Seit seiner Kindheit beschäftigt Daniel Kehlmann sich mit dem Werk Thomas Manns. Dessen Bücher sind für den Wiener Schriftsteller von unvergleichlicher Perfektion, reich an Witz, aber auch von Dämonen bevölkert. Für die Annäherung an Thomas Mann, so Kehlmann, muss man nicht nur genau lesen können, sondern auch Mut haben.
Von Daniel Kehlmann
Im Dezember 1947 wurde das Haus am San Remo Drive in Pacific Palisades von zwei vierzehnjährigen Schülern besucht, einem Jungen und einem Mädchen. Sie hatten angerufen, die Nummer stand ja im Telefonbuch, und waren sofort eingeladen worden. Erst vierzig Jahre später, inzwischen selbst eine berühmte Schriftstellerin, schrieb Susan Sontag ihre Erinnerungen an diesen Nachmittag auf.
Mit maliziösem Witz schildert sie, wie Thomas Mann in seinem thronartigen Stuhl sitzt und seine Mundwinkel mit der Serviette abtupft: freundlich, gravitätisch, sehr hölzern. Was man denn so lese als junger typischer Amerikaner, fragt er die beiden, die sich natürlich keineswegs als typisch empfinden, um dann sogleich in einen Monolog zu fallen. "Ich hätte nichts dagegen gehabt, dass er gesprochen hätte wie ein Buch", erinnert sich Sontag. "Ich wollte ja, dass er sprach wie ein Buch. Was mich immer mehr störte, war, dass er sprach wie eine Buchrezension."
Und es wurde schlimmer. "Er fragte nach unseren Studien. Unseren Studien? Noch mehr Peinlichkeit. Ich war sicher, er hatte nicht die geringste Idee, wie eine Highschool in Südkalifornien aussah. Wusste er von der Fahrausbildung (verpflichtend)? Von den Tippkursen? Wäre er sehr überrascht gewesen über die faltigen Kondome, die man sah, wenn man über die Wiese lief und seine erste Periode hatte, und über den sogenannten ‚Tee', den ein Pärchen Pachuken in den Vormittagspausen an der linken Wand der Schulaula verkaufte? Könnte er sich George vorstellen, der, wie einige von uns wussten, eine Waffe besaß und Geld von Tankwarten bekam? Wusste er, dass kein Latein mehr auf dem Lehrplan stand und kein Shakespeare und dass die sichtlich überforderte Englischlehrerin der zehnten Klasse monatelang bloß Exemplare von ‚Readers Digest' verteilt hatte – wir sollten einen Artikel auswählen und schriftlich zusammenfassen –, um danach die ganze Stunde schweigend, nickend und strickend an ihrem Tisch zu sitzen? Konnte er sich vorstellen, wie weltenfern von jenem Lübecker Gymnasium, wo der vierzehnjährige Tonio Kröger Hans Hansen umworben hatte, indem er versucht hatte, ihn dazu zu bringen, ‚Don Carlos' zu lesen, North Hollywood High School war, die Alma Mater der Kinostars Farley Granger und Alan Ladd? Er konnte es wohl nicht, und ich hoffte, er würde es nie können. Er hatte genug Gründe zur Traurigkeit."
Das ist rührend und doch nicht ohne Boshaftigkeit, es stimmt überein mit dem Bild, das wir bis heute von ihm haben: die Starrheit der Repräsentationsfigur, eine nicht wirklich sympathische Weltfremdheit – es ist schwer, sich ihm nahe zu fühlen. Hans Mayer versuchte dieses Unbehagen in die Formel von Manns "Ungeliebtheit" zu bannen und hatte damit wohl, abgesehen nun von der doch leicht kitschigen Begriffswahl (man soll, könnte man unter Abwandlung von Hannah Arendt einwenden, seine Freunde lieben, aber keine Völker und auch nicht unbedingt Schriftsteller), nicht so ganz und gar unrecht.
Die erste und wohl wichtigste Reaktion auf einen Autor ist aber noch nicht von Reflexion bestimmt, sondern von unmittelbarer Resonanz, und da kann es ganz anders aussehen. Mit dreizehn hielten mich die "Buddenbrooks" gepackt wie noch selten ein Buch zuvor, mit sechzehn saß ich fasziniert über dem "Zauberberg", und mit siebzehn lernte ich aus dem "Doktor Faustus", dass alle Möglichkeiten der abendländischen Kunst erschöpft seien, jede denkbare Melodie komponiert, alle großen Romane geschrieben und dass die Zukunft nur mehr Parodie und mildes Nachspiel sein werde. Für kurze Zeit schrieb ich also folgsam Lautgedichte und bedauerte mich als blassen Spätgeborenen, so sehr glaubte ich ihm jedes Wort, dann aber befreite mich Thomas Mann selbst von solch luftlosen Theorien, und zwar durch sein heiterstes, lichtdurchflutetes Spätwerk: "Joseph und seine Brüder" – ein in jeder Hinsicht großer Roman, wie es ihn nach den Lehren von Leverkühns Teufel lange schon nicht mehr hätte geben dürfen.
Und doch: Sogar als einst Begeisterter empfindet man Thomas Mann gegenüber dieses Unbehagen, das sich gegenüber Nabokov, Borges und Proust nicht einstellen will. Wie also erklärt man, dass einerseits die Verehrung für ihn nie völlig ungemischt ist und dass andererseits dieser "Ungeliebte" Generation um Generation so viele Leser mehr findet als die meisten Autoren nicht nur seiner Zeit? Schriftsteller, sagte Norman Mailer, hätten die Fähigkeit, sich selbst am Schopf aus dem Sumpf zu ziehen, sie seien Experten darin, ihre Schwächen in Stärken zu verwandeln. Kann es sein, dass auch Thomas Manns Größe mit jener problematischen Seite untrennbar verbunden ist und dass das Grandiose an ihm nicht zu haben ist ohne das, was einen an ihm stört?
Müsste man sein Hauptthema auf möglichst abstrakte Art beschreiben, man hätte wohl vom Widerspiel von Emotionalität und Repression, von Pflicht und Leidenschaft zu sprechen, von einem Sichgehenlassen, das in seiner Welt immer verboten ist und immer lockt, und einer Disziplin, deren Bedeutung gerade darin liegt, dass sie im entscheidenden Moment versagt. Die Grundgegensätze heißen manchmal Bürgerlichkeit und Künstlertum, manchmal Gesundheit und Krankheit; im "Tod in Venedig" sind sie Respektabilität und Homosexualität und im "Joseph" die im Jaakob'schen Segen verkörperten Pole oben und unten, Himmel und Tiefe. Diese Spaltung, nicht so sehr zwischen Apollo und Dionysos als zwischen Buchhalter und Bohemien, bestimmt die Inhalte seines Erzählens, sie erzeugt aber auch dessen emotionalen Pendelschlag, den eigentümlichen Wechsel zwischen eiserner Kontrolle über das Material und scheinbar unvermitteltem Ausbruch. Bei Thomas Mann existiert das Rigide, um wirkungsvoll zu scheitern, in seinem Erzählton klingt stets die Stimme Aschenbachs mit, der ein bürgerlich respektabler Langeweiler sein möchte, aber zu seiner Größe findet genau dadurch, dass ihm das mit einemmal nicht mehr gelingt. Erst im "Verfall einer Familie" lässt sich über diese schreiben, im Zusammenbrechen der Struktur offenbart sich das Menschliche, und auch das Wesen europäischer Zivilisation wird am deutlichsten im Sanatorium und in der Verzerrung durch die Krankheit – vom Familienzerfall also zum Verfall einer Weltkultur, und indem Joseph die uralten Schemata bricht und aus dem vermeintlichen Gotteskind ein profaner Wirtschaftsminister wird, ist auch das Wesen des Mythos für den Roman fassbar.
Wie Aschenbach vor seiner schicksalhaften Begegnung mit dem geisterhaften Herrn im Münchner Park, so gibt sich auch der Romancier Thomas Mann als einer, der mit der wilden Seite des Lebens nichts zu tun haben will. In Wahrheit aber ist genau diese sein Thema, und von immer neuen Blickwinkeln aus setzt er in Szene, wie die Ordnungen scheitern und das Verdrängen versagt – darin eben liegt sein großes Täuschungsmanöver und der Grund, dass seine immer wieder verblüffende Gefühlsintensität nicht zu haben ist ohne den Habitus des kühlen Gelehrten, der am Schreibtisch Krawatte trug und dessen Anblick, sei es auf Fotos, sei es an der kalt schimmernden Oberfläche seiner Prosa, uns befremdet und verstört.
Dabei betonte er selbst immer wieder, dass er nicht jener poeta doctus war, als der die eigenen Romane ihn ausgeben. Joyce und Proust, Nabokov und Borges, sie alle wissen viel mehr und haben ihre Kenntnisse mit einer Natürlichkeit assimiliert, die ihm fremd bleibt. Da ist stets etwas Parvenühaftes an seiner Bildung, da ahnt man immer ein wenig den Schulabbrecher und Lexikonabschreiber, der Arthur Koestler erklärte, dass er gar nicht zu viel Information wolle, denn das behindere die Phantasie. Das war vielleicht aus einer Laune heraus dahingesagt, aber es beschreibt seine Methode auf das Gründlichste: Er ist ein Autor der Unmittelbarkeit, der sich als Virtuose der Vermittlung tarnt, ein Pathetiker, maskiert als Ironiker. Ich habe, offen gesagt, noch nie einen Leser getroffen, der an den Diskussionen zwischen Naphta und Settembrini echte Freude gehabt hätte – und doch wird kaum einer leugnen, dass der Roman diese Dialoge ebenso braucht wie die doch oft recht bleiernen Passagen über Krankheit, Bakterien und Kosmologie. Denn sie bereiten jene Stellen vor, die ganz plötzlich kommen und treffen wie Blitze; jene Stellen, deren Energie über das ganze Buch ausstrahlt und in denen gewissermaßen immer von neuem der Knabe Tadzio vor Aschenbach hintritt, so dass es diesem die Würde und die Rede verschlägt.
So paradox es klingen mag: Thomas Mann ist unter allen Autoren der Klassischen Moderne der pathetischste, der gefühlsunmittelbarste, er ist distanzierter als die anderen, weil er mehr zu verbergen hat. Seine Ironie verhüllt einen Erzähler des Rausches und der Entgrenzung, der zuverlässig jede Hauptfigur in eine Lage führt, in der sie die Kontrolle über ihr Leben verliert und das Chaos so unbarmherzig nach ihr greift wie am ersten Abend auf dem Berg das Fieber nach dem armen Hans Castorp: "Aber sobald er eingeschlafen war, begann er zu träumen und träumte fast unaufhörlich bis zum anderen Morgen. Hauptsächlich sah er Joachim Ziemßen in sonderbar verrenkter Lage auf einem Bobschlitten eine schräge Bahn hinabfahren. Er war so phosphoreszierend leicht wie Dr. Krokowski, und vorneauf saß der Herrenreiter, der sehr unbestimmt aussah, wie jemand, den man lediglich hat husten hören, und lenkte. ‚Das ist uns doch ganz einerlei – uns hier oben', sagte der verrenkte Joachim, und dann war er es, nicht der Herrenreiter, der so grauenhaft breiig hustete."
Solch halluzinogenes Flirren wäre auch Jack Kerouac oder Hunter S. Thompson nicht besser gelungen. Es überfällt einen wieder im "Walpurgisnacht"-Kapitel, in dem das strenge Hausregime, sowohl des Sanatoriums als auch des Romans, seine Macht verliert und Hans Castorp auf Französisch vor Frau Chauchat seine Seele ausspricht, dann in ungehemmter Gewalt im Kapitel "Schnee", in dem Hans, umfangen von feindlicher Natur, ins Delirium driftet. Aber Manns Augenblicke der Unmittelbarkeit können auch leise, fast unmerklich stattfinden, wie etwa beim gemeinsamen Friedhofsbesuch von Hans, Joachim und der jungen Karen Karstedt, einem Mädchen, von dem alle wissen, dass ihm nur noch wenige Wochen zu leben bleiben. Plötzlich kommen die drei zu einer freien Stelle – ebenjener, es wird nie ausgesprochen, wo Karen binnen kurzem liegen wird. "Sie standen, das Fräulein etwas vor ihren Begleitern, und lasen die zarten Angaben der Steine – Hans Castorp gelöst, die Hände vor sich gekreuzt, mit offenem Munde und schläfrigen Augen, der junge Ziemßen geschlossen und nicht nur gerade, sondern sogar ein wenig nach hinten abgeneigt – worauf die Vettern mit gleichzeitiger Neugier von den Seiten verstohlen in Karen Karstedts Miene blickten. Sie merkte es dennoch und stand da, verschämt und bescheiden, den Kopf schräg vorgeschoben, und lächelte geziert mit gespitzten Lippen, wobei sie rasch mit den Augen blinzelte." Ein Moment existentieller Peinlichkeit: Keiner weiß etwas zu sagen, und plötzlich steht der Tod nicht mehr für Kunst oder ästhetische Verfeinerung oder was auch immer, sondern einfach nur kalt, fremd und unausweichlich für sich selbst.
Dieses Erzählen lebt von Momenten des Umschlags. Aschenbach habe immer so existiert, sagt jemand im "Tod in Venedig" und zeigt seine zur Faust geschlossene Hand, nie aber so, und lässt die Hand offen herabfallen. So arbeitet auch Manns Prosa: Über lange Kapitel ist die Faust geschlossen, und wir betrachten mit ambivalenter Bewunderung ihre distanzierte Brillanz, ihren vollkommenen Stil, ihre scheinbar unzerstörbar souveräne Ironie . . . – doch plötzlich öffnet sich die Hand, die Masken fallen, das Geordnete bricht, und die Figuren werden zum Teil höchst willige Opfer von Trieb und Rausch, Schmerz, Traum, Fieber, Krankheit und Vision: Thomas Buddenbrooks Zusammenbruch, die Agonie der Kinder Hanno und Echo, das geisterhafte Auftauchen Goethes in Charlotte Buffs Kutsche und, die vielleicht berührendste Stelle in seinem Gesamtwerk, der Abend, da Joseph den Majordomus Mont-Kaw unter Aufbietung all seiner Eloquenz in den Tod hypnotisiert.
Fortsetzung auf der folgenden Seite
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.10.2008 Seite Z1
Fortsetzung von der vorherigen Seite Dionysos und der Buchhalter
"Ist's nicht mit Müssen und Dürfen heut wie nur jemals, wenn dir mein Abendsegen empfahl, doch ja nicht zu denken, du müsstest ruhen, sondern du dürftest? Siehe, du darfst! Aus ist's mit Plack und jeglicher Lästigkeit. Keine Leibesnot mehr, kein würgender Zudrang noch Krampfesschrecken. Nicht ekle Arznei, noch brennende Auflagen, noch schröpfende Ringelwürmer im Nacken. Auf tut sich die Kerkergrube deiner Belästigung. Du wandelst hinaus und schlenderst heil und ledig dahin die Pfade des Trostes, die tiefer ins Tröstliche führen mit jedem Schritt."
Immer trifft einen das unvorbereitet, immer wie zum ersten Mal. Seine Meisterschaft liegt eben darin, dass er das Gegenteil eines Theoretikers ist, und so stört es auch nicht, dass er die in die Romane eingeschlossenen Essaypassagen – die tatsächlich neben denen eines genuinen Denkers wie Musil recht blass aussehen – aus Kompendien abschrieb oder sich von fragwürdigen Autoritäten in die Feder diktieren ließ; weiß Gott, es hätte dem "Doktor Faustus" nicht schlechtgetan, wenn er sich von einem anderen Philosophen hätte beraten lassen als dem, der Strawinski und den Jazz als faschistische Regressionen abtat und voraussagte, dass Schönbergs Musik binnen kurzem populärer sein werde als die Wagners. Wo Thomas Mann aber nicht Meinungen anderer wiedergibt, wo er seine eigene Fähigkeit zu Einfühlung und höherem Rollenspiel walten lässt, ist seine Erkenntniskraft kaum zu übertreffen.
Warum wird eigentlich so selten erwähnt, dass seine Essays über Schriftsteller nicht nur wohlformuliert und geistreich sind, sondern vor allem so gut wie immer vollkommen richtig? Kaum etwas Treffenderes wurde über Schiller geschrieben als Manns große Schiller-Rede, kaum Besseres über Wagner als sein Wagner-Aufsatz, wohl nichts Gültigeres über Kleists Prosa als seine für amerikanische Leser geschriebene Einführung in dessen Erzählungen, und der Korpus seiner Auseinandersetzung mit Goethe lässt sich immer noch spielend mit dem Allerbesten messen, was die Germanistik hervorgebracht hat. Marcel Reich-Ranickis Diagnose, dass Thomas Mann, von wem auch immer er sprach, nur von sich gesprochen habe, ist natürlich richtig, übergeht aber das Wesentliche, dass er nämlich das Kunststück fertigbrachte, von diesen anderen sprechend so von sich zu sprechen, dass er darin stets und zuverlässig das Wesentliche über die anderen traf.
Immer also der Pendelschlag zwischen Ferne und Nähe, zwischen Distanz und rückhaltloser Unmittelbarkeit. Wir finden ihn auch zelebriert in der erhabenen Langeweile seiner Tagebücher: die schärfste Aufmerksamkeit für die Regungen des Triebes, zugleich dessen rigorose Unterdrückung. Nein, seiner selbst entfremdet war er nicht, und auch vor der Nachwelt, der er die Tagebücher hinterließ, versuchte er nicht, sich zu verstecken. Er war ein Meister im Repräsentieren, aber dass die Rolle des Repräsentanten hohl ist und schief, schlimmstenfalls lächerlich und noch im besten Fall prekär-problematisch, diese Tatsache können wir nicht gut gegen ihn verwenden, denn wir haben sie ja von ihm gelernt; er brachte sie uns bei, sie ist ein Hauptthema seiner Romane. Dem echten Künstler ist die eigene Seele kein Geheimnis, würde er die Dämonen in sich nicht kennen, wie könnte er sie Tag für Tag, zurückgezogen im wohlgeordneten Arbeitszimmer, aufs Papier bannen? So wichtig war ihm die Disziplin und so tief durchschaute er zugleich das Alberne, das den Menschen Verkleinernde an ihr, dass er seiner im umfassendsten Sinn liebenswürdigsten Figur, Joseph-Osarsiph, den leitmotivisch wiederholten Bibelsegen "von oben vom Himmel herab und von der Tiefe, die unten liegt" mitgab, auf dass ein einziges Mal Gleichgewicht herrschen und einer wenigstens gottbegnadet sein sollte – umweht von Magie und zugleich doch auch Großbuchhalter, Ernährungsminister und respektabler Politiker.
"Joseph", das ungelesene Hauptwerk, der ignorierte Jahrhundertroman, der so leicht der deutschen Literatur hätte eine andere Richtung weisen können. Ein Buch, dessen Figuren im Lauf der Handlung erst aus dem mythischen ins geschichtliche Zeitalter treten, ein Spiel mit Charakteren, die nur halb schon Individuen sind und halb noch Ausführende mythischer Verhaltensmuster – Menschen, die sich noch mit ihren Altvorderen verwechseln, erst im Übergang begriffen in moderne Psychologie. Ein Roman, der viel gemeinsam hat mit Joyces Traummythenbuch "Finnegans Wake", aber so viel heiterer und lesbarer ist und letztlich auch umfassender im philosophischen Entwurf: ein Epos über die Herauslösung des Individuums aus dem archaischen Kollektiv und die dabei wie nebenher sich ereignende Erfindung Gottes – und all das so verspielt und voll Leichtigkeit erzählt, als koste es keine Anstrengung. Doch das literarische Deutschland wollte anderes lesen als solch frühe Postmoderne aus dem Exil, machte sich lieber auf in Richtung von Engagement und treuherzigem Realismus, und die immer noch fortwirkende Abkoppelung Deutschlands von den Strömungen der Weltliteratur nahm ihren traurigen Anfang.
Ja, man versteht Susan Sontags Enttäuschung gut. Wer möchte schon gerne einem nicht gestrauchelten Gustav Aschenbach gegenübersitzen, einem alten Lübecker Honoratioren, der alles Unheimliche auf den gut aufgeräumten Schreibtisch und in die Bücher verbannt hat und nunmehr spricht wie eine Buchrezension? "Jahre später", schließt sie ihren Rückblick, "nachdem ich selbst Schriftstellerin geworden war, nachdem ich viele andere Schriftsteller kennengelernt hatte, lernte ich, toleranter zu sein gegenüber der Kluft zwischen der Person und dem Werk." Wie wahr – und doch ganz falsch. Denn die scheinbare Kluft zwischen Person und Werk ist eigentlich eine Kluft in seiner Person, und sie ist ganz und vollständig im Werk ausgedrückt.
Wäre Thomas Mann nun also schockiert gewesen über all das, was sie ihm nicht sagen wollte – Kondome auf der Wiese, der Schulkollege mit der Waffe, die Drogenhändler? Ja und nein; als ältlicher Würdenträger sicherlich, als Künstler wohl kaum, denn noch der zahmste Teil seines Werks enthält mehr Chaos und Brutalität als all diese Schreckensbilder vom kalifornischen Schulhof. Es ist ein Werk von unvergleichlicher Perfektion, voll Witz und voller Dämonen, voll Schönheit und dunkler Winkel, denen man sich nur unter Aufbietung seines ganzen Mutes nähern kann. Erzengel treten in ihm auf und der Teufel und eine Menge zivilisierter Leute aus dem Zwischenreich; sie alle versuchen ordentlich zu sein und respektabel, aber es will ihnen nicht gelingen. Nur er selbst brachte es einigermaßen fertig und war sehr stolz darauf – so wie ich stolz bin auf diesen in seinem Namen vergebenen Preis.
■ Daniel Kehlmann hielt diese Dankesrede anlässlich der Verleihung des Thomas-Mann-Preises der Stadt Lübeck am vergangenen Samstag.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.10.2008 Seite Z2