Sonntag, 26. Juli 2009

Der Letzte macht das Licht an

Demographiepolitik

Der Letzte macht das Licht an

Von Wolfgang Tiefensee

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Der Auftraggeber der Studie: Bundesminister Wolfgang Tiefensee bei einer Pressekonferenz Ende letzten Monats in Berlin

04. Juli 2009 Farben sagen manchmal mehr als Worte. In der Kartographie des demographischen Wandels werden die prosperierenden Regionen warm getönt, den Regionen mit Bevölkerungsschwund hingegen wird sinisteres Schwarz zugewiesen. Sicher, sehr viele dieser Regionen überwiegend im Osten unseres Landes haben gravierende Defizite. Arbeitsplätze und Unternehmen fehlen, die Flexiblen der Bedürftigen fliehen in blühende Wirtschaftslandschaften. Damit schwinden Steuerkraft und Kunden: für Ämter, Verkehr, Ärzte, Läden, Kultur. Es bleibt die Frage nach der Zukunft derjenigen, die ohne Arbeitsperspektive, aus Bildungs- oder Altersschwäche, aus Heimatliebe, der Familie wegen oder aus trotziger Beharrung das Licht in diesen Regionen nicht löschen wollen.

Dieses Problem stellt die Bürger und die Politik vor existentielle Fragen. Die wesentliche: Wie weit reicht, wie weit garantieren wir den Zusammenhalt unserer Gesellschaft? Der jüngste Beitrag zur Debatte ist ein Gutachten, welches vom Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung erstellt wurde (Plädoyer für eine neue demographische Politik: Herr Minister, wir schrumpfen!). Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, welches Interesse, welche Brisanz, welche Sorgen und welche Befürchtungen mit dem Thema "demographischer Wandel" verbunden sind, dann waren das die Reaktionen auf die Veröffentlichung des Gutachtens. Mit dieser Diskussion hat das Thema zu Recht eine enorme Aufmerksamkeit gefunden. Das ist bei aller Kritik der beste Effekt der Debatte, und er sollte uns anspornen, nicht nach den besten Lösungen zu suchen. Viele Anregungen der Studie liegen voll auf unserer Linie, manche sind längst realisiert. Andere sollten jetzt mit Verve diskutiert und umgesetzt werden.

Der Staat als Garant

Ein Metropolenbewohner kann Rundum-Service einfordern, der Kleinstdorfbewohner muss selbst ran. Die Wissenschaftler des Berlin Instituts fordern nun, die öffentliche Förderung einzustellen, wenn die Bürger in der Region nicht spuren und drei Jahre keine Projekte in Eigenregie zustande bringen. Das ist zwar rational, mag auch ökonomisch sein, aber deshalb ist es noch keineswegs richtig. Eine solche Brutalität verbietet gottlob unsere Verfassung und entspricht auch nicht meinem Verständnis von politischer Gestaltung und sozialer Gerechtigkeit.

Damit sind wir beim Kern der Frage, vor die der Bevölkerungsschwund in manchen Regionen uns stellt: Geben wir diese auf? Drehen wir den Geldhahn zu und machen das Licht dort aus? Über das Niveau und den Ausstattungsgrad können und müssen wir diskutieren. Wer Regionen aufgeben will, der gibt die Menschen darin auf. Der Staat ist der Einzige, der die öffentliche Daseinsvorsorge auch in den vom Bevölkerungsrückgang betroffenen Regionen sichern kann. Daraus ergibt sich eine ganz besondere Verantwortung. Die Forderung nach einem Rückzug des Staates aus diesen Regionen und einem Ende der öffentlichen Daseinsvorsorge ist radikal und eingängig zugleich. Aber derart radikale Forderungen waren schon immer zu einfach. Sie bringen uns auch jetzt überhaupt nicht weiter.

Neue Möglichkeiten auf dem Land

Richten wir nochmals bitte den Blick auf das konkrete Schicksal: Soll die alte Frau, die sich an ihr Dorf, ihr Häuschen, ihr Tomatenbeet klammert, ins Pflegeheim im Oberzentrum verfrachtet werden? Ist das ein demokratisch-sozialer Gestus, oder nicht ein ganz anderer? Soll den Kindern des Langzeitarbeitslosen, der, in welcher prosperierenden Region auch immer, keine Arbeit findet, Bildung und Betreuung verwehrt werden? Sollen in den Städten, deren leere Fensterhöhlen vom Niedergang künden, Ruinen das Stadtbild prägen, das Lebensgefühl? Sollen die Jugendlichen durch Abbau aller Freizeitangebote den Rechtsextremen in die Arme getrieben werden?

Die Antwort wäre: Ja, wenn man sich dem Zeitgeist der Entsolidarisierung ergibt. Wenn wir einen solchen Manchester-Regionalismus zur Grundlage einer straffen Planung machten, dann würden diese Landstriche und diese Menschen nicht nur schwarz eingefärbt in den Karten, sondern endgültig abgeschrieben. Wissenschaftler können so etwas fordern. Politik aber muss es verhindern! Nur ein Staat, der seine Menschen nicht aufgibt, ist ein demokratischer, ein Rechts- und ein Sozialstaat.

Wir werden diese Regionen aber nicht nur weiter fördern um der dort Lebenden willen. Wir werden diese wunderbaren Landstriche nicht verloren geben, sondern ihnen eine Zukunft ermöglichen. In Frankreich beispielsweise ziehen immer mehr Menschen aufs Land und revitalisieren abgelegene Dörfer. Mit Internet, Breitbandversorgung und Telearbeit eröffnet die Technik neue Arbeits- und Lebenschancen auch fern der Metropolen. Dahin sollte unser Ehrgeiz gehen. Was sind schon blühende Landschaften gegen lebendige Landschaften!

Der Autor ist Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.



Text: F.A.Z.

Abwanderung im Osten

Da war die Studie plötzlich weg

Von Thiemo Heeg und Christian Geinitz

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Nicht alle Studien präsentiert Wolfgang Tiefensee so stolz wie diese hier

24. Juni 2009 Brauchen Politiker Argumente, setzen sie gerne auf externen Sachverstand. Wissenschaftler erstellen dann im Auftrag von Ministerien ausführliche Gutachten. Im besten Fall stützen diese Studien die Linie des Politikers – dann werden sie unter großem publizistischem Getöse veröffentlicht. Im anderen Fall landen die Untersuchungen von der Öffentlichkeit unbemerkt im Papierkorb. Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee wählte jetzt eine dritte Variante, die nicht gerade von politischem Geschick kündet.

In seinem Auftrag erstellte das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung ein 64 Seiten starkes Gutachten zum demographischen Wandel. Die Studie des unabhängigen Wissenschaftsinstituts setzt sich kritisch mit der bisherigen Förderpolitik für "benachteiligte" Gebiete auseinander. In ihrer Untersuchung schlagen die beiden Autoren Andreas Weber und Reiner Klingholz unter anderem vor, dass einige Regionen in den neuen Ländern außerhalb der Daseinsvorsorge nicht länger gefördert werden sollten

"Manche Regionen sind nicht förderbar"

In Ostdeutschland gibt es demnach Landstriche, die niemals den deutschen Entwicklungdurchschnitt erreichen können und in denen sich öffentliche Förderung deshalb nicht lohnt. "Manche Regionen sind nicht förderbar", heißt es in der Untersuchung. In diesen "abgekoppelten" Gegenden seien keine Investitionen zu erwarten, es fehlten motivierte Lokalpolitiker, gut ausgebildete und innovative Arbeitskräfte. Daran änderten auch aufwendige Infrastrukturbauten, Entwicklungsprogramme oder der Einsatz von Beratern nichts.

Vorschläge mit politischer Sprengkraft, die Tiefensee als Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Länder nicht gefallen können. Das machte er schon bei der Vorstellung der Studie am Montag klar. Am Dienstagmorgen dann erhielt das Berlin-Institut die Weisung, die auf der eigenen Internet-Seite publizierte Studie vom Netz zu nehmen. Dieser Aufforderung kam das Institut zwangsweise nach: Am Nachmittag fanden Interessierte nur noch den kargen Hinweis: "Auf Wunsch des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) ist das Gutachten auf unseren Seiten nicht verfügbar."

Eine Ministeriumssprecherin bestätigte das Vorgehen, sagte aber, es habe nichts mit den Inhalten zu tun. Vielmehr wolle das Ministerium das Papier zunächst intern auswerten. "Es ist nicht für die Veröffentlichung bestimmt." Vielleicht ein frühes Opfer des demographischen Wandels?

Text: F.A.Z.

Was heißt: Dialog der Religionen?

Von Karl Kardinal Lehmann

Auch wenn es eine besondere Sorge der Religionen um den Erhalt der Schöpfung, um Frieden unter den Völkern, um Recht und Gerechtigkeit gibt, wäre es eine Verkürzung, wenn der Dialog so konzipiert würde, dass er die religiösen Fragen ausklammert und nur politisch und sozial relevante oder nur ethisch orientierte Themen in Angriff nimmt. Dialog ist auf das Finden und das Anerkennen von Wahrheit ausgerichtet.

Der Begriff Religion kann irritieren. Er kann leicht vortäuschen, man könne die oft verwirrende und widersprüchliche Vielfalt der Religionen gleichsam in einer Definition ausreichend zusammenfassen. Ursprünglich bezog sich der Begriff Religion auf den Vollzug religiöser Überzeugungen, auf eine bestimmte Praxis und auch auf die Sorge um die Bewahrung des überkommenen Glaubens. In der Neuzeit wurde der Religionsbegriff erheblich ausgeweitet und dadurch immer abstrakter und universaler – selbst Aberglauben und Satanskulte zählten als Religion. Dadurch wurde der Religionsbegriff immer inhaltsleerer und weniger brauchbar für die Beschreibung der gelebten Religion.

In gewisser Weise ist dieser Prozess freilich unvermeidlich, wenn man überhaupt Wert legt auf eine minimale Erfassung der Einheit religiöser Überzeugungen mitten in der Vielfalt der religiösen Vollzüge. So hat der Vorschlag, auf den Religionsbegriff ganz zu verzichten, schon aus wissenschaftsorganisatorischen Gründen keine Akzeptanz gefunden. Gewiss ist das Moment der Orientierung zur Bestimmung von Religion in dem Sinne festzuhalten, dass Religion zur Führung des eigenen Lebens, besonders in den Widersprüchen der Lebensverhältnisse und in den Schicksalsschlägen der menschlichen Existenz, zur Bewältigung dieser Situationen beitragen will, und zwar in allen Dimensionen des Menschen (Geist, Seele, Leib).

Freilich sucht der Mensch gerade in Grenzsituationen eine Antwort, die ihm "von außen" hilft. Religion soll einen Sinn gewähren, wo sonst nur noch Elend, Chaos und Verzweiflung herrschen würden. Die Instanz, die hier hilfreich sein kann und soll, gerät manchmal in die Nähe von Magie, die Macht gewinnt über die widrigen Umstände. Sie wird aber auch in einigen Religionen bezeichnet mit dem "Absoluten", mit dem "Heiligen", mit dem "Göttlichen" oder eben auch mit dem vieldeutigen Wort "Gott". Das Wort Transzendenz, das unter Umständen in Stufen über das empirisch Erfahrbare hinausreicht, beschreibt diesen Prozess.

Ein zureichender Begriff von Religion muss auch die Rituale und die Mythen einbeziehen. Gerade in ihnen zeigt sich einerseits, dass die Religion vor allem über die Symbole zur Primärwelt des Menschen gehört, dass sich anderseits aber in ihnen etwas zeigt, was sich nicht in diesen begrenzten vergänglichen Gestalten erschöpft. Mircea Eliade hat dafür den Leitbegriff der Hierophanie geprägt: Das Unendliche, Ewige und Göttliche bekundet sich und zeigt sich im Umkreis von Natur, Geschichte und Kultur. Dafür gibt es auch in der religionswissenschaftlichen Erhellung des Phänomens die Begriffe der Epiphanie oder der Erleuchtung. Schließlich entsteht an dieser Stelle das Wortfeld der Offenbarung. Dabei gibt es zugleich eine Einheit und eine Differenz: In dem Begegnenden erscheint das Heilige, wobei bei aller Differenz beides zur Erfahrung kommt.

Diese unleugbar große Variabilität des Phänomens Religion kann zu einer doppelten Verhaltensweise führen. Man schließt sich ganz in die eigene Identität ein und interessiert sich sehr wenig für das Verhältnis zu anderen Religionen. Wenn es überhaupt eine Relation gibt, so meist Verwerfung. Damit verbindet sich leicht die Gefahr eines selbstgenügsamen Fundamentalismus und möglicherweise auch eines Fanatismus. Das Ergebnis ist oft ein sehr militantes Verhältnis zu anderen Religionen. Es kann aber auch sein, dass man auf der anderen Seite die Vielfalt so interpretiert, dass die Vielheit der Religionen als Brechung erscheint, die die verschiedenen gesellschaftlichen, historischen und kulturellen Bedingtheiten jeder Religion spiegelt. Deswegen ist die Vielfalt oft relativ gleichgültig im Sinne einer Indifferenz, die nicht mehr näher beachtet wird. Eine solche Mentalität kann viele Arten des Verhaltens ausbilden, angefangen von grundlegendem Desinteresse an anderen Religionen bis zu grenzenloser Toleranz allen religiösen Ausdrucksformen gegenüber. Je differenzierter das Spektrum von Religion und Religiosität erfasst wird, umso mehr droht die Gefahr solcher grundsätzlicher Haltungen.

Diese Gefahr ist nicht eine theoretische. Die Mobilität unserer Welt führt dazu, dass man das Andere und Fremde unwillkürlich wahrnehmen muss, weil es uns ziemlich nahe auf den Leib rückt. Man kann heute fremden Religionen weniger ausweichen. Dies steigert sich noch, wenn man auf die Globalisierung blickt, die in den Augen nicht weniger eine neue, letztlich unfriedliche Epoche der Religionsgeschichte eröffnet. Hinter dieser Einschätzung steht die mehr oder minder begründete Auffassung, dass Religionen Konflikte erzeugen und intolerant sind. Ohnehin wird schon lange eine wechselseitige Abhängigkeit von Monotheismus und Intoleranz behauptet. Freilich gibt es auch Gegenargumente, denn – so wird erklärt – keine Weltreligion könne sich Aufrufe zur Gewalt erlauben. Gewaltlosigkeit sei ohnehin eine Grundkomponente aller Religionen. Dieses Thema steht heute im Zentrum der Auseinandersetzung über die Religionen.

Diese Interpretationsmöglichkeiten und die daraus folgenden Verhaltensformen sollten berücksichtigt werden, wenn man heute einen "interreligiösen Dialog" oder den Dialog der Religionen verlangt. Man darf die Schwierigkeiten nicht unterschätzen, die dem Verstehen des Fremden und Anderen entgegenstehen. Diese reichen von der Unfähigkeit zu verstehen bis hin zur Aneignung des Anderen. Dabei befürchtet man, dass das Verstehen dem Anderen seine Andersheit nehmen könnte und daher auch eine Art von Vereinnahmung bedeutet. Es entsteht dabei die Frage, ob das Verstehen das Fremde so sehr in den eigenen Horizont einbezieht und übersetzt, dass ihm die spezifische Eigenheit genommen wird. In der Tat setzt, wie die Auseinandersetzung um Einwanderung, Integration und den Kampf der Kulturen zeigt, jedes Verstehen eine gewisse Anerkennung des Fremden in seiner Andersheit voraus. Ohne eine Kraft der empathischen Annäherung und eines sensiblen Verstehenwollens gibt es nach alter Überzeugung keine Erkenntnis.

Interreligiöser Dialog schließt die Weigerung aus, sich überhaupt auf das Andere und Fremde einzulassen und sich selbstgenügsam in sich zu verschließen. Er setzt voraus, dass man sich damit in der Begegnung gerade mit einer fremden Religion einem Wagnis aussetzt, nämlich entweder das Eigene des Anderen zu verkennen, also mehr oder weniger misszuverstehen, oder das Andere sich ganz anzugleichen und dadurch vielleicht zu manipulieren. Es kann aber auch die Gefahr drohen, in einer fragwürdigen Begeisterung, in einem trunkenen Enthusiasmus oder einer ungeklärten Faszination vom Fremden regelrecht aufgesogen zu werden.

Was aber heißt vor diesem Hintergrund Dialog? Ein Dialog ist ja nicht einfach eine Unterhaltung oder auch nicht irgendein Gespräch. Dialog ist auch niemals eine harmlose Form eines allgemeinen Sichöffnens auf Welt und Gesellschaft hin oder gar eine Spielart unreflektierter Anpassung. Dialog ist im Unterschied zum Gespräch auf das gemeinsame Finden und Anerkennen von Wahrheit ausgerichtet. Er strebt nach einer Einigung, die einem zuvor bestehenden Missverständnis oder auch einem Streit wenigstens ein vorläufiges Ende setzt. Diese Einigung muss nicht immer ein Konsens in allen Dimensionen und Teilbereichen eines Problems oder einer Sache sein. Es gibt auch Stufen der Übereinstimmung.

Wenn ein Dialog stärker durch die Argumentation als Form der Kommunikation gekennzeichnet ist, wird er im heutigen Denken eher als "Diskurs" bezeichnet. Ein Diskurs versucht über die Berechtigung eines problematisierten Geltungsanspruchs eine Entscheidung herbeizuführen. Er setzt voraus, dass ein Wahrheitsanspruch in Frage gestellt ist und dass eine gemeinsame, wirklich kooperative Wahrheitssuche in einer zwanglosen und uneingeschränkten Kommunikation der Verständigung dient. Dem Dialog eignet im Unterschied zu dem strengeren Diskurs das Merkmal der Offenheit und Gesprächsbereitschaft in allen Lebensäußerungen. Damit ist er eine hervorragende und fruchtbare Methode, wie in einer Gesellschaft mit einer sehr konkreten Vielfalt und den unvermeidlichen Pluralitäten redlich umgegangen werden kann. Der Dialog muss dabei an den Willen zur Findung von Wahrheit gebunden bleiben.

Ein solcher Dialog hat viele Feinde. Sie steigern sich, wenn es um werthaltige Stellungnahmen geht, besonders weltanschaulicher, philosophischer, religiöser und theologischer Art. Hier droht zunächst die Gefahr, dass Dialog im Namen von Toleranz zunächst nichts anderes meint als eine beliebige Freiheit der Äußerung. Dabei wird der Anschein erweckt, ein solcher Dialog sei besonders tolerant, wenn er auf Seiten der Partner möglichst wenig Verbindlichkeit voraussetzt und schlechthin alles zugelassen wird. Dabei erscheint heute bereits der Standort eines Partners, der nicht verborgen bleibt, sondern zur Sprache kommt, als Verletzung der Dialogbereitschaft. Gewiss gibt es hier bei der Standortgebundenheit der Teilnehmer die Gefahr einer Unduldsamkeit, von Vorurteilen, ja von Borniertheit. Aber das Vorliegen und Darlegen von Verstehensvoraussetzungen ist nicht einfach "Dogmatismus".

Ich habe in letzter Zeit den Eindruck gewonnen, dass man die Religionsfreiheit, auch im verfassungsmäßigen Sinn, heute oft nur – und zwar gerade im Bereich des interreligiösen Dialogs und der Rede darüber – als negative Religionsfreiheit versteht. Dies ist aber nur die eine Hälfte verfassungsmäßig garantierter Religionsfreiheit. Zu ihr gehört die positive Religionsfreiheit, die der Existenz und dem Wirken von Religion, ohne in den inneren Bereich einzugreifen, Raum gewährt und eine Anerkennung der jeweiligen religiösen Überzeugungen erfordert, ja auch Respekt nötig macht. Auf vielen Feldern des öffentlichen Denkens hat sich ein Verständnis von Toleranz eingeschlichen, das im Grunde im Blick auf verbindliche Gehalte beliebig und "substanzlos" ist. Dialog darf nicht durch Machtansprüche gleich welcher Art verzerrt werden. Es gibt dabei auch eine Intoleranz, die sich als Liberalität gibt.

Ein Missverständnis des Dialogs wäre es auch, einen Dialog nur dann als möglich zu sehen, wenn man nur eine abstrakte Gemeinsamkeit einiger religiöser Elemente zulässt. Alles, was partikulär, konkret und spezifisch ist, wird zugunsten dieser abstrakten Gemeinsamkeit ausgeklammert oder beiseitegeschoben. Damit verliert aber Religion an Konturen, wird blass und letztlich unverbindlich. Hier liegt eine große Gefahr des modernen Religionsbegriffs, die dadurch noch erhöht wird, dass eine bestimmte Religion reduziert wird auf theoretische Aussagen und "Lehre", die affektiven Elemente, die ethisch-willentlichen Aspekte sowie die Handlungsimpulse hingegen nicht genügend beachtet werden. Eine solche Verkürzung des Phänomens Religion innerhalb der Forderung nach einem interreligiösen Dialog wird oft zu wenig gesehen.

Ohne eine ganzheitliche, vor allem aber auch personale, existentielle und willentliche Entscheidungsdimension ist das Phänomen Religion nicht zu begreifen. Darum haftet aber auch der konkreten Religion gerne der Aspekt des Irrationalen an, besonders wenn zur Beschreibung das Wort und das Bedeutungsfeld des "Gefühls" verwendet werden. Am wahren interreligiösen Dialog sind in der Regel ja Teilnehmer und Anhänger konkreter Religionen beteiligt. Er wird nicht einfach "von außen" veranstaltet, sei es vom Staat, von den Kulturschaffenden oder den Medien oder aber den Wissenschaften her. Im interreligiösen Dialog müssen die Religionen selbst bei aller hilfreichen Begleitung durch andere zueinanderfinden. Das macht gewiss jeden Begriff eines Dialoges der Religionen komplexer und im konkreten Verstehens- und Verständigungsversuch schwieriger.

Jedenfalls hat das Ziel einer Verständigung einen stark emphatischen und bis zu einem gewissen Grad auch ethischen Anstrich. Denn wenn das Einverständnis in der Sache das Ziel aller Verständigung ist, dann drängt alle Verständigung zu einem Konsens. Wir haben aber, besonders im ökumenischen Gespräch unter den christlichen Kirchen, gelernt, dass eine solche Verständigung noch viele Schritte zulässt. Daraus kann man für den interreligiösen Dialog lernen. Es gibt ein Minimum an Einvernehmen, es gibt Teilkonsense oder auch als Maximum einen Totalkonsens. Vielleicht ist aber auch noch gar keine geglückte Übereinstimmung erreichbar. Dann gibt es in unterschiedlicher Weise Konvergenzen oder Divergenzen, die sich einem Konsens nähern oder davon wegführen. Dies muss selbstverständlich auch im interreligiösen Dialog beachtet werden. Der erreichte Status muss dann zuverlässig festgehalten werden für weitere Versuche der Verständigung. Wenn man hier nicht sorgfältig die operativen Schritte und deren Erreichbarkeit reflektiert, kommt man sehr leicht zu maßlosen Erwartungen, gerade im interreligiösen Dialog. Illusionen darüber sind aber gefährlich.

So ergibt sich die Frage, ob man von einem interreligiösen Dialog oft nicht zu viel verlangt und zu viel erwartet. Das Modell eines theoretischen Konsenses ist jedenfalls allein nicht angemessen, sosehr das geistige Element Gewicht behält. Der Dialog hat im Blick auf die Religion auch dann einen Sinn, wenn man zunächst "nur" Verschiedenheiten zwischen Religionen aufdeckt. Der Dialog scheitert oft, wenn eine argumentative Widerlegung des Gegenübers oder das Erreichen einer gemeinsamen Begründungsebene beabsichtigt wird. Der interreligiöse Dialog hat eine eigene Struktur. Das schlagende Argument hat seine Grenzen und kann zerstörerisch wirken. Weiter bedarf es einer anderen Erfassung des "Gegenstandes" der Begegnung im interreligiösen Dialog. Es geht dabei ja nicht nur um ein abstraktes Vergleichen von Positionen. Für den interreligiösen Dialog kann selbst das Scheitern von Konsensbemühungen produktiv und fruchtbar werden.

Ich möchte als Begegnungsform des interreligiösen Dialogs den Begriff des "religiösen Zeugnisses" vorschlagen und damit eine Anregung von P. Felix Körner SJ aufgreifen und verstärken. Zeugnis ist nicht nur eine eigene "Redeform", sondern bringt auch das umfassendere Verstehen einer Religion ins Spiel: Es ist zugleich die authentische Darstellung eines Bekenntnisses, wie es zur Religion gehört. Die radikale Andersheit des Gesprächspartners braucht nicht grundlegend zu überraschen. Oft ist bereits das damit einhergehende Gespräch anders. Schon während der Präsentation der eigenen Überzeugung tritt man in einen Austausch mit den jeweils vorgestellten Partnern. Auch entdeckt man erst im Dialog ganz die eigene Sicht. Oft scheint erst im Angesicht des Anderen das Eigene auf. Infragestellung kann auch Neues zu Gesicht bringen. Das Zeugnis ist in diesem Falle eine Mischung von Argumentation und Selbstevidenz eines Anderen, der oder das sich darin zeigt.

Man kann darüber streiten, ob man schon an dieser Stelle das Wort Offenbarung gebrauchen soll. Jedenfalls kann man sinnvoll miteinander sprechen, auch wenn sich (noch) kein gemeinsamer Begriffsrahmen einstellt. So haben Zeugnisse, selbst wenn sie noch nicht zu einem Konsens führen, ein hohes hermeneutisches und heuristisches Potential. Das Gegenüber von Zeugnissen ist also immer zugleich eine riskante Begegnung, verlangt ein dynamisches dialogisches Verfahren und lässt Differenzen besser verstehen.

In diesem Zusammenhang will ich davon absehen, dass noch eine weitere Dimension beim religiösen Gespräch hinzukommt, die in der Verständigung eine Rolle spielt: Nicht alles, was sich in unseren Gedanken abspielt, ist, so wie es sich abspielt, der sprachlichen Wiedergabe fähig. Es gibt viele nicht ausgesprochene, bewusste oder unbewusste Hintergründe. Dies muss bei der "Objektivierung" religiöser Erfahrungen besonders bedacht werden, kommt aber im Falle des interreligiösen Dialogs durch die Kommunikation in Zeugnisform zur Sprache. Ich bin der festen Überzeugung, dass man damit dem interreligiösen Dialog besser gerecht wird, ihn nicht maßlos überfordert und er dadurch auch fruchtbarer werden kann. Es kann sich zudem ein Verstehen vollziehen, das nicht schon von vornherein den Sieg des eigenen Erkenntnismusters impliziert. Geltungsansprüche werden zwar zur Kenntnis genommen, aber zugleich eingeschränkt, weil man eben zuerst kennenlernen will.

Damit wandelt sich wohl auch die Art des Dialogs. Das schlichte Kennenlernen, Kontakte, Besuche und einfache Gespräche bekommen ein größeres Gewicht. So gibt es zum Beispiel Besuche von Christen – im konkreten Fall waren es Theologiestudenten – in Moscheen und zugleich eine Gegeneinladung von Muslimen in eine christliche Kirche. Vielleicht tun wir uns unter anderem deshalb mit dem interreligiösen Gespräch so schwer, weil wir diese schlichten Begegnungsformen – vor allem auch in der Nachbarschaft – geringschätzen und zu wenig pflegen. Hier kann sich hinter einfachen Formen der Begegnung ein wichtiges Feld religiöser Begegnung auftun. Man interessiert sich füreinander und geht nicht achtlos oder achselzuckend aneinander vorüber. Ein Taxifahrer hält auf der Straße, die ich überqueren will, und fragt freundlich: "Geht es Ihnen wieder besser?" Auf meine bejahende Antwort folgt ein "Ich freue mich". Woher er komme, möchte ich wissen. "Ich bin ein Iraner. Ich bin 26 Jahre im Exil. Ich bin dankbar, dass ich hier sein darf." Meine Antwort: "Ich wünsche Ihnen Gottes Segen und auf ein gutes Wiedersehen." Er fährt weiter. Diese Elemente des religiösen Dialogs dürfen wir nicht verachten.

Dialog muss in Rücksicht auf die Eigenart religiöser Überzeugungen authentisch sein: Verzicht auf Einseitigkeiten und Machtpositionen, wahre Ebenbürtigkeit der Partner, Verzicht auf simple Widerlegung, Bereitschaft zu riskanter Begegnung und auch zur "Schwäche". Jede Suche nach besserem Verstehen des Wesens von Religion darf nicht nur bloß beim Gesprächspartner auf die Feststellung von "Unwesen" in der Religion ausgerichtet sein, sondern muss zugleich zum Finden des Unwesens bei sich und im eigenen Bereich bereit sein. Dabei kommt es gewiss auf die inhaltliche Beachtung einiger grundlegender Anforderungen an Religion heute an. Wenn ein Dialog darüber im ersten Anlauf oder auch länger nicht gelingt, ist er nicht umsonst.

Anforderungen an Religion heute sollte man anhand mehrerer praktischer Kriterien zur Sprache bringen. Eine Religion etwa, die die gleiche Würde der Menschen verletzt und den Rang und Wert der Menschen nach Rasse und Klasse, Herkunft und Stand, Bildung und Vermögen/Besitz, ja nach der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion einschätzt und absolut setzt, gefährdet sich fundamental selbst und wirkt zerstörerisch. Jede Religion muss die recht verstandene Freiheit der Menschen fördern. Gewiss kennt jede Religion Ordnung und Bindung an ethische Normen und religiöse Weisungen. Auch gehören Gehorsam und Gemeinschaftsverpflichtung zu jeder Religion. Aber ein maßgeblicher Beweggrund muss für jede Religion in der Überwindung infantiler Bevormundung und in der Förderung wahrer Freiheit zu einem guten Leben bestehen. Die eigene Kritik- und Denkfähigkeit muss gefördert und vertieft werden. Begeisterung, die dies auslöschen würde, und ein blinder Fanatismus können deshalb auch zu sehr fragwürdigen Gestalten innerhalb einer Religion werden. Sie machen sie auch grundlegend unglaubwürdig.

Es ist auch an der Vorstellung festzuhalten, dass jede Religion dem einzelnen Menschen und den religiösen Gemeinschaften zum Finden eines unverlierbaren Lebenssinnes und auch zu einer letzten Geborgenheit verhelfen möchte. Sie macht die Menschen nicht weltflüchtig, sondern hilft ihnen, die Gefährdungen dieses Lebens zu bestehen und an ihnen nicht zu zerbrechen. Auch missionarische Sendung gehört zu einer Religion, wenn und solange sie überzeugt ist, dass sie ihre Orientierung, die den eigenen Mitgliedern und Anhängern kostbar und wertvoll ist, auch anderen zu ihrem Nutzen weitergeben möchte und sollte. Aber in dem Augenblick, in dem diese missionarische Sendung in irgendeiner Weise mit Gewalt verbunden wird, ist nicht nur die Würde und Freiheit des Menschen, sondern auch die der Religion zerstört.

Es gibt im Dialog freilich ein entscheidendes Element, das vielleicht eher sogar zu den Voraussetzungen des Dialogs gehört. Dies ist die theoretische und praktische Frage der Religionsfreiheit, und dies im Sinne der negativen und positiven Religionsfreiheit. Nach meinem Verständnis ist das Eintreten für eine allseitige Religionsfreiheit und die praktische Verwirklichung dieser Religionsfreiheit ein zentrales Kriterium jedes interreligiösen Dialogs. Die moralische Pflicht des Einzelnen, den wahren Glauben zu suchen und anzunehmen, wird durch die Gewährung der Religionsfreiheit keineswegs aufgehoben oder relativiert, sondern lediglich von den Eingriffsmöglichkeiten staatlicher oder anderer Gewalt kategorisch geschieden und gegen sie gesichert. In diesem Sinne hat die Religionsfreiheit eine zentrale und kritische Rolle auch für die anderen Menschenrechte.

Natürlich gibt es eine besondere Sorge der Religionen um den Erhalt der Schöpfung, um den Frieden unter den Völkern, um Recht und Gerechtigkeit in aller Welt und um die Versöhnungsbereitschaft bei Konflikten. Es wäre aber gewiss eine Verkürzung, die freilich nicht so selten ist, wenn man einen Dialog unter den Religionen so konzipiert, dass er die religiöse Frage ausklammert und nur politisch und sozial relevante, nur ethisch orientierte Themen in Angriff nimmt. Es wäre geradezu paradox, wenn der interreligiöse Dialog sich um alles kümmern würde, aber nicht um die Suche nach Wahrheit und die Erfüllung dieses Suchens in einer konkreten Religion.

Unter dieser Voraussetzung ist es anzuerkennen, dass die Religionen sich gerade darum bemühen müssen, ein verbindendes Ethos zu fördern, das schwierige Konflikte mindestens mindert oder sogar lösen hilft und Solidarität unter den Menschen schafft. In diesem Zusammenhang ist ganz unbestritten, dass die Verhinderung von Gewalt, die Beendigung kriegerischer Verhältnisse, die Sicherung des Frieden, die Achtung der Menschenrechte und die Aussöhnung zwischen Gegnern und Feinden zu den vordringlichen Themen des interreligiösen Dialoges gehören müssen. Das Verstehen des Fremden und Anderen über verschiedene Kulturen und Religionen hinweg ist das Verbindende.

Hans Küng hat seit vielen Jahren ein solches "Weltethos" auf einen Nenner zu bringen gesucht. Küngs fünf zentrale Imperative sind: kein Zusammenleben auf unserem Globus ohne ein globales Ethos; kein Frieden unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen; kein Frieden unter den Religionen ohne Dialog zwischen den Religionen; kein Dialog zwischen den Religionen und Kulturen ohne Grundlagenforschung; und kein globales Ethos ohne Bewusstseinswandel von Religiösen und Nichtreligiösen.

Man kann gewiss von diesem "Weltethos" ausgehen – und dies mitten in allen kulturellen Verschiedenheiten. Vielleicht muss man zunächst mit einem bilateralen Dialog beginnen, bevor man es multilateral versucht. Beides schließt sich nicht aus. Aber lernen kann man zuerst und besser beim Gegenüber zweier Partner mit ihrem jeweiligen Profil. Die Polyphonie braucht mehr den Meister. Ökumenische Erfahrungen legen ein solches Vorgehen nahe.

Bei den Reflexionen über die Zukunft der Religionen spielen in jüngerer Zeit auch Überlegungen eine Rolle, ob nicht die Bewältigung der sozialen und gesellschaftlichen Probleme, vor allem auch im Lichte der Globalisierung, Motive braucht, die über die bisherigen Interessensperspektiven individueller und kollektiver Art hinausgehen. Es ist und bleibt ein wichtiger Inhalt des gegenwärtigen und künftigen Dialogs der Religionen, und zwar in den einzelnen Ländern, aber auch auf Weltebene. Viele Fachleute sind der Meinung, dass Religionen für die Entwicklung besonders in wirtschaftlich schwachen Staaten und in Regionen geringer Stabilität von entscheidender Bedeutung seien. Darum muss dem Zusammenhang zwischen Religion und Entwicklung mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Im Zeitalter der Globalisierung ist das noch wichtiger.

Der interreligiöse Dialog ist für das Christentum überhaupt, aber auch besonders für die katholische Weltkirche eine zentrale Aufgabe. Davon dürfen und können uns auch nicht missbräuchliche Übertreibungen oder grundlegende Weigerungen abhalten. Papst Johannes Paul II. sagte absichtsvoll um die Jahrtausendwende: "Der Dialog muss weitergehen."

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Der Verfasser ist Bischof von Mainz und war von 1987 bis 2008 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz. Alle Vorträge der Stiftungsprofessur "Weltreligionen" werden von Karl Kardinal Lehmann unter dem Titel "Weltreligionen. Verstehen, Verständigung, Verantwortung" im Verlag der Weltreligionen, Frankfurt am Main, herausgegeben.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15.07.2009 Seite 8

Bindung kommt vor Bildung

Anhänger der "klassischen" Familie propagieren die Vorteile häuslicher Erziehung  / Von Uta Rasche

      BERLIN, im Juli

Die Befürworter eines "klassischen" Familienbildes haben es derzeit schwer. Seit sich die Familienpolitik der CDU von der der SPD kaum mehr unterscheidet, gilt als hoffnungslos altmodisch, wer behauptet, Familie sei da, wo "Mutter, Vater und Kinder zusammenleben", und nicht nur da, "wo Kinder sind". Das "Institut für Demographie, Allgemeinwohl und Familie e.V." (IDAF), eine seit vier Jahren bestehende Organisation für den Schutz der – klassischen – Familie, tut dies trotzdem. Den familienpolitischen Entscheidungen der großen Koalition in dieser Legislaturperiode, die dem Wunsch vieler junger Frauen nach einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf wie auch Erfordernissen der Wirtschaft und der erodierenden Sozialsysteme entsprechen, hält sie die Frage nach dem Wohl des Kindes entgegen.

Die Auswirkungen früher Fremdbetreuung, die Bedeutung einer sensiblen Interaktion mit den Eltern für die Entwicklung des kindlichen Gehirns – über diese Themen wollte das IDAF mit Bundestagsabgeordneten kürzlich während eines Symposions diskutieren. Von 350 angeschriebenen Parlamentariern schickten zwei eine Absage, die anderen antworteten nicht. Die angefragten Bundesminister für Familie und Wirtschaft schickten nicht einmal Grußworte. Dank einer treuen Anhängerschaft und großzügiger Spender fand die Tagung dennoch statt. Zu den Geldgebern zählten die Schweizer "Stiftung Humanum" um den Trierer Dominikanerpater Wolfgang Ockenfels, der "Deutsche Familienverband" (früher: Bund der Kinderreichen), eine Steuerberatungsgesellschaft, die Berliner Rennbahn "Hoppegarten", der Nordrhein-Westfälische Handwerkstag und andere.

Mit der rot-grünen Bundesregierung haben ökonomische und demographische Argumente in die Familienpolitik Einzug gehalten. Neuerdings bedient sich auch das IDAF wirtschaftlicher Argumente: Deutschland als rohstoffarmes Land brauche die besten Köpfe, seine Leistungsfähigkeit hänge ab von der Innovationskraft künftiger Eliten. Nur Kinder mit einer engen Bindung an die Eltern in den ersten Lebensjahren, so die These, die der IDAF-Geschäftsführer Jürgen Liminski zur Grundlage des Symposions machte, seien später fähig zu exzellenten Leistungen. Bindung gehe der Bildung voraus, sie sei die Grundlage für Ausdauer, Empathie, Verantwortungsgefühl und Sozialkompetenz. Der Nachweis jedoch, dass Kinder, die überwiegend zu Hause betreut worden seien , als Erwachsene innovativer und kreativer seien als andere, ist bisher nicht seriös zu führen. Studien über den Berufserfolg von Kindern, die als Ein- oder Zweijährige bereits im Kindergarten waren, gibt es noch nicht. Eine Bertelsmann-Studie bescheinigte diesen Kindern eine etwas größere Wahrscheinlichkeit des Übertritts auf ein Gymnasium – was aber auch an der meist akademischen Bildung ihrer Eltern liegen kann. Die amerikanische NICHD-Studie (National Investigation on Children Health and Development) stellte eine leicht erhöhte Aggressivität von früheren Krippenkindern während der Vorpubertät fest. Die anfangs festzustellenden kognitiven und sprachlichen Vorteile seien nach einigen Jahren von den familienbetreuten Kindern aufgeholt worden.

Ungeachtet dieser Meinungsverschiedenheiten um den Weg zum "erfolgreicheren" Kind machte der Hannoveraner Kinderpsychologe Wolfgang Bergmann deutlich, wie wichtig für das Kleinkind der feinfühlige Umgang der Eltern mit ihm sei: "Das Kind will den Eltern etwas bedeuten, es lockt sie, es will sich in ihnen spiegeln. Denn es spürt: Ich bin der, als der ich angeschaut werde." Identität und Selbstsicherheit entstünden aus der engen Bindung an die Mutter. Doch jedes Baby müsse lernen, dass die enge Symbiose mit der Mutter, die es gewohnt gewesen sei, vorbei sei: "Selbst die liebevollste Mutter kommt für das weinende Kind immer ein bisschen zu spät." Er verzichtete darauf, im Glaubenskrieg der Krippengegner und Krippenbefürworter eindeutig Stellung zu beziehen. Doch er wies darauf hin, dass Bindungsstörungen in der frühen Kindheit die Entstehung von ADHS bei Jungen und Autoaggression bei Mädchen begünstigen könnten.

Stuart Shanker, Sprachtheoretiker an der York University in Toronto, berichtete von einer kanadischen Studie, nach der 53 Prozent der Erstklässler Verhaltensprobleme, Entwicklungsstörungen oder seelische Belastungen aufweisen. Die kanadische Regierung bat ihn und den Washingtoner Kinderpsychiater Stanley Greenspan um Präventionsempfehlungen. Die beiden hatten zuvor die Bedeutung der elterlichen Zuwendung für die Gehirnentwicklung erforscht: Der emotionale Austausch zwischen Mutter und Baby forme das Gehirn; erwiderte Gefühle bildeten die Voraussetzungen menschlichen Denkens, förderten Sprache und Intelligenz. Überlieferte Fürsorgepraktiken dürften sich daher nicht zum Negativen verändern, mahnte Shanker in dem Bericht an die Regierung. Durch die Interaktion mit den Eltern lerne das Kind Selbstregulation. Erst sie ermögliche es ihm, sich zu konzentrieren, eine Enttäuschung zu überwinden, durchzuhalten.

Über die geringeren schulischen und universitären Leistungen von Kindern, die in Kibbuzim überwiegend kollektiv erzogen wurden, berichtete anhand von Studien die israelische Psychotherapeutin Carmelite Avraham-Krehwinkel. Der amerikanische Psychologe Patrick Fagan, Senior Fellow am Family Research Center in Washington, lobte die Erfolge der wachsenden Homeschool-Bewegung in den Vereinigten Staaten: Zu Hause unterrichtete Kinder erreichten bei den College-Aufnahmeprüfungen überdurchschnittliche Ergebnisse. Zugleich zeichneten sie sich durch Selbstvertrauen und eine disziplinierte Arbeitshaltung aus, seien kommunikativ und teamfähig. Dass Homeschooling hierzulande verboten ist, hat gleichwohl gute Gründe. In Deutschland ist die Schulpflicht eine Errungenschaft der Reformation. Die Homeschooling-Befürworter, die auf der Tagung ebenfalls vertreten waren, denken zumeist nicht darüber nach, dass auch fromme Muslime ihre Töchter gern aus der Schule nähmen – um sie den Blicken der Mitschüler und liberalen Einflüssen zu entziehen. Im Sinne einer umfassenden Integrationspolitik ist das nicht. Den Impuls des IDAF, um der angeblich besseren Bildungsgrundlagen willen Kinder mehr Zeit innerhalb ihrer Familien verbringen zu lassen, nahmen die anwesenden Wirtschaftsrepräsentanten nur verhalten auf. Klaus Kinkel, Vorsitzender der Telekom-Stiftung, plädierte aufgrund der Bildungsarmut in manchen Familien im Gegenteil sogar für mehr Ganztagskindergärten und Ganztagsschulen.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15.07.2009 Seite 10

Blueswunderkind: Joe Bonamassa in Darmstadt

Die Weitsicht eines Zweiunddreißigjährigen: "Wenn es uns nicht gelingt, die Rocktradition für die junge Generation zu modernisieren, wird es bald keine Musik mehr geben." Joe Bonamassa, der vielen als größte Hoffnung im zeitgenössischen Blues gilt, hat ein entspanntes Verhältnis zur Geschichte: "Viele meiner Altersgenossen möchten nicht mehr mit verstaubtem Blues in Verbindung gebracht werden. Doch für mich ist er kein Todesurteil, sondern ein Ehrentitel. Ich bin stolz darauf, Blues-Musiker zu sein, will aber zugleich für das größtmögliche Publikum spielen."

Kein Wunder, dass ihn ein solch kommerzieller Anspruch bei Puristen in Verruf brachte. Dabei gelingt Bonamassa wie derzeit keinem zweiten Blues-Wunderkind – von Jonny Lang über Kenny Wayne Shepherd bis Derek Trucks – ein generationenübergreifender Brückenschlag vom britischen Bluesrock der Sechziger über Erinnerung an frühen Delta-Blues bis zu den Rock-Energien unserer Tage. Seine körnige Stimme schreit die Frage: "Who killed Joe Henry?" in das dichtbesetzte Auditorium der Darmstädter Centralstation. Dazu winden sich dickflüssige Soundschlieren aus komplex verschalteten Verstärkern. Schon der Eröffnungstitel von Bonamassas jüngstem und bisher besten Studioalbum – einer Hommage an Joe Henry, den großen amerikanischen Arbeiterhelden des späten neunzehnten Jahrhunderts – enthüllt Geheimnisse seiner Begabung: Der Amerikaner, der mit vier Jahren zum ersten Mal eine Gitarre in der Hand hielt, mit sechs "Voodoo Child" von Hendrix spielte, mit zwölf im Vorprogramm von B. B. King auftrat und zwei Jahre später John Lee Hooker begleitete, kämpft gegen alle Klischees. Er bemüht sich erfolgreich, jene Töne zu vermeiden, die man schon tausendmal gehört hat. Dabei hilft ihm nicht nur seine an Eric Clapton, Stevie Ray Vaughan und Danny Gatton geschulte Phrasierung, sondern vor allem sein schnelles Handgelenk-Vibrato im Stil Paul Kossoffs, des frühverstorbenen Free-Gitarristen, das jeder Note eine wimmernd-wehmütige Seele verleiht.

Joe Bonamassa, das demonstrieren vor allem seine schmerzlich langsamen Blues-Nummern, ist ein Klangfanatiker, dem der Ton eines Gitarristen das Wichtigste ist. In seiner Tiefendimension, in seinem Glanz und seiner Fülle spiegelt sich darin unmittelbar die Persönlichkeit eines Musikers. Immer wieder streut er deshalb klagende Einzeltöne in die Fließbewegung seiner Soli ein – markante Haltepunkte melodischer Assoziation. Seine rasante Schwelltechnik mit dem Lautstärkeregler à la Jeff Beck lässt die Gitarre bisweilen wie eine Querflöte klingen.

Bonamassa hat sein Flitzefinger-Image hinter sich gelassen und kostet die subtilen Möglichkeiten seiner 57er Gibson-Goldtop aus. Unterstützt von einem kompakten Trio mit Keyboard, Bass und Schlagzeug, stimmlich ergänzt durch den französischen Blues-Shouter Gary Rafferey und die Sängerin Sandy Thon, liefert Bonamassa heute ein Versprechen auf eine glänzende Zukunft. Vielleicht sollte man den Jungstar nicht zu früh zur Legende stilisieren. Bei aller Brillanz hat Gary Moore – einer der heimlichen Heroen Bonamassas – mit seiner Ernüchterung recht: "Alle nennen ihn schon eine Blues-Legende, dabei ist der Typ noch viel zu jung. Mit zweiunddreißig kann man den dunklen Dämon des Blues noch nicht bändigen." Peter Kemper

Fällt der Embryonenschutz?

Warum der Angriff auf das Schutzargument nicht trifft

Die internationale Finanzkrise ist vergleichsweise jung. Die Krise im Gesundheitswesen ein Dauerzustand. Die Zeitschrift für medizinische Ethik widmet ihr ein ganzes Heft. Klaus-Dirk Henke, Gesundheitsökonom aus Berlin, stellt noch einmal klar, dass es sich keinesfalls um eine Explosion der Kosten handelt. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt, haben sich die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung in anderthalb Jahrzehnten nur moderat erhöht. Die Leistungen sind explodiert. Henke prognostiziert, dass die Gesundheitswirtschaft an Bedeutung gewinnen wird. Sie werde aus der Wirtschaftskrise gestärkt hervorgehen.

Dennoch komme man um eine Rationierung nicht herum, meinen Wolfram Höfling und Steffen Augsberg. Es klaffe eine breite Lücke zwischen dem, was möglich, und dem, was finanzierbar sei. Die beiden Juristen vom Institut für Staatsrecht der Universität zu Köln sondieren die Vorgaben, die die Verfassung dem Gesetzgeber beim Rationieren von Gesundheitsleistungen auferlegt. Sie kommen zu dem Schluss, dass das Parlament sich kreativ entfalten kann. Nicht jeder Patient hat einen in der Verfassung verbürgten Anspruch auf alles. Auf Heilung abzielenden Ansätzen komme kein prinzipieller Vorrang zu. Umweltrecht oder etwa Regelungen des Straßenverkehrs seien ebenfalls geeignet, Krankheiten zu vermeiden. Das Parlament sei frei zu entscheiden, Unfallkliniken auszubauen oder ein Tempolimit einzuführen.

In der freien Gesellschaft ist beim Rationieren Transparenz gefordert. Es sei daher problematisch und stehe im Widerspruch zur Verfassung, derartige Entscheidungen den Akteuren im Gesundheitswesen zu überlassen, wie es in der Transplantationsmedizin der Fall sei. Organe sind ein knappes Gut. Rationierung ist längst Routine. Das einschlägige Gesetz delegiert Allokationsentscheidungen an den Vorstand der Bundesärztekammer. Es sei irreführend, wie es im Gesetz heißt, dass die Kammer lediglich Feststellungen medizinischer Art treffe. Vielmehr enthielten die Richtlinien "substantiell eigene Wertungen von existentieller Bedeutung". Die seien aber Sache des Gesetzgebers, fordern Höfling und Augsberg.

Im Hastings Center Report will Matthew Wynia, Direktor des Ethikinstitutes der Amerikanischen Ärztegesellschaft, die Billionen Dollar Finanzhilfen für die Wirtschaft auch für die Gesundheit der Amerikaner fruchtbar machen. Niemandem könne ein gesunder Lebensstil aufgenötigt werden. Doch sind soziale Faktoren der Gesundheit förderlich. So belegen Studien, dass Personen körperlich aktiver sind, wenn sie vor dem Haus ein Trottoir vorfinden oder in der Nähe eines Parks wohnen. In gemischten Wohngebieten mit Geschäften in Reichweite für Fußgänger sinkt das Risiko, eine krankhafte Fettsucht zu entwickeln, um dreißig Prozent. Wynia hält einen Vorschlag für Präsident Obama bereit. Das Geld aus dem Konjunkturpaket für Verbesserungen der Infrastruktur dürfe nur für solche Projekte eingesetzt werden, die eine gesunde Lebensweise befördern.

Die elektronische Fußfessel hält auch in der Medizin Einzug. Sie eignet sich, etwa Demenzkranke zu überwachen und sie vor Selbstgefährdung zu schützen. Helmut Kreicker untersucht in der Neuen Juristischen Wochenschrift die verfassungsrechtlichen Aspekte. Auch wer dement ist, hat eine private Sphäre und ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Pflegende dürfen nicht alles kontrollieren. Der Richter aus Hildesheim hält die neue Technik der Radiofrequenzidentifikation für grundsätzlich zulässig in der Versorgung dementer Personen. Allerdings bedürfe die Verwendung der entsprechenden Chips der Einwilligung eines Betreuers oder Bevollmächtigten.

Die bahnbrechenden Entdeckungen japanischer und amerikanischer Wissenschaftler haben die Hoffnung geweckt, den Streit um den Verbrauch von Embryonen für die Wissenschaft beilegen zu können (siehe zuletzt Natur und Wissenschaft vom 8. Juli). Die Forscher haben Körperzellen reprogrammiert. Die wurden einer Verjüngungskur unterzogen. Wenn man sie nur geeignet behandelt, können sie sich zu einem Fetus entwickeln. An diesen Befund knüpfen Gerard Magill und William Neaves, Bioethiker aus Pittsburgh und St. Louis in den Vereinigten Staaten, im Kennedy Institute of Ethics Journal eine philosophische Debatte. Sie behaupten, die Reprogrammierung hebe das Argument der Potentialität aus den Angeln. Das Potentialitätsargument gilt als Eckstein im Gebäude der Gründe, die für den unbedingten Schutz des Embryos sprechen. Es besagt, dass im Embryo ein vollständiger, potentiell mit allen Funktionen ausgestatteter Organismus angelegt sei. Da aus jeder Zelle des Körpers ein Embryo reprogrammiert werden könne, müsse das Argument auch auf diese Zellen angewandt werden, schreiben Magill and Neaves. Es sei aber absurd, jeder beliebigen Körperzelle die Menschenwürde zuzuerkennen.

Fällt damit der Embryonenschutz? Nein, meinen die Neurobiologin Maureen Condic, der Jurist Partrick Lee und der Bioethiker Robert George in der gleichen Ausgabe der Zeitschrift. Sie halten den Angriff auf das Potentialitätsargument für logisch und wissenschaftlich nicht haltbar. So übersähen Magill und Neaves etwa den Unterschied zwischen einer Zelle und einem Organismus. Ohne Intervention können Körperzellen sich eben nicht zu einem vollständigen Organismus entwickeln. Schon dies allein offenbare – neben anderen Aspekten – eine fundamentale Differenz, die moralisch bedeutsam sei.

Kürzlich feierte die Juristen-Vereinigung Lebensrecht ein Jubiläum. Sie wurde vor einem Vierteljahrhundert von namhaften Staats- und Verfassungsrechtlern gegründet. In der von dem Verein herausgegebenen Zeitschrift für Lebensrecht befasst sich Mareike Klekamp aus der Sicht christlicher Gesellschaftslehre mit der Selektion von Embryonen. Sie beklagt, dass der Gesetzgeber bei der Verabschiedung des Embryonenschutzgesetzes nicht an die Möglichkeiten der Polkörperdiagnostik gedacht habe. Nicht erst mit der Vereinigung der Kerne von Ei- und Samenzelle sei das einzigartige Genom eines neuen Menschen bestimmt. Vielmehr sei dies bereits mit Abschluss der Reifeteilung der Fall, wenn das genetische Material noch getrennt in Vorkernen vorliegt. Bislang sind aber die Vorkernstadien in Deutschland nicht geschützt. Embryonen, das heißt Organismen nach der Kernverschmelzung, dürfen in Deutschland nicht tiefgefroren aufbewahrt werden. Es lagerten aber viele tausend kryokonservierte Vorkernstadien in den Fertilitätszentren. An ihnen werde eine genetische Selektion im Rahmen der Polkörperdiagnostik vor der Vereinigung der Kerne vorgenommen. Vorkernstadien seien keinesfalls nur eine therapeutische Ressource, wie es in einschlägigen Publikationen heiße. Vielmehr zählten sie zur Menschengattung.       Stephan Sahm

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.07.2009 Seite 34

Sie haben es nur zum Lehrer gebracht?

Der Beruf des Pädagogen leidet unter der mangelnden gesellschaftlichen Wertschätzung / Von Timo Frasch

Um sich in den Schul- oder Semesterferien die schönen Seiten des Lehrerberufs in Erinnerung zu rufen, sollten Lehrer, Studenten und Abiturienten vielleicht ein Buch zur Hand nehmen. Am besten, sie lesen Cees Nootebooms "Die folgende Geschichte". Deren Held ist der Altphilologe Hermann Mussert, ein im Leben ungelenker Mensch, der aber auf seiner kleinen Bühne, im Klassenzimmer, regelmäßig Triumphe feiert.

Mussert geht es wie 300 000 deutschen Lehrern in den kommenden zehn Jahren: Er wird pensioniert. Und was macht er in seiner allerletzten Schulstunde? Er behandelt noch einmal Platons Phaidon. Es geht also um das Athener Gefängnis, in dem Sokrates, vielleicht der berühmteste aller Lehrer, seine Schüler versammelt hat, um bei Sonnenuntergang aus dem tödlichen Schierlingsbecher zu trinken. Mussert spielt das alles in Vollendung: Im Klassenzimmer nimmt er seine Schüler mit in die Zelle, wo er Sokrates "mit einer Würde sterben lässt, die sie in ihrem kurzen oder langen Leben nie mehr vergessen" werden. Als die Schulstunde zu Ende ist, sind selbst die größten Rabauken zu aufgewühlt, um noch irgendetwas sagen zu können.

Vielleicht gab es diesen Mussert nie, wer weiß. Wenn Nooteboom nicht über ihn geschrieben hätte, dann hätte es ihn ganz sicher nicht gegeben. Heute ist es doch so: Nur was möglichst viele mitbekommen, was nach außen dringt, was sich in Ergebnissen messen lässt, ist auch und wird gut entlohnt. Oder umgekehrt: Nur was gut entlohnt wird, ist auch und wird von vielen zur Kenntnis genommen. Dem Lehrerberuf, den nicht mehr genügend junge Leute ergreifen wollen, scheint dieses marktwirtschaftliche Gesetz zum Verhängnis geworden zu sein. Zu gering sind für Lehrer die Aufstiegs- und Verdienstmöglichkeiten; zu vage und unbefriedigend ist die Aussicht, dass dereinst ein Schüler dem Lehrer dankt, was er ihm verdankt.

Wer heute etwas auf sich hält, will Erfolg, Geld und Anerkennung – so viel wie möglich und am besten sofort. Früher, als die Welt noch klein war und der Lehrer neben dem Arzt und dem Pfarrer der erste Mann im Dorf, mag das auch als Pädagoge möglich gewesen sein. Das ist vorbei. Wie der Deutsche Philologenverband zu Recht befindet, ist "der Lehrerberuf für viele leistungs- und karriereorientierte junge Erwachsene nicht lukrativ". Das zeigt sich insbesondere bei den jungen Männern, die ihren eigenen Status noch immer stärker als Frauen über den beruflichen Erfolg definieren: Nach Angaben des Verbands entwickelt sich bei einem schon fast neunzigprozentigen Frauenanteil im Grundschullehramt auch die Frauenquote unter den Studenten des Lehramts am Gymnasium hin zu etwa 70 bis 75 Prozent.

Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass sich die besten Leute, die für das Lehramt eigentlich gerade gut genug sein müssten, bevorzugt gegen ein Lehramtsstudium entscheiden: Nach einer Studie des Erziehungswissenschaftlers Udo Rauin ist für jeden vierten Lehramtkandidaten an einer Pädagogischen Hochschule Baden-Württembergs sein Studium eine Notlösung, weil er an den Zulassungsbeschränkungen in anderen Fächern gescheitert ist. Das Lehramt zieht seiner Meinung nach Leute an, die sich ein schwieriges Studium nicht zutrauen. Eine andere, kontroverse Studie von Ludger Wößmann zeigte, dass angehende Grund-, Haupt- und Realschullehrer im Schnitt eine schlechtere Abiturnote haben als andere Akademiker. Für Gymnasiallehrer gilt das nicht. Gewonnen ist damit allerdings noch nicht viel: Nach Angaben des Deutschen Lehrerverbands treten nämlich nur etwa zwei Drittel der Lehramtsstudenten in den Schuldienst ein. Ein Drittel bricht also ganz ab oder wechselt den Studiengang. Daran sind auch die Universitäten schuld. Obwohl Lehramtsstudenten selten weniger leisten müssen als diejenigen, die im selben Fach einen anderen Abschluss anstreben, werden sie an den Hochschulen mitunter belächelt: von Kommilitonen, die sich für risikofreudiger und aussichtsreicher halten, aber auch von Professoren, die ihr Selbstbewusstsein zumeist nicht aus der Lehre, sondern aus der Forschung und ihrer Zugehörigkeit zur "scientific community" beziehen. Nicht ohne Grund schrieb der Soziologe Uwe Schimank in dieser Zeitung: "Was der Gymnasiallehrer nur zaghaft für sich beanspruchen kann, fordert der Universitätsprofessor machtvoll für sich ein: als Mitglied der Elite der Forschenden weit über dem bloß Lehrenden zu stehen."

Es gibt Länder, in denen das anders ist. In Finnland etwa gehören Lehrer ganz selbstverständlich zur gesellschaftlichen Elite. Das ergibt sich vor allem aus dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage. Im Sommer 2008 konkurrierten dort 6500 Bewerber um 800 freie Plätze. In Deutschland ist man hingegen schon jetzt froh, überhaupt jede Lehrerstelle besetzen zu können. Und in den kommenden Jahren werden die Pensionierungen entweder dazu führen, dass Stellen überhaupt nicht besetzt werden oder dass beinahe jeder, der nichts Besseres gefunden hat, auf die Schüler losgelassen wird. So bekommt man keine Lehrer, die in der Lage sind, den Schülern, das heißt: den potentiellen künftigen Lehrern, die Schönheit des Lehrerberufs zu vermitteln. Der Deutsche Philologenverband hat deshalb Alarm geschlagen. Nach seiner Einschätzung könnten schon in diesem Herbst mehr als 30 000 entsprechend ausgebildete Lehrer fehlen, vor allem in den sogenannten Mint-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik), aber auch in Hermann Musserts Altphilologie. Die Politik, die sich jahrelang die Zahlen schöngerechnet hat, reagiert allmählich auf die Missstände. So wurden bei der jüngsten Sitzung der Kultusministerkonferenz "gemeinsame Leitlinien zur Deckung des Lehrerbedarfs" vereinbart. Außerdem scheint sich unter den politisch Verantwortlichen inzwischen herumgesprochen zu haben, dass man nicht ständig über die Bedeutung der Bildung sprechen kann, ohne die Bedeutung der Lehrer wenigstens zu erwähnen.

Ein grundsätzliches Problem wird sich dadurch nicht lösen lassen: Dass man erst einmal viele junge Leute braucht, die ins Lehramt wollen, damit viele andere junge Leute auch ins Lehramt wollen. Wie kann man diesem Paradox entrinnen? Indem man die Gesetze der Marktwirtschaft auch auf das Lehramt anwendet und versucht, die Leistungen der Pädagogen außerhalb des Klassenzimmers sichtbar zu machen: über eine fachkundige Bewertung des Unterrichts, über Prämien und Preise. Über einen echten Wettbewerb unter den Schulen um die besten Lehrer. Über Exzellenzzentren für die Lehrerbildung, wie sie jetzt an mehreren Universitätsstandorten eingerichtet werden. Schließlich durch eine engere Zusammenarbeit der Schulen mit den Universitäten, um auch so die Ansehenskluft zwischen Lehre und Forschung zu verkleinern. Solche Instrumente sind das eine. Das andere ist, dass sich die Gesellschaft wieder dessen bewusst werden muss, was es im besten und gar nicht so seltenen Fall heißen kann, ein Lehrer zu sein. Zum Beispiel: Sokrates mit einer Würde sterben zu lassen, welche die Schüler in ihrem Leben niemals mehr vergessen.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.07.2009 Seite 10