn erstmals stellt sich die Frage der Legitimität und Funktionsfähigkeit marktwirtschaftlicher Steuerungssysteme vor einem wirklich globalen Hintergrund. Also muss wieder über deren Legitimität und Funktionsfähigkeit gesprochen werden. Dabei tragen die Anhänger einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung die Verantwortung dafür, eine klare Unterscheidung zwischen den unbestreitbaren Fehlentwicklungen im Einzelnen und der prinzipiellen Richtigkeit der Grundsätze unserer Ordnung durchzusetzen. Die Gegner der Freiheit, auch in den linken Parteien Deutschlands, werden das Gegenteil versuchen.
"Gier und Angst" seien die Steuerungsmechanismen der Finanzmärkte, lesen wir in den Zeitungen, vom Wirtschaftsteil bis ins Feuilleton. Das ist also in der volkstümlichen Übersetzung aus dem makroökonomischen Grundsatz geworden, dass der Zins die Investition steuert. Kein Zweifel, die Akteure der Finanzindustrie sind mehr und mehr im wahrsten Sinne des Wortes unverantwortlich geworden. Sicherlich kann und darf man den Normalverdiener bei der Anlage seiner Spargroschen nicht mit den Hedge-Fonds dieser Tage vergleichen. Dennoch gilt: Auch jeder von uns ist dankbar, wenn er von dem einen Anbieter einen höheren Zins erhält als von einem anderen.
Wer Geld für riskante Geschäfte haben will, muss mehr bezahlen als für relativ sichere Investitionen. Ideen, die sich wirtschaftlich nicht rechnen, sollten keine Investoren finden. Kein Einzelner kann entscheiden, was wirklich eine gute oder eine schlechte Investition ist — übrigens schon gar nicht der Staat —, deshalb braucht der Markt möglichst viele Teilnehmer, um das Risiko des Irrtums gering zu halten. Zugleich hat jeder die Chance, seine Ideen anzubieten und um Kredit zu werben. Ideen werden nicht zugeteilt, sondern sie entstehen. Die guten setzen sich durch, und die schlechten gehen unter. Die einen wollen mit ihren Ideen möglichst viel verdienen, die anderen wollen möglichst viel Geld dafür erhalten, dass sie mit ihrem Geld die Verwirklichung dieser Ideen erst ermöglichen. Ohne Streben nach Gewinn legen sich alle schlafen und warten auf das staatliche Versorgungspaket. An diesen Grundsätzen ist immer noch alles richtig. Das ist nicht Gier, sondern die Basis jeder marktwirtschaftlichen Ordnung.
Zugleich will niemand sein Geld verlieren. Menschen mit Ideen können sich ruinieren, wenn sie Kredite nicht zurückzahlen; und Kreditgeber können schnell sehr arm werden, wenn sie die Risiken ihrer Kredite falsch eingeschätzt haben. In diesem Sinne sind übrigens auch Aktionäre eher Kreditgeber als Unternehmer. Jeder, der eine Idee verwirklicht oder finanziert, muss berechnen, was das Risiko für ihn bedeutet, seine Investition zu verlieren. Nur deshalb verwirft er Ideen und zahlt oder verlangt hohe Risikoprämien. Das kann man auch Angst nennen. Ohne diese "Angst" verliert der Markt jede Vernunft.
Warum das alles? Ist dieses Spiel des Marktes legitim? Hat sich da jemand eine wirtschaftliche Version des Russischen Roulettes ausgedacht? Auf diese Fragen sollte nur eine Antwort akzeptiert werden, die über die Hektik des Tages hinaus zu den Prinzipien zurückkehrt, nach denen wir zusammenleben wollen.
Vordenker der Marktwirtschaft wie Adam Smith oder David Ricardo entwickelten ihre Theorien in Zeiten einer beginnenden Unsicherheit. Nicht Globalisierung war der Anlass, sondern die beginnende Arbeitsteilung der Industrialisierung, aber grundsätzlich gelten die damaligen Einsichten auch in der Globalisierungsdebatte. Wenn Menschen sich nicht mehr autark oder in kleinen Gemeinschaften versorgen, sondern Handel treiben und sich spezialisieren, muss ein Mechanismus gefunden werden, der regelt, wer von wem was für welche Leistung bekommt. Der eine braucht Schrauben für seine Maschinen, der andere Nahrung, ein Dritter Transportkapazität, und alle brauchen sie Geld. Wer den Menschen als ein freies, eigenverantwortliches Individuum ansieht, kann niemals akzeptieren, dass alles, was für eine solche Wirtschaft nötig ist, von einer hohen Instanz — dem Staat — zugeteilt wird und alle Ideen und alle Anstrengungen von den Zuteilungen dieser hohen Instanz abhängen. Das wäre das Ende der Freiheit. Der real existierende Sozialismus hat bewiesen, dass die Zuteilung nicht funktioniert, dass sie Armut nur notdürftig verwalten, aber niemals Wohlstand schaffen kann.
Das System der Freiheit entspricht nicht nur unserem Bild vom Menschen, sondern es funktioniert auch. Das vermeintliche Chaos, in dem jeder verkauft, was er will, jeder bestellt, was er will, und die Frage, ob man sich einigt, vom Preis abhängt, hat sich bewährt — und zwar unabhängig davon, ob es sich um Schrauben, Transportraum oder eben Geld handelt. Freiheit und Wohlstandsperspektive sind die Legitimation der Marktwirtschaft. Wer sie aus welchen Gründen auch immer angreift, muss das wissen. Für Oskar Lafontaine und seine sozialistisch-kommunistischen Gesinnungsfreunde ist das kein Problem. Freiheit ist für sie kein zentraler Wert. Und über ihre Staatsgläubigkeit kann man nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts nur staunen und erschrecken.
Vielleicht wird mancher Leser jetzt allmählich ungeduldig. Haben diese hehren Prinzipien nicht allesamt versagt? Reden wir nicht gerade über eine vom Finanzmarkt ausgelöste Weltwirtschaftskrise? Greift die "hohe Instanz" des Staates nicht gerade in atemberaubender Weise in die Freiheit der Wirtschaft ein? Ja, haben wir es nicht gerade dem Staat zu verdanken, dass das Schlimmste verhindert wird? Die Antwort auf diese provozierend klingenden Fragen ist prinzipiell ganz einfach: Da an diesem chaotischen Markt nicht nur wenige Eingeweihte beteiligt sind, sondern Millionen von Individuen, die sich nicht kennen, nicht wissen, ob sie sich vertrauen können, werden Regeln benötigt. Diese Regeln entscheiden nicht über Geschäfte, aber sie entscheiden darüber, auf was man sich bei einem Geschäft verlassen können muss. Für die Finanzindustrie der globalen Welt sind die bisherigen Regeln nicht ausreichend. Gescheitert sind diese Regeln, gescheitert ist nicht die Idee des Marktes. Für die Regeln ist am Ende einer langen Kette der Staat verantwortlich, deshalb muss er jetzt auch seiner Rolle als letzter Garant des Marktes gerecht werden, so schmerzhaft und möglicherweise teuer sie auch ist.
Der Eingriff des Staates ist eben nicht vor allem deshalb legitim, weil sich Einzelne fehlerhaft verhalten haben. Die Staaten der freien Welt haben selbst Fehler gemacht; sie baden nicht nur die Fehler anderer aus. Von den schlechten Regeln haben viele profitiert, die beim Einsatz des gesunden Menschenverstandes das böse Ende hätten sehen können. Über sie empören sich die Bürger zu Recht, und sie müssen jetzt zur Rechenschaft gezogen werden.
Ordnungen, die dem Einzelnen die Freiheit zur Entscheidung geben, müssen mit der Unzulänglichkeit des Einzelnen und seiner möglichen Unvernunft fertig werden. Und es gibt immer wieder neue Verführungen der Freiheit, die dem Einzelnen vermeintlich nützen, der Gesellschaft aber schaden. Wenn geliehenes Geld nichts mehr kostet, leiht mancher sich zu viel Geld, obwohl er es nicht mit Sicherheit zurückzahlen kann. Wer kein Geld für ein Haus hat und bei dem dafür nötigen Kredit auch noch das Geld für ein Auto geliehen bekommt, fängt an, auf zu großem Fuß zu leben. Und wenn eine Bank ein bestimmtes Risiko nur eine juristische Sekunde lang in den Büchern hat und es dann schon wieder vergessen kann, verkommt die Kultur des Risikos, von dem die Marktwirtschaft auch lebt.
Zu dieser Kategorie der Fehlentwicklungen gehören auch ins Utopische wachsende Renditephantasien, die dann auch noch als Boni auf den Konten mancher Bankangestellten angekommen sind. Mit diesem Phänomen der Maßlosigkeit werden wir uns übrigens in den nächsten Monaten nicht nur in der Finanzindustrie, sondern auch in der sogenannten Realwirtschaft befassen müssen. Auch in Deutschland sind Unternehmen von Kapitalinvestoren zu Renditevorstellungen erworben und bei Finanzinstituten refinanziert worden, die jedes vernünftige Maß überschreiten. Ein durchschnittliches Handels- oder Industrieunternehmen kann eben nicht eine Rendite von jährlich 20 Prozent und mehr auf das eingesetzte Kapital verdienen. Es muss jetzt darauf geachtet werden, dass Kapitalinvestoren die Verantwortung für solche Fehleinschätzung übernehmen, indem sie zu einer deutlichen Verlängerung ihres Engagements bereit sind und nicht versuchen, einen für Betrieb und Arbeitnehmer unvertretbaren renditegetriebenen Kostendruck zu erzeugen. Angesichts der Tatsache, dass in den kommenden Monaten angeblich ein Umschuldungsbedarf aus "Private Equity Investitionen" von rund 50 Milliarden Euro entsteht, darf dieses Thema nicht aus den Augen verloren werden.
Die Verantwortlichen für diese Fehlentwicklung werden jetzt in der Öffentlichkeit heftig gescholten, je höher ihr Einkommen, desto lauter. Richtig so! Marktwirtschaft ist eben nicht nur Zins. Marktwirtschaft nach unserem Verständnis ist auch Vernunft, Verantwortung, Ethik und Demut. Die arroganten Vertreter des Marktes, die das vergessen hatten, bangen zu Recht um ihren Arbeitsplatz. Aber deshalb unser aller Freiheit aufzugeben wäre die falsche Konsequenz. In der Sozialen Marktwirtschaft können wir vom Staat erwarten, dass er Regeln vorgibt, damit das Leben trotz der Unvernunft Einzelner nicht chaotisch und existenzgefährdend wird. Deshalb dürfen wir bei allem Ärger nicht die Freiheit abschaffen, wir müssen die Regeln ändern. Viel Richtiges ist in den vergangenen Tagen, manch ein Schlaukopf wird vielleicht sagen — zu spät, auf den Weg gebracht worden. Banken dürfen keine Geschäfte außerhalb der Bilanz machen. Risiken dürfen nicht bis zur Unerkennbarkeit vermischt werden. Der Zins darf nicht so billig werden, dass er nicht mehr steuert. Händler der Banken müssen an längerfristigen Erfolgen gemessen werden. Diese und einige weitere Korrekturen bringen Freiheit wieder mit Verantwortung zusammen und schaffen die Transparenz, ohne die es eine funktionierende Marktwirtschaft nicht gibt.
Der Staat ist jetzt als Katastrophenschützer tätig, und das Wort Katastrophe ist dabei wörtlich zu nehmen. Ein Übergreifen der Finanzkrise auf die Realwirtschaft würde zu Unternehmenspleiten, Millionen von Arbeitslosen allein in Deutschland und zu einem Zerfall des staatlichen Steueraufkommens mit allen Folgen für die Stabilität einer modernen Demokratie führen. In dieser Lage kann nur der Staat den Rückweg zu einem funktionierenden Markt ebnen. Das ist keine antimarktwirtschaftliche Anmaßung, sondern seine marktwirtschaftliche Pflicht.
Vieles spricht in diesen Tagen dafür, dass die Operation nach dem Umschiffen einiger schwieriger Klippen gelingen wird und am Ende auch keineswegs unvertretbar teuer ist. Die oft geschmähte Politik ist jetzt unentbehrlich. Diese Erkenntnis lässt hoffen, dass manches selbstgerechte und gegenüber der Politik und ihren Akteuren gelegentlich auch verächtliche Wort aus der Führung einiger Wirtschaftsunternehmen so nicht mehr gilt. Manche in der Wirtschaft begreifen in diesen Tagen, wie sehr auch sie auf starke und entschlussfähige politische Akteure angewiesen sind. Ein durchaus positiver Nebeneffekt.
Und hier schließt sich auch der Kreis der Gefahren für die Freiheit. Das Gefühl der Unentbehrlichkeit darf bei den staatlichen Institutionen nicht dominant werden. Das jetzt binnen einer Woche beschlossene "Eilgesetz" ist die schärfste Waffe seit der Währungsreform. Der Staat kann sich zwangsweise zum Miteigentümer jeder Bank oder Versicherung machen, er kann Geschäftsmodelle vorgeben, Fusionen erzwingen und vieles mehr. (Der Einfluss auf die Managergehälter ist dabei eher ein öffentlichkeitswirksamer Nebenkriegsschauplatz.) Gegen all das gibt es keinen wirklich wirksamen Rechtsschutz. Wer in Not ist und nicht gehorcht, verschwindet vom Markt. Hier verantwortlich und demütig zu agieren wird auch auf der staatlichen Seite nicht jedem leichtfallen. Was hatte man nicht schon immer gerne einmal regeln wollen!
Solche Überheblichkeit würde unsere freiheitliche Ordnung zerstören. Wie in jeder Katastrophe darf der Staat retten, aufräumen, wiederaufbauen. Dann aber muss er wieder heraus aus den wirtschaftlichen Prozessen des Tages und zurück in die Schranken des Regelwerkes. Bei der Klärung der Frage, wer von wem wofür welchen Preis verlangt, wird der Staat nicht gebraucht, ja, er versteht davon nichts. Andernfalls würde die Katastrophe zum Prinzip. Es gäbe immer neue Argumente gegen die Freiheit des Einzelnen, die Ordnung des Marktes könnte keinen Wohlstand mehr sichern oder mehren — und zum Schluss würden alle immer mehr nach dem Staat rufen.
In der Vergangenheit haben viele Völker der Welt Gelegenheit gehabt, Ordnungsformen der Gesellschaft und Wirtschaft zu erproben. Alle Wege endeten in Systemen der Marktwirtschaft, weil ihre Effizienz alternativlos ist. Das gilt sogar für Staaten, denen die individuelle Freiheit als Wert nicht so wichtig ist. In Deutschland haben wir unter der Führung Ludwig Erhards die Effizienz der Marktwirtschaft mit dem christlichen Menschenbild von Freiheit und Verantwortung zusammengebracht. Daraus wurde das weltweit geachtete Modell der Sozialen Marktwirtschaft.
Diese Ordnung erfordert einen Staat, der stark ist und sich zugleich selbst beschränkt, und sie baut auf Menschen, die ihre Freiheit lieben und nutzen, ohne die Grenzen von Moral und Anstand zu überschreiten. Diese Ordnung schafft Frieden, Freiheit und soziale Rücksicht. Die ist so gut, dass sie auch eine Weltfinanzkrise übersteht. Der Staat muss jetzt stark sein, damit die Menschen das Vertrauen in die marktwirtschaftliche Ordnung nicht verlieren. In einigen Monaten wird es schon wieder darum gehen, dass der Staat sich zurücknimmt aus Respekt vor den grundlegenden Stärken des Marktes. Dann müssen die Einzelnen wieder die Werte schaffen, die der Staat nie schaffen könnte. Deshalb dürfen die Anhänger des Marktes nicht hilflos schweigen, auch in einer die Menschen schwer bedrückenden Krise unserer Wirtschaft müssen sie den Feinden der Freiheit Paroli bieten.
Der Autor ist Ministerpräsident des Landes Hessen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.10.2008 Seite 8
Geburtenschwund
Wo kommen die Kinder her?
12. April 2009
Der Befund kann Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) nicht gefallen. Leidenschaftlich kämpft sie für das Elterngeld, um vor allem gut ausgebildeten arbeitenden Frauen die Entscheidung für ein Kind zu erleichtern. Doch gut zwei Jahre nach der Einführung dieses Milliardenprogramms bleibt Deutschland von einem Kindersegen in dieser Gruppe weit entfernt. Der Geburtenrückgang ist nicht gestoppt. Wie das Statistische Bundesamt in dieser Woche mitteilte, ist die Zahl der Neugeborenen in Deutschland 2008 mit 675.000 Kindern gegenüber der vergleichbaren Zahl des Vorjahres erneut um 1,1 Prozent zurückgegangen.
Schlimmer noch: Vor allem die qualifizierten Frauen streiken weiter. Attraktiv ist das Geld vom Staat vor allem für Familien der Unterschicht. „Das Elterngeld ist für mich überhaupt nicht überzeugend“, sagt eine junge Volkswirtin aus Berlin. „Es hilft vielleicht kurzfristig, für zwei Jahre. Doch das Risiko, dann im Beruf nicht mehr so gut wie jetzt Fuß zu fassen, kann es nicht kompensieren.“ Deswegen komme für sie ein Kind jetzt nicht in Frage.
Kinder werden zum Geschäftsmodell
Sie steht mit dieser Ansicht nicht allein. Die Zahlen dazu sprechen eine eindeutige Sprache: Von den ersten 750.000 Babys, die bis Mitte 2008 Ansprüche auf das Geld vom Staat einbringen, stammen nicht einmal fünf Prozent von hochqualifizierten Frauen in guten Jobs. Ein verheerendes Ergebnis; denn gerade ihnen sollte mit dem 2007 eingeführten Elterngeld doch schmackhaft gemacht werden, nicht nur ein erstes, sondern am besten noch das demographisch so schmerzlich vermisste zweite Kind zu bekommen.
Ganz anders wirkte der Geldsegen der Ursula von der Leyen in den unteren Gesellschaftsschichten. Hier hilft es den Frauen, ihre Kinderwünsche umzusetzen. Es ist sogar ein Anreiz. Mehr als jedes zweite Baby wird in Deutschland in Familien geboren, in denen Geld knapp ist. Der Grund dafür ist einfach: Kindergeld, die 300 Euro Elterngeld, dazu vielleicht noch der Geschwisterzuschlag – die Hilfen des Staates erhöhen hier spürbar das Familieneinkommen. Kinder werden – gar nicht unbedingt bewusst – zum Geschäftsmodell. Die offiziellen Zahlen bestätigen das: Für den Großteil der Familien mit weniger als 1000 Euro Nettoeinkommen erhöht sich – anders in den höheren Einkommensklassen – im Jahr der Geburt eines neuen Kindes das verfügbare Einkommen, wie eine Untersuchung des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) im Auftrag des Familienministeriums ergab.
Immer mehr Kinder werden in sozial schwachen Milieus geborenEntsprechend fallen die Zahlen aus: Gerade mal 4,4 Prozent der Frauen, die Babys bekommen, erhalten ein Elterngeld von 1500 bis zum Höchstbetrag von 1800 Euro – stammen also aus jener Schicht, auf die das Programm eigentlich zielt. Weitere 9,3 Prozent bekommen 1000 bis 1500 Euro. Dagegen erhalten 46,9 Prozent den Mindestbetrag von 300 Euro. Für viele Unterschichtenfamilien wirkt der familienpolitische Geldsegen als Anreiz, mit der Kinderzahl ihr Haushaltseinkommen zu erhöhen: „Die haben in den meisten Fällen ja nicht gut versorgte Kinder, die dann plötzlich in die Armut rutschen, sondern können sich die relative Armut als lebenslange Versorgung nur erhalten, wenn sie durch immer neue Kinder unter dem Durchschnittseinkommen bleiben“, sagt der Bremer Sozialwissenschaftler Gunnar Heinsohn. Das Staatsgeld schaffe hier schon fast so etwas wie einen „sanften Beamtenstatus“.
Ministerin von der Leyen hat recht, wenn sie sagt: „Für die meisten Eltern stabilisiert oder erhöht das Elterngeld das Haushaltseinkommen.“ Nur mit welchen Folgen? Hinter den Zahlen verbirgt sich eine gesellschaftlich hochbrisante Entwicklung: Immer mehr Kinder werden in sozial schwachen Milieus geboren, in prekäre materielle und oft genug auch bildungsferne Verhältnisse. Und nur sehr wenige schaffen es, sich daraus im Laufe ihres Lebens hochzuarbeiten.
Eine wirtschaftliche Belastung für Familien
Vor vier Generationen wurden Kinder in Deutschland noch als das Kapital einer Familie angesehen. „Heute sind sie unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten eindeutig eine wirtschaftliche Belastung für Familien“, sagt der Sozialforscher Klaus Hurrelmann von der Berliner Hertie School of Governance. Vor dem Hintergrund der Einkommenseinbußen und hohen Kosten, die Kinder ihren Eltern aus mittleren Gesellschaftsschichten heute verursachen, fallen die staatlichen Sozialtransfers für diese Familien überhaupt nicht ins Gewicht. Familien mit einem Einkommen von mehr als 3000 Euro hilft das Elterngeld deswegen auch kaum. 67 Prozent dieser Familien haben nach der Geburt eines Babys weniger Geld als vor der Geburt.
Ganz anders sieht es in den unteren Einkommensschichten aus. „In einkommensarmen Schichten haben die familienpolitischen Transferleistungen durchaus den Charakter eines Erwerbseinkommensersatzes. Dort wirkt sogar die Erhöhung des Kindergeldes von 10 Euro entlastend“, sagt Uta Meier-Gräwe, Professorin für Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienwissenschaften in Gießen. Kinderreichtum gibt es auch in der Oberschicht. Dort gehören Kinder zum guten Ton, am Geld scheitert der Kinderwunsch nicht.
Schieflage in Sachen Gebärfreudigkeit
Die Schieflage in Sachen Gebärfreudigkeit zwischen den Gesellschaftsschichten ist nicht neu. Die Familienministerin hätte darum bedenken müssen, dass jede Einführung neuer Transfers den Trend noch verstärkt. „Diese Entwicklung wurde schon vor ein paar Jahren im zweiten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung nachgewiesen“, berichtet auch Meier-Gräwe. „Seit Mitte der achtziger Jahre hat sich zunächst in der alten Bundesrepublik und später dann auch in Ostdeutschland gezeigt, dass parallel zur insgesamt steigenden Bildungsbeteiligung von Frauen relativ mehr Kinder in Familien geboren werden, in denen die Eltern keine oder nur geringe Bildungsabschlüsse vorweisen können.“Der Anteil der Kinder, die in eher bildungsfernen und nicht zuletzt dadurch ärmeren Haushalten aufwachsen, ist ständig gestiegen. Die Armutsforscherin warnt allerdings vor dem platten Schluss, in Deutschland würden damit immer mehr dumme Kinder geboren. „Nicht die Kinder sind dümmer, sie haben nur deutlich weniger Chancen, sich zu gut entwickeln.“ Und das hat Konsequenzen: Zu viele dieser Kinder setzen die Karrieren ihrer bildungsfernen Eltern nahtlos fort. Sie bleiben entweder in der Sozialhilfe oder finden nur Arbeit als schlecht ausgebildete und schlecht entlohnte Niedriglöhner.
Weg von der klassischen Mutterrolle
Sozialforscher Hurrelmann sieht neben den Anreizen, die von Sozialtransfers ausgehen, einen weiteren Grund dafür, dass eher in Unter- als in Mittelschichtenfamilien Kinder geboren werden. „Gut ausgebildete Frauen wollen ihre Bildung auch anwenden. Sie sehen sich nicht mehr in der klassischen Mutterrolle“, sagt er. „In ihrer Lebensplanung kommen Kinder später vor. Im Kalkül des Für und Wider gibt es zunehmend Bedenken.“
In den unteren sozialen Schichten ist dagegen die klassische Rolle als Hausfrau und Mutter viel stärker ausgeprägt. Wie bei Hanna L. aus Hannover, deren Familie von Hartz IV lebt. „Kinder gehören doch dazu“, sagt sie. „Na ja, und wenn der Staat mir Geld dazugibt . . .“ Sie zuckt mit den Schultern. „Das hilft.“ Anders gesagt: Die weniger gebildeten Frauen wünschen sich Kinder und bekommen sie auch. Und der Staat fördert dies. Die gut ausgebildeten Frauen wünschen sich auch Kinder, aber sie bekommen sie nicht. „Bisher ist es trotz aller politischer Anstrengungen nicht gelungen, die zögerlichen Frauen aus der Mittelschicht davon zu überzeugen, ihre Kinderwünsche auch tatsächlich umzusetzen“, sagt Hurrelmann.
Für die Zukunft heißt das nichts Gutes
Für die Zukunft heißt das nichts Gutes: Der Anteil der Kinder aus bildungsfernen Familien wird weiter steigen. Die Schicht der Transferempfänger reproduziert sich selbst in einem Land, in dem sozialer Aufstieg seltener gelingt als anderswo – auch weil sich viele im Sozialstaat eingerichtet und den Willen zum Aufstieg aus eigener Kraft aufgegeben haben. Von den gesellschaftlichen Folgekosten dieser Entwicklung will kaum einer sprechen. Nicht zuletzt, weil es politisch wenig korrekt ist, auf die falschen Anreizwirkung des Geldsegens hinzuweisen. Im Gegenteil: Um den Kampf gegen Kinderarmut zu gewinnen, wird in der Politik der Ruf nach noch höheren Sozialtransfers lauter. Die Folge: Der Trend, dass vor allem in bildungsfernen Schichten Kinder geboren werden, wird sich weiter verstärken.