Samstag, 11. Juli 2009

Mick Jagger zeigt sich als Geschichtsenthusiast


 

Er hat gerade das neue Buch des in Oxford lehrenden Historikers John Darwin zu Ende gelesen – und er ist durchaus angetan. Das Buch heißt "After Tamerlane. The Global History of Empire". Es verschaffe, sagt er, einen wirklichen Überblick: "Man erfährt, wie sich die Weltmacht-Strukturen seit dem fünfzehnten Jahrhundert entwickelt haben und wie sie miteinander verflochten sind. Wenn man sich normalerweise mit Geschichte beschäftigt, sieht man das Ganze doch immer nur aus einem sehr engen Blickwinkel. Darwins Buch setzt all die verschiedenen Weltmächte in Bezug zueinander – bis zum heutigen Tag. Das ist sehr interessant." Historiographische Erwägungen sind nicht eben das, was wir von ihm erwarten. Im Gespräch mit der Journalistin Christiane Rebmann, das am kommenden Montag im Deutschlandfunk zu hören sein wird, aber erweist sich Mick Jagger als Geschichtsenthusiast reinsten Wassers. Er befindet sich dabei in bester Gesellschaft: Schon Christopher Marlowe hat Timur, dem zentralasiatischen Herrscher des vierzehnten Jahrhunderts, ein Schauspiel gewidmet ("Tamburlaine der Große", 1590), Edgar Allen Poe hat ein Gedicht über ihn geschrieben ("Tamerlane", 1827). Jagger, einmal in Fahrt, weiß indes auch Begeisterndes über die Zeiten vor und nach Timur zu berichten. Sein neun Jahre alter Sohn lese gerade eine Weltgeschichte mit vielen Illustrationen: "Er fliegt förmlich durch die Geschichte" – und er stecke ihn, den Vater, mit seiner Leidenschaft an. Als seine historischen Lieblingsfiguren nennt Mick Jagger den russischen Feldherrn Potemkin und den französischen Chefdiplomaten Talleyrand. An beiden fasziniert ihn etwas sehr Ähnliches: Wie sie ihre Lust an gesellschaftlichen Ereignissen, an Bällen und Salongeplauder, mit "harter Arbeit" und einer "Vielzahl von Mätressen" zu verbinden wussten – Talleyrand, sagt er voller Respekt, "hat täglich eineinhalb Stunden auf seine Morgentoilette verwandt". Das Gespräch hat Christiane Rebmann jüngst in einer Suite des Londoner Soho-Hotels geführt. Und natürlich dreht es sich keineswegs nur um den Hobbyhistoriker Jagger. Unlängst hat er "The Very Best of Mick Jagger" veröffentlicht, seine Auswahl aus den vier Solo-Alben seit 1985. Also erzählt er viel Anekdotisches, etwa über die Zusammenarbeit mit John Lennon bei "Too Many Cooks" zu Anfang der siebziger Jahre. Selbstverständlich werden auch einige Songs eingespielt: Kracher wie "God Gave Me Everything", "Dancing in the Street" oder "Memo For Turner". Dies alles ist sehr unterhaltsam, vieles aber auch seit langem bekannt – ganz im Gegensatz zu seiner Geschichtsliebe.            Jochen Hieber


 

"Rock et cetera: Mick Jaggers Arbeit als Solist" ist am Montag um 22.05 Uhr im Deutschlandfunk zu hören.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 01.12.2007 Seite 41

Slowhand, sechsfach fragmentiert

Gitarrengötter brauchen an ihrer Schöpfung nichts zu ändern: Eric Clapton spielt im Rahmen seiner Welttournee ein phänomenales Konzert in der Leipziger Arena.

Die natürliche Überlegenheit des Gitarrenspiels von Eric Clapton wurde mir endgültig klar, als er im Juni 1988 beim Londoner Konzert für die Freilassung von Nelson Mandela auftrat. Er war gar nicht angekündigt, doch plötzlich stand er auf der Bühne – als Rhythmusgitarrist für die Dire Straits. Und obwohl die Band von Mark Knopfler selbst über einen der markantesten Gitarrensounds verfügt, riss Clapton die Musik sofort an sich und verpasste ihr den unverwechselbaren Klang seines Fender-Instruments: mit einer Fingerfertigkeit auf dem Griffbrett, die als größte Selbstverständlichkeit daherkommt – als "Slowhand" feiern ihn seine Anhänger dafür. Plötzlich war er in London der Solist, und es konnte auch gar nicht anders sein. Schließlich ist kein anderer der Heroen auf diesem Instrument so lange im Geschäft wie der heute dreiundsechzigjährige Brite. Neben Alexis Korner gilt er als einziger Weißer, der den Blues bis ins Letzte verstanden und – was noch wichtiger ist – verinnerlicht hat. Und das schon vor den zahllosen Schicksalsschlägen, die sein Leben überschattet haben.

Als er nun zum Auftakt von insgesamt vier Deutschland-Konzerten in der dampfenden Leipziger Arena auf der Bühne steht, sieht man dem schlanken Mann in Jeans, kurzärmeligem Hemd und mit randloser Brille diese traurige Vergangenheit nicht an. Aber man hört sie am noch einmal intensivierten Spiel, den kurzen Soli und im Zusammenklang mit Doyle Bramhall II, der seit einigen Jahren der zweite Gitarrist in Claptons Band ist. Gegenüber dem ein rundes Vierteljahrhundert jüngeren Texaner agiert Clapton als Mentor, der niemandem mehr etwas beweisen muss.

Natürlich ist er auch in Leipzig der Solist, aber einer, der seiner ganzen Band Raum gewährt, am schönsten im zwölfminütigen "Little Queen of Spades", dem Blues-Klassiker von Robert Johnson, den Clapton nach der zuvor flott heruntergespielten Eigenkomposition "Motherless Children" anreißt, als wollte er die Halle zum Einsturz bringen. Doch dann ist es der seit dreißig Jahren mit Clapton zusammenspielende Chris Stainton am Klavier, der mit seinem Solo eine neue Dramaturgie in den Song bringt, die vom Bassisten Willie Weeks und Abe Laboriel Jr. am Schlagzeug aufgenommen und weiterentwickelt wird, bis einem Hören und Sehen vergangen sind. Claptons aktuelle Band ist phänomenal.

Gerne würde man das auch von den weiteren Beteiligten des Abends sagen. Aber Jakob Dylan hat sich für das Vorprogramm zwar Hut und Stimme vom berühmten Vater geliehen und offenkundig dessen wunderbares Album "Oh Mercy" von 1989 oft gehört, doch sein Country Blues ist zu monoton und leichtgewichtig, um mehr als nur Begleitmusik zu sein. Immerhin sympathisch, dass er bei der Vorstellung seiner Band den eigenen Familiennamen bescheiden oder beschämt verschweigt. Gleichfalls enttäuschen neben Clapton dessen beide Background-Sängerinnen, allerdings weniger aus eigener Schuld. Die hervorragende Klangmischung des Leipziger Konzerts deckt die Schwächen nahezu aller Arrangements auf, in denen sie ihr einfallsloses "Hu Hu Hu" erklingen lassen. Zwar hat auch Chris Stainton manche Sünde zu begehen, vor allem bei "Isn't It a Pity", der Hommage an Claptons ehedem besten Freund George Harrison, das im Mottenkisten-Stil der Siebziger gespielt wird, aber spätestens mit "Before You Accuse Me" hat man dem Keyboarder alles verziehen. Die beiden Damen dagegen bekommen keine Chance mehr.

Die Dramaturgie des Abends ist für jeden Clapton-Liebhaber absehbar; es geht los mit "Tell the Truth", dann "Key to the Highway", beide von der "Layla"Platte – schon sind wir mitten in den Klassikern. Bis zum vierten Stück, dem frühen Höhepunkt des Konzerts, einer langen magischen Version von Curtis Mayfields "Here But I'm Gone", in der Clapton den verkappten Reggae-Rhythmus des Lieds aufdeckt, tritt Bramhall II noch als eifriger Mitsänger auf, der sogar einzelne Strophen allein für sich bekommt. Doch dann, nach diesem Feuerwerk der Instrumente, ist er wohl unzufrieden mit der eigenen Sangesleistung neben dem stimmlich blendend disponierten Clapton und schweigt fortan.

In der Mitte des Abends steht der mittlerweile obligatorische Akustikblock, der fünf Lieder umfasst, darunter als Höhepunkt Robert Johnsons "Travelling Riverside Blues". Auch das war zu erwarten, denn gegenüber anderen Konzerten der Tournee wird nur noch die Reihenfolge einzelner Lieder gewechselt. Aber ein Gott, als der Clapton schon vor vierzig Jahren in Graffiti gepriesen wurde, hat an seiner Schöpfung nun einmal nichts auszusetzen.

Das hat auch Nachteile. Niemand brauchte zum Beispiel noch "Wonderful Tonight" oder "Running on Faith" – es waren große Hits, nicht mehr. Aber dann beweist Clapton nach fast zwei Stunden mit dem Finale, dass selbst das Bekannteste noch Spannung bieten kann: "Layla" wird inklusive der elegischen Coda aus der Originalaufnahme mit Derek and the Dominos gespielt und klimpert dann aus, ehe nach einer winzigen Generalpause das unverkennbare Riff von "Cocaine" einsetzt, worin dann Doyle Bramhall II sein bestes Solo bekommt und Eric Clapton das eigene Spiel ganz zurücknimmt, nur schließlich noch einmal in den Saal brüllt: "She don't lie, she don't lie, she don't lie", und dann dem Publikum die Antwort überlässt: "Cocaine". Und da strahlt der ernste Sänger zum ersten Mal.

Auch die Band hat das Leipziger Konzert ernst genommen, und das hat ihm gutgetan. Kaum Bewegung auf der Bühne, bestenfalls tritt Clapton bisweilen an die Seite Bramhalls, der wie ein Zinnsoldat Gitarre spielt; dafür jedoch umso mehr Bewegung in der Musik, ohne dass wirklich improvisiert würde. Es sind die winzigen Effekte mit Wah-Wah-Pedal, Bottleneck oder Plektron, die hier zählen. Und Claptons unglaubliche Geschicklichkeit auf den Saiten, die erfreulicherweise bis ins Detail auf den beiden Großbildschirmen links und rechts der Bühne zu verfolgen ist – und bisweilen sogar mehrfach vergrößert, wenn auch in sechs Teile zerstückelt, auf den wandhohen Diodenstreifen hinter der Band. Mehr als eine Zugabe schenkt der Meister nicht her: "Crossroads", also wieder Robert Johnson. Seinesgleichen hat Eric Clapton nur noch unter den Toten.            Andreas Platthaus

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14.08.2008 Seite 39

Sorry, das war ein Behandlungsfehler

Neue Sachbücher Sorry, das war ein Behandlungsfehler Hauptsache, die medizinische Behandlung ist juristisch wasserdicht. Aber ist sie auch die richtige? Zwei Bücher schlagen Alarm wegen der Verrechtlichung der ärztlichen Kunst.

Erkennen Sie die Melodie? Hören Sie sich doch bitte einmal folgendes Zitat an: "Bei einer solch unterschiedlichen Behandlung der Krankenkassenpatienten, insbesondere der Arbeiter, gegenüber den anderen Patienten durch die Ärzte", so ein zweiundvierzigjähriger ungelernter Arbeiter aus Bayern, "kann kein großes Vertrauen entstehen. Auch sind für die Krankenkassenpatienten immer nur die billigsten Präparate da." Solche und ähnliche Klagen über eine Zwei-Klassen-Medizin bringen Umfragen und Leserbriefe inzwischen zuhauf an den Tag.

Nur, in diesem Fall stammt das Zitat aus einer Befragung, die 1939 stattfand und bei der mehr als zehntausend Personen aus allen Schichten nach ihrem Vertrauen zum Arzt befragt wurden. Kann man also wirklich vom "Ende des klassischen Patienten" sprechen, wie ein Aufsatzband von Winand Gellner und Michael Schmöller zum Wandel der Arzt-Patienten-Beziehung in der Gegenwart suggeriert? Aus medizinhistorischer Sicht ist ein großes Fragezeichen angebracht. Denn Patienten waren nie passiv, auch nicht im GKV-System, das seit mehr als hundert Jahren besteht. Selbst die Bemühungen der Nationalsozialisten, den Arzt als "Gesundheitsführer" mit noch mehr Macht auszustatten, scheiterten an der Eigensinnigkeit der Patienten.

Davon zeugt eindrucksvoll die Konsumentenbefragung aus dem Jahre 1939, die trotz der für das Regime in vielerlei Hinsicht nicht besonders positiven Ergebnisse noch vor Kriegsende als Buch erscheinen konnte. Doch solche Zwischentöne stören das einheitliche Bild des Wandels, das Julia Hillebrand, eine Diplom-Kulturwirtin, von der Arzt-Patient-Beziehung zeichnet. Ihr Beitrag tradiert schwarze Legenden der Medizingeschichte, etwa dass sich die Masse der Bevölkerung vor dem 19. Jahrhundert nicht an einen Arzt wandte.

Das Idealbild der heutigen Gesundheitspolitik scheint, wie mehrere Beiträge des Aufsatzbandes erkennen lassen, der "mündige Patient" zu sein. Dieser ist nach Schmöller "informiert über sein eigenes Krankheitsbild und arbeitet dann an Entscheidungsprozessen mit, wenn sich die Informationsasymmetrie zwischen ihm und dem Arzt als nicht zu groß erweist". Wenn das so einfach wäre! Bereits Kant sah in seiner berühmten Schrift mit dem Titel "Was ist Aufklärung?" menschliche Trägheit als ein zentrales Problem der Arzt-Patient-Beziehung: "Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw.: so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen."

Kant nennt noch einen weiteren wichtigen Faktor, der das Arzt-Patient-Verhältnis beeinflusst, nämlich die Finanzierbarkeit ärztlicher Leistungen. Nicht erst seit dem Arzneimittelversorgungs-wirtschaftlichkeitsgesetz ist die "traditionell persönlich geprägte Beziehung um nüchterne wirtschaftliche Gesichtspunkte" erweitert worden, wie Alexander P. F. Ehlers und Simone Gräfin von Hardenberg behaupten. Bereits 1939 beklagten sich Patienten vehement darüber, dass die Kassen ihren Vertragsärzten Vorschriften machten und auf "billige Medizin" drängten. Auch das Bild des Arztes, der überwiegend kaufmännisch denkt, war längst vor den zahlreichen Reformen, die das bundesdeutsche Gesundheitswesen in den letzten Jahrzehnten über sich ergehen lassen musste, ein häufiger Topos von Patientenklagen.

Für den Weg hin zum mündigen Patienten scheint nicht zuletzt der Trend zu immer mehr Arzthaftungsprozessen zu sprechen. Angesichts der großen Klageflut beschäftigen sich Juristen vermehrt damit, wie Auseinandersetzungen vor Gericht vermieden und Geschädigte gleichwohl zu ihrem Recht kommen können. Obwohl für die Patienten im Unterschied zu anderen Zivilverfahren Beweiserleichterungen gelten, ist es in der Rechtspraxis immer noch schwierig, ärztliche Behandlungsfehler nachzuweisen, weil die Gutachter sich nicht einig sind oder aus Kollegialität sich nicht kritisch äußern.

Dass Patienten in der Bundesrepublik im internationalen Vergleich nicht einmal schlecht gestellt sind, zeigt ein Band von Henning Rosenau und Hakan Hakeri, der Alternativen zu Arzthaftungsprozessen in zwei Ländern mit unterschiedlichen Rechtssystemen (Deutschland, Türkei) in den Blick nimmt. So gibt es in der Bundesrepublik seit 1975 regionale Schlichtungsstellen bei den Ärztekammern, bei denen "die Waffengleichheit" höher ist als bei Zivilprozessen, wie Johann Neu ausführt. In türkischen Krankenhäusern existieren seit 2004 sogenannte "Patientenrechtebüros", die allerdings nur bei der Feststellung von Behandlungsfehlern helfen, aber keine Entscheidungen in der Sache treffen.

In skandinavischen Ländern gibt es bereits seit vielen Jahren Heilbehandlungsversicherungen, bei denen es nicht auf den Nachweis schuldhaften Verhaltens ankommt. Andernorts hofft man, mit "Critical Incident Reporting" zur Fehlerprävention beizutragen. Wie wichtig dieses Thema ist, zeigen nicht zuletzt Befürchtungen, dass die Zunahme von Arzthaftungsprozessen zu einer "defensiven Medizin" führen könnte, bei der der Arzt "weniger seinem Gewissen und dem Wohl des Patienten als vielmehr dem Ratschlag seines Rechtsanwalts verpflichtet ist" (Rosenau). Motto: Hauptsache, die Behandlung ist juristisch wasserdicht. Ob sie auch die richtige ist, steht auf einem anderen Blatt.      ROBERT JÜTTE


 

Winand Gellner, Michael Schmöller (Hrsg.): "Neue Patienten – Neue Ärzte?" Ärztliches Selbstverständnis und Arzt-Patienten-Beziehung im Wandel. Nomos Verlag, Baden-Baden 2008. 224 S., br., 39,– €.


 

Henning Rosenau, Hakan Hakeri (Hrsg.): "Der medizinische Behandlungsfehler". Beiträge des 3. Deutsch-Türkischen Symposiums zum Medizin- und Biorecht. Nomos Verlag, Baden- Baden 2008. 231 S., br., 58,– €.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.10.2008 Seite 34

Sterben ist ein sozialer Prozess

Entscheidungen in Krisensituationen und am Lebensende sind komplex: Der gestern in Berlin vorgestellte Gesetzentwurf zur Patientenverfügung trägt dieser Einsicht Rechnung.

Die Beratungen waren langwierig und offensichtlich mühselig; zeitweilig war unklar, ob es überhaupt gelingen würde, eine gemeinsame Strategie zu finden, um dem Vorstoß für eine weitgehende Deregulierung im Bereich der lebenserhaltenden Behandlungen einwilligungsunfähiger Patienten, der seit einigen Jahren die bioethische Debatte prägt, einen gemeinsamen Gesetzentwurf entgegenzusetzen. Zeitweilig erschien es auch als Strategie, auf eine gesetzliche Regelung der durch Rechtsprechung bereits normierten Vorgehensweisen ganz zu verzichten – eine Überlegung, die aber auch von Gruppen aus der Hospizbewegung wie der Deutschen Hospizstiftung und von Palliativmedizinern kritisiert wurde.

Dem am gestrigen Dienstag nach monatelangen Diskussionen von einer schwarz-rot-grün-gelben Abgeordnetengruppe um Wolfgang Bosbach (CDU), René Röspel (SPD) und Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Grüne) vorgestellten "Entwurf eines Gesetzes zur Verankerung der Patientenverfügung im Betreuungsrecht" merkt man die harte juristische Arbeit an, die dort geleistet worden ist. Es ist ein detailreiches Gesetz, das unterschiedlichen Lebenssituationen und Interessen gerecht werden will. Während der schon vor sieben Monaten von einer rot-rot-grün-gelben Gruppe um die Abgeordneten Joachim Stünker (SPD) und Michael Kauch (FDP) in den Bundestag eingebrachte "Entwurf eines dritten Gesetzes zur Änderung des Betreuungsrechtes" schlank und einfach daherkommt, um der schriftlich formulierten Patientenverfügung als Ausdruck des antizipierten Selbstbestimmungs ohne Wenn und Aber Geltung zu verschaffen, soll der jetzt fertiggestellte Entwurf die Entscheidungsmöglichkeiten der Patienten zur Geltung bringen, ohne aber die Aufgabe des staatlichen Lebensschutzes gerade für schwerstkranke Patienten und die Idee der ärztlichen Fürsorge aufzugeben.

Der Weg dorthin führt über ein sorgsam abgestuftes System, das Unterschiede macht zwischen einer nach ärztlicher Beratung notariell beurkundeten Patientenverfügung, einer Patientenverfügung, die auch ohne Beratung und Beurkundung wirksam ist, und dem mutmaßlichen Willen eines Patienten, der gerade keine Patientenverfügung verfasst hat. Die umstrittene Idee einer sogenannten Reichweitenbegrenzung der Patientenverfügung, die dazu führen sollte, dass Menschen, deren Erkrankung keinen irreversiblen tödlichen Verlauf genommen hat, sondern aussichtsreich behandelt werden kann, keinen Abbruch lebenserhaltender Behandlungen vorab verfügen können sollten, ist in dem neuen Gesetzentwurf nicht mehr enthalten. Allerdings muss, wer für einen solchen Fall – beispielsweise eine Lungenentzündung – wirksam vorab das Unterlassen lebensrettender oder lebenserhaltender Behandlungen verfügen möchte, sich vorab beraten und dann die Patientenverfügung notariell beurkunden lassen. Auch ein (verlängerbares) Zeitlimit der Wirksamkeit einer solchen qualifizierten Patientenverfügung von fünf Jahren schreibt der Entwurf fest.

Bei den Patientenverfügungen, die heute zumeist die Gerichte beschäftigen, geht es allerdings um andere Konstellationen: In diesen Fällen wollen Betreuer von Menschen, die aufgrund von Unfällen oder schwerer Krankheit dauerhaft das Bewusstsein verloren haben oder die infolge einer schweren, nicht behandelbaren, tödlich verlaufenden Erkrankung keine Einwilligung in Behandlungen mehr formulieren können, eine gerichtliche Genehmigung für den Abbruch von lebenserhaltenden Behandlungen erreichen. In so einer Konstellation verlangt auch der jetzt vorgelegte Entwurf nur eine schriftlich abgefasste Patientenverfügung, die auf die eingetretene Situation zutreffen muss. Weder muss sie notariell beurkundet worden sein, noch soll ihre Wirksamkeit von einer vorher stattgefundenen Beratung abhängen.

Allerdings erleichtert der neue Gesetzentwurf, der aus Vorstellungen der Kirchen schöpft, der aber auch Anregungen von Wohlfahrts- und Behindertenverbänden aufgreift, die Durchführung solcher ärztlicher Beratungen, denn er führt einen Paragraphen 24c SGB V ein, der Patienten Anspruch auf eine dokumentierte Beratung zur Patientenverfügung durch den Arzt gibt.

Einen deutlichen Unterschied zu dem Gesetzentwurf der Kauch/Stünker-Gruppe zeichnet das von Bosbach/Röspel/Göring-Eckardt entworfene Regelwerk bei der "mutmaßlichen Einwilligung" aus. Hier geht es um die medizinische Behandlung von Menschen, die gar keine Patientenverfügung erstellt haben oder deren Patientenverfügung nicht für die Behandlungssituation zutrifft, in der eine Entscheidung getroffen werden muss. Bei Stünker/Kauch kann der Betreuer hier unter Berufung auf den durch konkrete Anhaltspunkte zu belegenden mutmaßlichen Willen des Patienten im Ergebnis genauso entscheiden, als wenn eine Patientenverfügung vorläge.

Bei Bosbach/Röspel/Göring-Eckardt geht das nicht. Aus Gründen des Lebensschutzes, aber auch des Respekts dafür, dass ein Patient sich nicht für eine Patientenverfügung entschieden beziehungsweise den nun eingetretenen Fall nicht geregelt hat, ist die Möglichkeit, lebenserhaltende Behandlungen nicht zu ergreifen oder abzubrechen, hier auf die Fälle eingeschränkt, in denen der Patient zwar noch nicht im Sterben liegen muss, aber eine aussichtslose ärztliche Prognose hat. Eine Neuerung gegenüber der bisherigen Praxis und Überlegungen anderer Gesetzesautoren ist auch die Einführung eines sogenannten "beratenden Konsils", das aus Pflegepersonen, Angehörigen, Lebenspartnern und anderen, vom Patienten benannten Personen besteht.

Das "beratende Konsil" trägt dem Gedanken Rechnung, dass die medizinische Behandlung und das Sterben soziale Prozesse sind. Behandelnde Ärzte und Betreuer sollen sich bei ihren Überlegungen über die Beendigung lebenserhaltender medizinischer Maßnahmen an der Diskussion beteiligen, ohne dass diesem mehr informellen Kreis allerdings Entscheidungsbefugnisse eingeräumt wären.

Der jetzt vorgelegte Entwurf, der auch die Bedeutung von Vorsorgevollmachten unterstreicht, hat das Potential, der Debatte über medizinische Behandlungen am Lebensende, die in den nächsten Wochen im Bundestag und in seinen Ausschüssen noch einmal Platz greifen wird, eine neue Richtung zu geben. Seine größe Stärke ist zugleich seine Schwäche: Er trägt der Einsicht Rechnung, dass Entscheidungen über medizinische Behandlungen in extremen Krisensituationen und am Lebensende komplex und nicht einfach sind. Ob sich vermitteln lässt, dass das auch Konsequenzen für ein Gesetz haben muss, das hier versucht, Klarheit zu schaffen, das deswegen aber nicht ganz einfach sein kann, wird über sein Schicksal entscheiden.             Oliver Tolmein

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.10.2008 Seite 35

Dionysos und der Buchhalter

Seit seiner Kindheit beschäftigt Daniel Kehlmann sich mit dem Werk Thomas Manns. Dessen Bücher sind für den Wiener Schriftsteller von unvergleichlicher Perfektion, reich an Witz, aber auch von Dämonen bevölkert. Für die Annäherung an Thomas Mann, so Kehlmann, muss man nicht nur genau lesen können, sondern auch Mut haben.

Von Daniel Kehlmann

Im Dezember 1947 wurde das Haus am San Remo Drive in Pacific Palisades von zwei vierzehnjährigen Schülern besucht, einem Jungen und einem Mädchen. Sie hatten angerufen, die Nummer stand ja im Telefonbuch, und waren sofort eingeladen worden. Erst vierzig Jahre später, inzwischen selbst eine berühmte Schriftstellerin, schrieb Susan Sontag ihre Erinnerungen an diesen Nachmittag auf.

Mit maliziösem Witz schildert sie, wie Thomas Mann in seinem thronartigen Stuhl sitzt und seine Mundwinkel mit der Serviette abtupft: freundlich, gravitätisch, sehr hölzern. Was man denn so lese als junger typischer Amerikaner, fragt er die beiden, die sich natürlich keineswegs als typisch empfinden, um dann sogleich in einen Monolog zu fallen. "Ich hätte nichts dagegen gehabt, dass er gesprochen hätte wie ein Buch", erinnert sich Sontag. "Ich wollte ja, dass er sprach wie ein Buch. Was mich immer mehr störte, war, dass er sprach wie eine Buchrezension."

Und es wurde schlimmer. "Er fragte nach unseren Studien. Unseren Studien? Noch mehr Peinlichkeit. Ich war sicher, er hatte nicht die geringste Idee, wie eine Highschool in Südkalifornien aussah. Wusste er von der Fahrausbildung (verpflichtend)? Von den Tippkursen? Wäre er sehr überrascht gewesen über die faltigen Kondome, die man sah, wenn man über die Wiese lief und seine erste Periode hatte, und über den sogenannten ‚Tee', den ein Pärchen Pachuken in den Vormittagspausen an der linken Wand der Schulaula verkaufte? Könnte er sich George vorstellen, der, wie einige von uns wussten, eine Waffe besaß und Geld von Tankwarten bekam? Wusste er, dass kein Latein mehr auf dem Lehrplan stand und kein Shakespeare und dass die sichtlich überforderte Englischlehrerin der zehnten Klasse monatelang bloß Exemplare von ‚Readers Digest' verteilt hatte – wir sollten einen Artikel auswählen und schriftlich zusammenfassen –, um danach die ganze Stunde schweigend, nickend und strickend an ihrem Tisch zu sitzen? Konnte er sich vorstellen, wie weltenfern von jenem Lübecker Gymnasium, wo der vierzehnjährige Tonio Kröger Hans Hansen umworben hatte, indem er versucht hatte, ihn dazu zu bringen, ‚Don Carlos' zu lesen, North Hollywood High School war, die Alma Mater der Kinostars Farley Granger und Alan Ladd? Er konnte es wohl nicht, und ich hoffte, er würde es nie können. Er hatte genug Gründe zur Traurigkeit."

Das ist rührend und doch nicht ohne Boshaftigkeit, es stimmt überein mit dem Bild, das wir bis heute von ihm haben: die Starrheit der Repräsentationsfigur, eine nicht wirklich sympathische Weltfremdheit – es ist schwer, sich ihm nahe zu fühlen. Hans Mayer versuchte dieses Unbehagen in die Formel von Manns "Ungeliebtheit" zu bannen und hatte damit wohl, abgesehen nun von der doch leicht kitschigen Begriffswahl (man soll, könnte man unter Abwandlung von Hannah Arendt einwenden, seine Freunde lieben, aber keine Völker und auch nicht unbedingt Schriftsteller), nicht so ganz und gar unrecht.

Die erste und wohl wichtigste Reaktion auf einen Autor ist aber noch nicht von Reflexion bestimmt, sondern von unmittelbarer Resonanz, und da kann es ganz anders aussehen. Mit dreizehn hielten mich die "Buddenbrooks" gepackt wie noch selten ein Buch zuvor, mit sechzehn saß ich fasziniert über dem "Zauberberg", und mit siebzehn lernte ich aus dem "Doktor Faustus", dass alle Möglichkeiten der abendländischen Kunst erschöpft seien, jede denkbare Melodie komponiert, alle großen Romane geschrieben und dass die Zukunft nur mehr Parodie und mildes Nachspiel sein werde. Für kurze Zeit schrieb ich also folgsam Lautgedichte und bedauerte mich als blassen Spätgeborenen, so sehr glaubte ich ihm jedes Wort, dann aber befreite mich Thomas Mann selbst von solch luftlosen Theorien, und zwar durch sein heiterstes, lichtdurchflutetes Spätwerk: "Joseph und seine Brüder" – ein in jeder Hinsicht großer Roman, wie es ihn nach den Lehren von Leverkühns Teufel lange schon nicht mehr hätte geben dürfen.

Und doch: Sogar als einst Begeisterter empfindet man Thomas Mann gegenüber dieses Unbehagen, das sich gegenüber Nabokov, Borges und Proust nicht einstellen will. Wie also erklärt man, dass einerseits die Verehrung für ihn nie völlig ungemischt ist und dass andererseits dieser "Ungeliebte" Generation um Generation so viele Leser mehr findet als die meisten Autoren nicht nur seiner Zeit? Schriftsteller, sagte Norman Mailer, hätten die Fähigkeit, sich selbst am Schopf aus dem Sumpf zu ziehen, sie seien Experten darin, ihre Schwächen in Stärken zu verwandeln. Kann es sein, dass auch Thomas Manns Größe mit jener problematischen Seite untrennbar verbunden ist und dass das Grandiose an ihm nicht zu haben ist ohne das, was einen an ihm stört?

Müsste man sein Hauptthema auf möglichst abstrakte Art beschreiben, man hätte wohl vom Widerspiel von Emotionalität und Repression, von Pflicht und Leidenschaft zu sprechen, von einem Sichgehenlassen, das in seiner Welt immer verboten ist und immer lockt, und einer Disziplin, deren Bedeutung gerade darin liegt, dass sie im entscheidenden Moment versagt. Die Grundgegensätze heißen manchmal Bürgerlichkeit und Künstlertum, manchmal Gesundheit und Krankheit; im "Tod in Venedig" sind sie Respektabilität und Homosexualität und im "Joseph" die im Jaakob'schen Segen verkörperten Pole oben und unten, Himmel und Tiefe. Diese Spaltung, nicht so sehr zwischen Apollo und Dionysos als zwischen Buchhalter und Bohemien, bestimmt die Inhalte seines Erzählens, sie erzeugt aber auch dessen emotionalen Pendelschlag, den eigentümlichen Wechsel zwischen eiserner Kontrolle über das Material und scheinbar unvermitteltem Ausbruch. Bei Thomas Mann existiert das Rigide, um wirkungsvoll zu scheitern, in seinem Erzählton klingt stets die Stimme Aschenbachs mit, der ein bürgerlich respektabler Langeweiler sein möchte, aber zu seiner Größe findet genau dadurch, dass ihm das mit einemmal nicht mehr gelingt. Erst im "Verfall einer Familie" lässt sich über diese schreiben, im Zusammenbrechen der Struktur offenbart sich das Menschliche, und auch das Wesen europäischer Zivilisation wird am deutlichsten im Sanatorium und in der Verzerrung durch die Krankheit – vom Familienzerfall also zum Verfall einer Weltkultur, und indem Joseph die uralten Schemata bricht und aus dem vermeintlichen Gotteskind ein profaner Wirtschaftsminister wird, ist auch das Wesen des Mythos für den Roman fassbar.

Wie Aschenbach vor seiner schicksalhaften Begegnung mit dem geisterhaften Herrn im Münchner Park, so gibt sich auch der Romancier Thomas Mann als einer, der mit der wilden Seite des Lebens nichts zu tun haben will. In Wahrheit aber ist genau diese sein Thema, und von immer neuen Blickwinkeln aus setzt er in Szene, wie die Ordnungen scheitern und das Verdrängen versagt – darin eben liegt sein großes Täuschungsmanöver und der Grund, dass seine immer wieder verblüffende Gefühlsintensität nicht zu haben ist ohne den Habitus des kühlen Gelehrten, der am Schreibtisch Krawatte trug und dessen Anblick, sei es auf Fotos, sei es an der kalt schimmernden Oberfläche seiner Prosa, uns befremdet und verstört.

Dabei betonte er selbst immer wieder, dass er nicht jener poeta doctus war, als der die eigenen Romane ihn ausgeben. Joyce und Proust, Nabokov und Borges, sie alle wissen viel mehr und haben ihre Kenntnisse mit einer Natürlichkeit assimiliert, die ihm fremd bleibt. Da ist stets etwas Parvenühaftes an seiner Bildung, da ahnt man immer ein wenig den Schulabbrecher und Lexikonabschreiber, der Arthur Koestler erklärte, dass er gar nicht zu viel Information wolle, denn das behindere die Phantasie. Das war vielleicht aus einer Laune heraus dahingesagt, aber es beschreibt seine Methode auf das Gründlichste: Er ist ein Autor der Unmittelbarkeit, der sich als Virtuose der Vermittlung tarnt, ein Pathetiker, maskiert als Ironiker. Ich habe, offen gesagt, noch nie einen Leser getroffen, der an den Diskussionen zwischen Naphta und Settembrini echte Freude gehabt hätte – und doch wird kaum einer leugnen, dass der Roman diese Dialoge ebenso braucht wie die doch oft recht bleiernen Passagen über Krankheit, Bakterien und Kosmologie. Denn sie bereiten jene Stellen vor, die ganz plötzlich kommen und treffen wie Blitze; jene Stellen, deren Energie über das ganze Buch ausstrahlt und in denen gewissermaßen immer von neuem der Knabe Tadzio vor Aschenbach hintritt, so dass es diesem die Würde und die Rede verschlägt.

So paradox es klingen mag: Thomas Mann ist unter allen Autoren der Klassischen Moderne der pathetischste, der gefühlsunmittelbarste, er ist distanzierter als die anderen, weil er mehr zu verbergen hat. Seine Ironie verhüllt einen Erzähler des Rausches und der Entgrenzung, der zuverlässig jede Hauptfigur in eine Lage führt, in der sie die Kontrolle über ihr Leben verliert und das Chaos so unbarmherzig nach ihr greift wie am ersten Abend auf dem Berg das Fieber nach dem armen Hans Castorp: "Aber sobald er eingeschlafen war, begann er zu träumen und träumte fast unaufhörlich bis zum anderen Morgen. Hauptsächlich sah er Joachim Ziemßen in sonderbar verrenkter Lage auf einem Bobschlitten eine schräge Bahn hinabfahren. Er war so phosphoreszierend leicht wie Dr. Krokowski, und vorneauf saß der Herrenreiter, der sehr unbestimmt aussah, wie jemand, den man lediglich hat husten hören, und lenkte. ‚Das ist uns doch ganz einerlei – uns hier oben', sagte der verrenkte Joachim, und dann war er es, nicht der Herrenreiter, der so grauenhaft breiig hustete."

Solch halluzinogenes Flirren wäre auch Jack Kerouac oder Hunter S. Thompson nicht besser gelungen. Es überfällt einen wieder im "Walpurgisnacht"-Kapitel, in dem das strenge Hausregime, sowohl des Sanatoriums als auch des Romans, seine Macht verliert und Hans Castorp auf Französisch vor Frau Chauchat seine Seele ausspricht, dann in ungehemmter Gewalt im Kapitel "Schnee", in dem Hans, umfangen von feindlicher Natur, ins Delirium driftet. Aber Manns Augenblicke der Unmittelbarkeit können auch leise, fast unmerklich stattfinden, wie etwa beim gemeinsamen Friedhofsbesuch von Hans, Joachim und der jungen Karen Karstedt, einem Mädchen, von dem alle wissen, dass ihm nur noch wenige Wochen zu leben bleiben. Plötzlich kommen die drei zu einer freien Stelle – ebenjener, es wird nie ausgesprochen, wo Karen binnen kurzem liegen wird. "Sie standen, das Fräulein etwas vor ihren Begleitern, und lasen die zarten Angaben der Steine – Hans Castorp gelöst, die Hände vor sich gekreuzt, mit offenem Munde und schläfrigen Augen, der junge Ziemßen geschlossen und nicht nur gerade, sondern sogar ein wenig nach hinten abgeneigt – worauf die Vettern mit gleichzeitiger Neugier von den Seiten verstohlen in Karen Karstedts Miene blickten. Sie merkte es dennoch und stand da, verschämt und bescheiden, den Kopf schräg vorgeschoben, und lächelte geziert mit gespitzten Lippen, wobei sie rasch mit den Augen blinzelte." Ein Moment existentieller Peinlichkeit: Keiner weiß etwas zu sagen, und plötzlich steht der Tod nicht mehr für Kunst oder ästhetische Verfeinerung oder was auch immer, sondern einfach nur kalt, fremd und unausweichlich für sich selbst.

Dieses Erzählen lebt von Momenten des Umschlags. Aschenbach habe immer so existiert, sagt jemand im "Tod in Venedig" und zeigt seine zur Faust geschlossene Hand, nie aber so, und lässt die Hand offen herabfallen. So arbeitet auch Manns Prosa: Über lange Kapitel ist die Faust geschlossen, und wir betrachten mit ambivalenter Bewunderung ihre distanzierte Brillanz, ihren vollkommenen Stil, ihre scheinbar unzerstörbar souveräne Ironie . . . – doch plötzlich öffnet sich die Hand, die Masken fallen, das Geordnete bricht, und die Figuren werden zum Teil höchst willige Opfer von Trieb und Rausch, Schmerz, Traum, Fieber, Krankheit und Vision: Thomas Buddenbrooks Zusammenbruch, die Agonie der Kinder Hanno und Echo, das geisterhafte Auftauchen Goethes in Charlotte Buffs Kutsche und, die vielleicht berührendste Stelle in seinem Gesamtwerk, der Abend, da Joseph den Majordomus Mont-Kaw unter Aufbietung all seiner Eloquenz in den Tod hypnotisiert.

Fortsetzung auf der folgenden Seite

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.10.2008 Seite Z1


 

Fortsetzung von der vorherigen Seite Dionysos und der Buchhalter

"Ist's nicht mit Müssen und Dürfen heut wie nur jemals, wenn dir mein Abendsegen empfahl, doch ja nicht zu denken, du müsstest ruhen, sondern du dürftest? Siehe, du darfst! Aus ist's mit Plack und jeglicher Lästigkeit. Keine Leibesnot mehr, kein würgender Zudrang noch Krampfesschrecken. Nicht ekle Arznei, noch brennende Auflagen, noch schröpfende Ringelwürmer im Nacken. Auf tut sich die Kerkergrube deiner Belästigung. Du wandelst hinaus und schlenderst heil und ledig dahin die Pfade des Trostes, die tiefer ins Tröstliche führen mit jedem Schritt."

Immer trifft einen das unvorbereitet, immer wie zum ersten Mal. Seine Meisterschaft liegt eben darin, dass er das Gegenteil eines Theoretikers ist, und so stört es auch nicht, dass er die in die Romane eingeschlossenen Essaypassagen – die tatsächlich neben denen eines genuinen Denkers wie Musil recht blass aussehen – aus Kompendien abschrieb oder sich von fragwürdigen Autoritäten in die Feder diktieren ließ; weiß Gott, es hätte dem "Doktor Faustus" nicht schlechtgetan, wenn er sich von einem anderen Philosophen hätte beraten lassen als dem, der Strawinski und den Jazz als faschistische Regressionen abtat und voraussagte, dass Schönbergs Musik binnen kurzem populärer sein werde als die Wagners. Wo Thomas Mann aber nicht Meinungen anderer wiedergibt, wo er seine eigene Fähigkeit zu Einfühlung und höherem Rollenspiel walten lässt, ist seine Erkenntniskraft kaum zu übertreffen.

Warum wird eigentlich so selten erwähnt, dass seine Essays über Schriftsteller nicht nur wohlformuliert und geistreich sind, sondern vor allem so gut wie immer vollkommen richtig? Kaum etwas Treffenderes wurde über Schiller geschrieben als Manns große Schiller-Rede, kaum Besseres über Wagner als sein Wagner-Aufsatz, wohl nichts Gültigeres über Kleists Prosa als seine für amerikanische Leser geschriebene Einführung in dessen Erzählungen, und der Korpus seiner Auseinandersetzung mit Goethe lässt sich immer noch spielend mit dem Allerbesten messen, was die Germanistik hervorgebracht hat. Marcel Reich-Ranickis Diagnose, dass Thomas Mann, von wem auch immer er sprach, nur von sich gesprochen habe, ist natürlich richtig, übergeht aber das Wesentliche, dass er nämlich das Kunststück fertigbrachte, von diesen anderen sprechend so von sich zu sprechen, dass er darin stets und zuverlässig das Wesentliche über die anderen traf.

Immer also der Pendelschlag zwischen Ferne und Nähe, zwischen Distanz und rückhaltloser Unmittelbarkeit. Wir finden ihn auch zelebriert in der erhabenen Langeweile seiner Tagebücher: die schärfste Aufmerksamkeit für die Regungen des Triebes, zugleich dessen rigorose Unterdrückung. Nein, seiner selbst entfremdet war er nicht, und auch vor der Nachwelt, der er die Tagebücher hinterließ, versuchte er nicht, sich zu verstecken. Er war ein Meister im Repräsentieren, aber dass die Rolle des Repräsentanten hohl ist und schief, schlimmstenfalls lächerlich und noch im besten Fall prekär-problematisch, diese Tatsache können wir nicht gut gegen ihn verwenden, denn wir haben sie ja von ihm gelernt; er brachte sie uns bei, sie ist ein Hauptthema seiner Romane. Dem echten Künstler ist die eigene Seele kein Geheimnis, würde er die Dämonen in sich nicht kennen, wie könnte er sie Tag für Tag, zurückgezogen im wohlgeordneten Arbeitszimmer, aufs Papier bannen? So wichtig war ihm die Disziplin und so tief durchschaute er zugleich das Alberne, das den Menschen Verkleinernde an ihr, dass er seiner im umfassendsten Sinn liebenswürdigsten Figur, Joseph-Osarsiph, den leitmotivisch wiederholten Bibelsegen "von oben vom Himmel herab und von der Tiefe, die unten liegt" mitgab, auf dass ein einziges Mal Gleichgewicht herrschen und einer wenigstens gottbegnadet sein sollte – umweht von Magie und zugleich doch auch Großbuchhalter, Ernährungsminister und respektabler Politiker.

"Joseph", das ungelesene Hauptwerk, der ignorierte Jahrhundertroman, der so leicht der deutschen Literatur hätte eine andere Richtung weisen können. Ein Buch, dessen Figuren im Lauf der Handlung erst aus dem mythischen ins geschichtliche Zeitalter treten, ein Spiel mit Charakteren, die nur halb schon Individuen sind und halb noch Ausführende mythischer Verhaltensmuster – Menschen, die sich noch mit ihren Altvorderen verwechseln, erst im Übergang begriffen in moderne Psychologie. Ein Roman, der viel gemeinsam hat mit Joyces Traummythenbuch "Finnegans Wake", aber so viel heiterer und lesbarer ist und letztlich auch umfassender im philosophischen Entwurf: ein Epos über die Herauslösung des Individuums aus dem archaischen Kollektiv und die dabei wie nebenher sich ereignende Erfindung Gottes – und all das so verspielt und voll Leichtigkeit erzählt, als koste es keine Anstrengung. Doch das literarische Deutschland wollte anderes lesen als solch frühe Postmoderne aus dem Exil, machte sich lieber auf in Richtung von Engagement und treuherzigem Realismus, und die immer noch fortwirkende Abkoppelung Deutschlands von den Strömungen der Weltliteratur nahm ihren traurigen Anfang.

Ja, man versteht Susan Sontags Enttäuschung gut. Wer möchte schon gerne einem nicht gestrauchelten Gustav Aschenbach gegenübersitzen, einem alten Lübecker Honoratioren, der alles Unheimliche auf den gut aufgeräumten Schreibtisch und in die Bücher verbannt hat und nunmehr spricht wie eine Buchrezension? "Jahre später", schließt sie ihren Rückblick, "nachdem ich selbst Schriftstellerin geworden war, nachdem ich viele andere Schriftsteller kennengelernt hatte, lernte ich, toleranter zu sein gegenüber der Kluft zwischen der Person und dem Werk." Wie wahr – und doch ganz falsch. Denn die scheinbare Kluft zwischen Person und Werk ist eigentlich eine Kluft in seiner Person, und sie ist ganz und vollständig im Werk ausgedrückt.

Wäre Thomas Mann nun also schockiert gewesen über all das, was sie ihm nicht sagen wollte – Kondome auf der Wiese, der Schulkollege mit der Waffe, die Drogenhändler? Ja und nein; als ältlicher Würdenträger sicherlich, als Künstler wohl kaum, denn noch der zahmste Teil seines Werks enthält mehr Chaos und Brutalität als all diese Schreckensbilder vom kalifornischen Schulhof. Es ist ein Werk von unvergleichlicher Perfektion, voll Witz und voller Dämonen, voll Schönheit und dunkler Winkel, denen man sich nur unter Aufbietung seines ganzen Mutes nähern kann. Erzengel treten in ihm auf und der Teufel und eine Menge zivilisierter Leute aus dem Zwischenreich; sie alle versuchen ordentlich zu sein und respektabel, aber es will ihnen nicht gelingen. Nur er selbst brachte es einigermaßen fertig und war sehr stolz darauf – so wie ich stolz bin auf diesen in seinem Namen vergebenen Preis.

■ Daniel Kehlmann hielt diese Dankesrede anlässlich der Verleihung des Thomas-Mann-Preises der Stadt Lübeck am vergangenen Samstag.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.10.2008 Seite Z2

„Die Menschen haben sich verzockt“

Deutschland in der Krise

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Die Deutschen sind angesichts der Krise schwer verunsichert - und auch die Kanzlerin weiß keinen Rat

08. Dezember 2008 Der Psychologe Stephan Grünewald über die Auswirkungen der Krise auf die Befindlichkeit der Deutschen - und über Merkels Zögerlichkeit.

Herr Grünewald, ist die Krise überhaupt schon in den Köpfen der Menschen angekommen?

Zum Teil. Im Alltag erleben die meisten Leute noch keine Krisensymptome - es kommt ja noch Geld, wenn man die Karte in den Automaten steckt, und Lebensmittel gibt es auch. Die meisten Arbeitsplätze scheinen noch sicher, sogar das Inflationsbarometer der Nation, nämlich der Benzinpreis, fällt derzeit. Insofern haben viele Bürger das Gefühl, von der Krise sogar zu profitieren, weil sie mehr Geld im Säckel haben. Andererseits bekommen sie natürlich das ständige Krisengerede in den Medien mit - und das hat eine stark verunsichernde Wirkung. Vor allem die 500-Milliarden-Staatsbürgschaft hat zu dem Gefühl geführt: Wenn so unermessliche Beträge bereitgestellt werden, muss irgendwas Schlimmes passiert sein.

Die Krise ist für viele Menschen derzeit also noch abstrakt. Ist das nicht das eigentlich Furchterregende daran: zu wissen, es droht schlimme Gefahr - und gleichzeitig diese Gefahr nicht richtig benennen und einordnen zu können?

Genau, das ist wie ein riesiges schwarzes Loch. Und dieses schwarze Loch kann alles verschlingen: Girokonten, Sparanlagen, Immobilien - ganze Banken können darin verschwinden. Diese Vorstellung ist derart ungeheuerlich, dass sie von den Leuten sofort wieder abgewehrt werden muss. Bei den Anschlägen vom 11. September hatten die Menschen immerhin noch das Gefühl, dass sich Trümmer beiseiteräumen lassen und der Terrorismus bekämpft werden kann. Vor dem schwarzen Loch jedoch versagt jede Handlungsfähigkeit. Das ist für die Menschen unaushaltbar.

Wie reagieren die Menschen auf dieses "Unaushaltbare"?

Mit einer Art Schockstarre: Man steckt den Kopf in den Sand, beschwört die Normalität - und setzt auf die Macht des Staates. Vater Staat soll sich möglichst breitbeinig vor dieses schwarze Loch stellen und dafür sorgen, dass da nichts reinflutscht. Gleichzeitig sorgen die ständigen Hiobsbotschaften dafür, dass die Bürger nicht nur die Normalität beschwören, sondern gleichzeitig auch Risikominimierung betreiben. Das führt im Weihnachtsgeschäft zu einem fast paradoxen Effekt: Große Investitionen - wie etwa in ein neues Auto - werden zwar abgesagt, gleichzeitig feiern die Bürger aber so etwas wie einen "Konsumkarneval". Der Karneval ist ja das Fest der letzten Stunde, eine Lebenssteigerung vor der toten Fastenzeit.

Der Psychologe Stephan Grünewald sieht in der Krise auch eine Chance auf Selbstbesinnung

Ist es nicht erstaunlich, dass die Leute Karneval feiern, anstatt zornig vor die Bankhäuser zu ziehen, um zu demonstrieren? Immerhin hat die Finanzbranche Milliarden vernichtet, und am Schluss müssen die Steuerzahler die Zeche zahlen. Wieso entsteht denn da kein revolutionärer Impuls?

Weil die Menschen spüren, dass sie sich in Wahrheit mitverzockt haben. Dieses Lebensideal, mit minimalem Aufwand ein Maximum an Rendite abzuräumen, herrschte ja nicht nur in der Finanzbranche - sondern in der gesamten Gesellschaft. Jugendliche träumen davon, über Nacht zum Superstar zu werden. Wir suchen Glückserfüllung durch Masturbation vor dem Fernseher, weil wir auf diese Weise ohne aufwendiges Liebeswerben zum Höhepunkt kommen. Letztlich sind ja auch diese ganzen Kontaktforen im Internet nichts anderes als soziale Spekulationsblasen: tausend Kontakte, aber kein einziger Freund aus Fleisch und Blut. Das ist ja alles im gesellschaftlichen Denken enthalten - also müssten die Menschen schon gegen sich selbst revoltieren.

Allerdings hat ein Durchschnittsbürger keine tollen Bonuszahlungen abgegriffen.

Richtig, deshalb müssen natürlich auch in dieser Krise ein paar Sündenböcke definiert werden. Das sind jetzt die Manager und vor allem die Bankangestellten, die sich verzockt haben. Aber dass das nicht zum offenen Protest führt, ist dann eben doch Ausdruck dieser verspürten Ambivalenz: Ich bin eigentlich mitschuld, weil ich Teil des Systems bin.

Sie konstatieren seit Jahren eine tiefe Verunsicherung bei den Deutschen - hervorgerufen durch die Globalisierung, durch Geschlechterrollen, die nicht mehr klar definiert sind, oder auch aufgrund mangelnder Zukunftsperspektiven. Wird die derzeitige Krise diese Verunsicherung weiter verschärfen? Oder sehen wir hinterher vielleicht sogar wieder klarer und haben neue Ziele vor Augen?

So eine Krise ist natürlich immer eine Chance zur Selbstbesinnung. Die Deutschen haben sich etwa bei der Flutkatastrophe im Jahr 2002 als "einig Volk" erlebt, und nach dem verheerenden Tsunami waren wir Spendenweltmeister, weil wir das Gefühl hatten, einen sinnvollen Beitrag in der Welt leisten zu können. Wenn es der Politik gelingt, die Finanzkrise nicht nur als schwarzes Loch erscheinen zu lassen, sondern als ein konkretes Problem, gegen das wir alle etwas tun können und müssen, dann würde das die Verunsicherung mindern. Dann gäbe es nämlich eine "Negativ-Vision", an der man sich abarbeiten könnte.

"Negativ-Vision" im Sinne von: So etwas darf nie wieder passieren?

Ja, als einigendes Dagegensein. So wie bei der drohenden Klimakatastrophe, die von Frau Merkel ja auch ganz geschickt als Negativ-Vision gespielt wird. Die Kanzlerin kompensiert so ihre Visionslosigkeit und gibt uns das Gefühl, wir können jetzt kollektiv das Ozonloch stopfen, wenn wir andere Autos fahren oder anders heizen.

Im Angesicht der Finanzkrise bleibt die Kanzlerin allerdings weitgehend passiv. Müsste Frau Merkel nicht - wie etwa Sarkozy in Frankreich - viel mehr tun, um Vertrauen in der Bevölkerung zu gewinnen?

Die Kanzlerin wird ja von den Deutschen dafür geliebt, dass sie eben nicht wie Schröder als lautstarke Führungsfigur auftritt, sondern gewissermaßen als Vermittlungsengel. Man erlebt Angela Merkel als eine Gestalt, die Extreme ausgleicht, die ausbalanciert und die das vertrauensvolle Gefühl vermittelt: "Bei mir fällt keiner durch den Rost."

Mag ja sein, aber reicht dieses Verhalten aus in einer akuten Krisensituation, wie wir sie jetzt erleben? Muss sie da nicht einfach mal richtige Führungsqualität beweisen?

Es reicht erst mal aus, um die groben Ängste zu mindern. Der Vermittlungsengel stellt sicher, dass mich das schwarze Loch nicht verschlingt. Da ist man erst mal froh. Was jetzt aber eine Zukunftsperspektive angeht, da kommt von der Kanzlerin natürlich zu wenig. Und da sind wir im Grunde genommen wieder bei dem urdeutschen Dilemma, dass wir uns schwertun, klare Zielvorgaben zu entwickeln. Die aus den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus herrührende Tabuisierung von Visionen existiert eben immer noch.

Wenn Sie die Kanzlerin als Psychologe beraten sollten, was würden Sie ihr empfehlen?

Ich glaube, es sollte ihr weniger um Konjunkturprogramme gehen, die ja auch nur eine beschwichtigende Funktion haben, als vielmehr um klare Leitlinien: Was sind unsere Stärken, was können wir der Welt geben? Zum Beispiel der Erfindungsreichtum deutscher Ingenieure - zum deutschen Naturell gehört ja auch immer ein bisschen die Hoffnung, dass wir aus der Position der Weltzerstörer rauskommen und zu Weltrettern werden. Ich glaube, die Deutschen haben ein Potential, gerade in der Not erfinderisch zu sein, ihre Entwicklungskünste zu entfalten. Wichtig ist, dass das jetzt kanalisiert wird, dass wirklich konkret gesagt wird, welches unsere Zukunftsfelder sind.

Ist die Krise vielleicht auch dafür gut, neue Leitbilder zu finden? Die "Masters of the Universe" von der Wall Street, die großen Finanzjongleure und Investmentbanker, wurden als gesellschaftliche Orientierungsfiguren ja praktisch über Nacht abgeräumt. Wer könnte an deren Stelle treten?

Wir erleben schon seit ein paar Jahren einen Umbruch, was die Leitbilder angeht. Früher hatten wir wirklich perfekte Leitbilder, die Arnold Schwarzeneggers dieser Welt und andere, wie Sie sagen, "Masters of the Universe". Die entsprachen der digitalen Allmachtsphantasie: Wir können alles in der Welt bewegen. Inzwischen kehrt aber fast ein neues Realitäts- oder Demutsprinzip ein. Schauen Sie sich doch nur mal die Fernseh-Charaktere an: Dr. House, Adrian Monk - das sind, wie ich sie nenne, behinderte Kunstwerke. Brüchige Gestalten, die im Kampf mit dem Schicksal etwas bewegen. Dr. House, mittlerweile Deutschlands beliebteste Fernsehfigur, ist ja ein körperlicher und seelischer Krüppel, der aus seiner Behinderung aber etwas macht und dadurch an Liebreiz gewinnt. Die neuen Helden sind nicht perfekt - und das kann man gewissermaßen auch Frau Merkel zugutehalten. Sie ist ja wahrlich kein Top-Model, sondern eine Frau, die ihre Ecken und Kanten, Behinderungen und Probleme hat.

Und sie ist eine ostdeutsche Protestantin, die im Vergleich mit ihrem Amtsvorgänger irgendwie geerdeter und ernsthafter erscheint. Kehrt nach der Ära des schnellen Geldes womöglich das protestantische Arbeitsethos zurück?

Die Vorstellung, dass wir per Knopfdruck die Welt verändern können, ist natürlich immer noch in den Köpfen der Menschen verankert - und bewahrheitet sich ja auch täglich im Internet. Sie googeln sich innerhalb weniger Sekunden die halbe Welt zusammen oder haben nach wenigen Mausklicks die erotische Phantasie vor Augen, die ihren Tagträumen genügt. Der Aufwand, den wir früher mal betreiben mussten, um an irgendetwas heranzukommen, ist enorm geschrumpft, und die Leute haben unbewusst das Gefühl, das müsse in jedem Lebensbereich so funktionieren. Es gibt allerdings eine Gegenbewegung, die darin besteht, sich auf die analoge Prozesshaftigkeit des Alltags einzulassen. Davon zeugen zum Beispiel die vielen Koch-Shows. Beim Kochen muss man ja stundenlang in der Küche stehen, da kann man am Herd auch grandios scheitern - aber wenn etwas gelingt, ist der ganze Freundeskreis bezaubert.

"Es gibt sie noch, die guten Dinge", wie es beim Versandhaus "Manufactum" heißt . . .

Das bedeutet nicht, dass die Leute jetzt jeden Tag kochen - aber zumindest haben sie das Gefühl, einmal pro Woche muss ich zeigen, dass ich mit Arbeit etwas bewegen kann. Eine der erfolgreichsten Zeitschriften der letzten Jahre ist ja "Landlust", in der es um die Rückkehr zu einem analogen Leben geht, das sich den Rhythmen der Natur anpasst, in dem man auch selber wieder ein bisschen töpfert oder pflanzt und sich dann an den Früchten der Arbeit erfreut. Diese Gegenbewegung zur vermeintlichen Aufwandslosigkeit ersetzt zwar nicht die Phantasie, dass wir im Prinzip alles auf Knopfdruck hinkriegen. Aber zu wissen, dass ich zur Not auch selber Hand anlegen kann, das wirkt beruhigend.

Noch ein Wort zum Liberalismus, der in Deutschland ja ohnehin nie eine besonders große Anhängerschaft hatte. Ist mit dem freiheitlichen Gesellschaftsmodell aufgrund der Krise vorerst Schluss?

Ja, für die nächsten fünf Jahre ist das vorbei. Die Finanzkrise hat das zugeschüttet. Wir haben schon im vergangenen Jahr in Untersuchungen festgestellt, dass dem Staat viel mehr Wirtschaftskompetenz zugesprochen wird als umgekehrt der Wirtschaft Sozialkompetenz. Und gerade die Gerechtigkeitsdebatte zeigt, wie wichtig es den Leuten ist, dass sie vermeintlich gerechte und berechenbare Verhältnisse vorfinden. Die Liberalisierung im Sinne einer Entfesslung der Marktkräfte ist für viele Menschen im Moment ein Schreckgespenst - und dieses Schreckgespenst bleibt jetzt erst mal in die Kiste gesperrt.

Das Gespräch führte Alexander Marguier.



Text: F.A.S.
Bildmaterial: dpa

Im Windschatten von Madame George


 

Schallplatten und Phono Ist das Jazz? Schon bei "Astral Weeks" wusste man das nicht. Jetzt hat Van Morrison seine legendäre Platte von 1968, mit der er einst die Grenzen des Blues aufhob, neu und live eingespielt.

Alles Wollen entspringt aus Leiden – oder umgekehrt. Und nur eine Handvoll Auserwählter beherrscht die Kunst, dem Ausdruck zu verleihen, allerdings auch nur für eine kurze Zeit, denn selbst deren Körper verlieren bald jene Exaltation gewordene Not, aus dem Geiste höllischer Qualen künstliche Paradiese erschaffen zu müssen. Wohl in diesem Sinne hat Van Morrison davon gesprochen, dass die Stücke von seiner Platte "Astral Weeks" (1968) eine Art "Licht am Ende des Tunnels" für ihn seien. Damit ist die heilende Kraft der Musik angesprochen, die er seit "Into the Music" (1979) auf zunehmend ritualisierte Weise beschwört, wobei sich zuweilen der Eindruck aufdrängte, das poetologische Moment seines Werks nehme in dem Maße überhand, in dem die reale Schöpferkraft nachlässt.

Sei's drum: Auf "Astral Weeks" hat er sich vermittels der Musik allemal zu einer irrwitzigen Leib-Seele-Einheit zusammengerissen, die sich in Drei-Akkord-Oden im 6/4-Takt erlöst. Drei Sitzungen genügten, mit wildfremden Jazzern, die ob der genialischen Spannungsbögen irritiert durch die Stücke mäandern, strolchen und dümpeln. Die Befürchtung, diese vollkommene Unvollkommenheit, die "Astral Weeks" mit seinen Vibraphon-Wetterleuchten, Geigen-Schauern und Gitarren-Rinnsalen zu einer Art Naturerscheinung der dritten Art macht, im Bügelfaltenhosen-Live-Sound vorgesetzt zu bekommen, war groß, als "Astral Weeks Live at the Hollywood Bowl" angekündigt wurde. Hatte die zwölfköpfige Band etwa auch all die liebgewonnenen Spielfehler einstudiert? Würde eine solche Live-Fassung überhaupt anders denn als bloßer Abglanz des Originals wirken können?

Das Wiederhören des Originals erregte zudem einen ganz anderen Zweifel: Wenn es etwas gibt, worum es auf "Astral Weeks" im Kern geht, dann darum, ein geradezu übersinnlich-animalisches Bewusstsein der eigenen Jugend in die Welt herauszubrüllen, zu flüstern und zu grunzen. "I'm dynamite", heißt es in "Sweet Thing", das die Wendung "I shall never grow so old again" zum Mantra hat. "The Way Young Lovers Do" sagt im Titel schon alles und hat einen Refrain, an dem man stimmlich und emotional nur scheitern kann. Wie klug mag es da sein, mit dreiundsechzig Jahren nochmals das zu suchen, was sich ein Dreiundzwanzigjähriger im Raubtiersprung erobern konnte: ewige Jugend, getrunken an kristallklaren Gebirgsbächen, die "the love that loves to love" murmeln?

"Live at the Hollywood Bowl" ist dennoch eine wunderbare Aufnahme geworden, die sich mit deutlich transparenteren Arrangements am Vorbild orientiert, ohne es sklavisch zu imitieren. Die Sequenz der Stücke hat eine Umstellung erfahren. "Madame George" steht nun am Ende, "Listen to the Lion" von der Platte "St. Dominic's Preview" (1972) und "Common One" aus dem gleichnamigen Album (1980) fungieren als Epilog. Das sind wohl Fingerzeige, denn im ersten Stück geht es um die Unmöglichkeit, zum Wesenskern der Liebe vorzustoßen, ohne Schmerz als integralen Teil unseres Selbst zu begreifen. Im zweiten um das Paradies.

Betrachtet man die Gesangsperformance im Detail, so hat Van Morrisons Stimme erwartungsgemäß an keiner Stelle die rhythmische Verve und delirierende Luzidität von damals. Sang er früher in die Nasenwurzel, was seiner Stimme jenen leicht metallisch-angeriebenen Parmesanreiben-Sound verlieh, so scheint er sie heute fast zu trinken – bere la voce, wie man es in manchen Schulen des Belcanto nennt und lehrt. Dadurch bewegt sich sein nach wie vor voluminöses Organ in einem viel engeren und dunkleren Ausdrucksband, das die bluesigen Wurzeln der Stücke stärker betont.

Tritt man etwas zurück und lässt das Album als Ganzes auf sich wirken, dann überrascht der kontemplative Fluss, der sich dort einstellt, wo einst ewig die Landstraße ans Meer lockte. Doch der Schein trügt: Es ist ja gar nicht "Astral Weeks", sondern "Live at the Hollywood Bowl", was wir hören. Der Mann, der da singt, könnte sein eigener Großvater sein, und die Oden an die Unzerstörbarkeit der Jugend sind nun dem Gedanken geweiht, dass "Leben" heißt, das Sterben zu lernen. Ein metaphysischer Widerspruch ist das nicht. Aber bemerkenswert ist es schon, dass man beides mit denselben Liedern und Worten sagen kann – "Dry your eyes and say goodbye to Madame Joy".      Alessandro Topa


 

Van Morrison, Astral Weeks: Live at the Hollywood Bowl. Listen to the Lion Records/Blue Note 6326713 (EMI)

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 03.03.2009 Seite 32

Entweder man brennt, oder man verfault

"Die Abenteuer des Augie March", "Humboldts Vermächtnis" und "Herzog": In Neuübersetzungen dieser drei großen Romane ist Saul Bellow jetzt als einer der größten amerikanischen Autoren wiederzuentdecken.

Von Thomas David

Dort sitzt er, der Adler, und raschelt mit dem Gefieder. Seine Augen gleichen harten Edelsteinen, sie sind von kalter Grausamkeit, sein Zischen klingt wie rutschender Schnee. In den Menschen, denen Augie und Thea während ihrer Fahrt durch Mexiko begegnen, erweckt der Anblick des Vogels religiöse Ehrfurcht, einen stillen, würdevollen Ernst. Sein Kot ist von beißendem Gestank. Er hat rostrote, feurige Federn, er ist jung und hat noch keinen weißen Kopf: Er erhebt sich stolz aus dem Reich der Mythen und Legenden, und als Augie den Adler zum ersten Mal sieht, trübt sich sein Blick, und Augie fühlt sich benommen und schwach. Dieser Adler, so Augie, "wirkte wie ein naher Verwandter des Vogels, der sich einmal am Tag auf Prometheus niedergelassen hatte". Dieser Adler, so Saul Bellow in "Die Abenteuer des Augie March", "lebte nur für seine Bedürfnisse, deren fleischgewordenes Manifest" er war. Er schlägt mit den Schwingen, er blitzt mit den Augen und wendet den Blick, dessen Botschaft Augie zu entziffern versucht, niemals von diesem ab. I had his eye on me and his comment to try to read and will to feel: "Immer", so Augie, "spürte ich seinen Willen." Er ist der einsame Adler, König der Tiere: Wenn er sich aufschwingt und hoch oben kreist "wie über dem Feuer der Atmosphäre", so Bellow in seinem mächtigen und wilden Roman, hat es den Anschein, als regierte er von dort aus die Welt.

"Die Abenteuer des Augie March", Bellows Epos von 1953, das der Verlag Kiepenheuer & Witsch mehr als fünfzig Jahre nach Erscheinen der ersten deutschen Ausgabe nun zusammen mit "Herzog" und "Humboldts Vermächtnis", zwei weiteren Hauptwerken des 2005 verstorbenen Autors, in einer grandiosen Neuedition vorlegt, ist einer der bedeutendsten Romane der amerikanischen Nachkriegsliteratur. Philip Roth, der in Bellow und William Faulkner das "Rückgrat der amerikanischen Literatur im zwanzigsten Jahrhundert" sieht, bezeichnet ihn als "unseren ,Ulysses'". Für Martin Amis, der Bellows väterlichem Einfluss ebenso wenig zu entkommen vermag wie Ian McEwan in dem von einer großen Bewunderung für "Herzog" überschatteten Roman "Saturday", ist "Die Abenteuer des Augie March" schlichtweg the great American novel, diese "mythische Bestie, dieser Heilige Gral, dieses irdische Eden", auf das amerikanische Schriftsteller seit Generationen so selbstbewusst Anspruch erheben wie ein New Yorker Tellerwäscher auf den sprichwörtlichen Traum vom Glück. Bellows Roman ist ein Bruder von Melvilles "Moby-Dick", von Fitzgeralds "Großem Gatsby": Er ist vollkommen und schön, der poetische Höhenflug seines bei Veröffentlichung des Romans achtunddreißigjährigen Autors, und zugleich doch so gewaltig, so unförmig und maßlos wie die Geschichte von Ahabs Jagd auf den weißen Wal, aus deren Kielwasser uns Augies eigenwillige, die kollektive Obsession des materialistischen Existenzkampfes beharrlich unterlaufende Version des American Dream entgegenzuspülen scheint.

"Ich bin Amerikaner, geboren in Chicago – dem düsteren Chicago –, habe mir selbst beigebracht, wie man die Dinge in die Hand nimmt, nämlich unkonventionell" – freestyle, wie Bellows temperamentvoller Ich-Erzähler im Original seines berühmten ersten Satzes sagt –, "und werde auch auf meine Art Erfolg haben." Der Weg aus dem jüdischen Viertel von Chicago, dem der 1915 im kanadischen Lachine zur Welt gekommene und ab 1924 in Chicago aufgewachsene Bellow mit der genialischen, vom starken Licht seiner Erinnerungskraft ausgeleuchteten Imagination ein lebendes Denkmal setzt, führt Augie durch die ärmlichen Hinterhöfe der "Großen Depression", die Hinterzimmer kleiner Ganoven: von der Highschool ins Haus des Grundstücksmaklers William Einhorn, für den Augie eine Zeitlang als Sekretär und Begleiter arbeitet, von der Universität in die ebenfalls nur vorübergehende Anstellung als Gewerkschafter der CIO und in einer von Bellow mit der energischen Kraft eines Fernschnellzuges rasant vorangetriebenen Szenenfolge schließlich von Chicago nach Mexiko, wo sich Augie und die von ihm leidenschaftlich geliebte Thea Fenchel mit einem abgerichteten Weißkopfseeadler auf die Jagd nach Leguanen begeben.

Die lange Mexiko-Episode des Romans, in der Bellow das darwinistische, bislang in der industriellen Glut der Großstadt ausgetragene survival of the fittest unter gleißender Sonne fortsetzt, ist der spektakuläre Höhepunkt des Romans: eine erzählerische "tour de force", in deren Verlauf sich der junge Adler, den Thea bei dem brutalen Versuch, ihn ihrem zielstrebigen Willen zu unterwerfen, beinahe zugrunde richtet, allmählich als Schlüsselfigur des Romans zu erkennen gibt, deren von einer mythischen Aura umgebene Urgestalt tief in Bellows Denken verwurzelt ist. Caligula, wie Augie den Vogel schließlich nennt, ist Bellows kühner Gegenentwurf zu jenen "Nebenstraßen- und Nachbarschafts-Machiavellis", die Augie auf der Odyssee durch die zahlreichen Etappen seiner Lebensgeschichte als Rekrut ihrer Überzeugungen einzuspannen und zu beherrschen trachten: Er ist der in seiner wilden Kreatürlichkeit von keiner Machtgier korrumpierte Antipode der bei den Marchs zur Untermiete wohnenden Oma Lausch, die als "busshardhafte Bolschewikin" in liebevoller Tyrannei ihr Regiment über den kleinen Augie und seinen älteren Bruder Simon führt; der in seinem natürlichen Stolz von keinerlei menschlicher Verblendung fehlgeleitete Antagonist des gerissenen Entrepreneurs Einhorn, der Augie auf ähnliche Weise eine Rolle im Geschäft seines Lebens zuzuweisen sucht wie die wohlhabende, von Augies Adoption in ein privilegiertes Dasein träumende Mrs. Renling und die diversen anderen der von Bellow mit sprachgewaltiger Fabulierkunst lebensgroß gezeichneten Figuren, deren Einfluss sich der scheinbar willensschwach dahintreibende Augie letztlich immer wieder entzieht.

"Wann hat ein Blick je so viel Schaden angerichtet", sinniert Augie, als er noch geblendet ist von Thea Fenchels fehlgeleitetem Traum, den Adler zu domestizieren, um mit dem Verkauf gefangener Riesenleguane Geld zu verdienen, "wann haben Augen je einen so schrecklichen Despotismus ausgestrahlt?" Doch Caligulas vermeintlicher Despotismus entspringt in Wahrheit derselben "übermäßig großen Kraft, die man in die alten Vulkankrater zurückgedrängt hatte", und Bellow zelebriert den Adler schließlich als die Inkarnation jener Utopie des unschuldigen, von purer Lebensgier erfüllten Individuums, die auch der widerständige Ich-Erzähler des Romans instinktiv gegen die falschen Weltbilder, die man ihm aufzuzwingen droht, verteidigt. "Weil das Leben ringsumher so mächtig ist, weil seine Instrumente so groß und schrecklich, die Leistungen so gewaltig und die Gedanken so edel und bedrohlich sind, muss man ein Selbst erschaffen, das alldem gewachsen ist", so Augie, der Caligula rückblickend zum heimlichen Helden seiner Erzählung macht, da ihn der Vogel an den Triumph jener gelegentlichen Momente zu erinnern scheint, in denen es ihm gelang, die Welt gleichfalls "wie ein wildes Geschöpf" wahrzunehmen – frei von den Fesseln und der Last der menschlichen Existenz und den Ideologien, mit denen Oma Lausch oder William Einhorn und schließlich auch Thea Fenchel im Begriff waren, Oberhand über Augie zu gewinnen: "Das Bestreben des Menschen besteht immer nur darin, andere zur eigenen Version dessen zu bekehren, was die Wirklichkeit ist. Dann werden sogar die Blumen und das Moos auf den Steinen zu dem Moos und den Blumen einer bestimmten Version dieser Welt. Ja, und ich schien tatsächlich der ideale Rekrut zu sein", so Augie, der in seiner intuitiven Selbstbehauptung keinen Machtanspruch über andere erhebt und sich mit einem ähnlichen Freiheitsdrang zu den Abenteuern seines Lebens aufschwingt wie Caligula, der hoch am Himmel Saltos schlägt. "Aber die erfundenen Dinge", so Augie, "wurden niemals Wirklichkeit für mich."

Bellows Roman erzählt nicht nur von Augies Mühen, sich im Babel jener amerikanischen Wirklichkeit durchzuschlagen, die Charlie Citrine, der Erzähler von "Humboldts Vermächtnis", zwei Jahrzehnte später als "schwachsinniges Inferno" bezeichnet. "Die Abenteuer des Augie March" ist auch der Entwicklungsroman seines Autors, der in seinem dritten Buch alle Ketten sprengt, die ihn bei der Arbeit an seinem Debüt "Mann in der Schwebe" (1944) und dem drei Jahre später veröffentlichten Roman "Das Opfer" noch zurückgehalten hatten. In "Die Abenteuer des Augie March" bezwingt Saul Bellow den starken Formwillen, der diese beiden an Vorbildern wie Flaubert und Dostojewski scheiternden Romane heute eher konventionell erscheinen lässt, und erlöst den Antihelden des von Bellow schließlich als "Opfer-Literatur" bezeichneten zeitgenössischen jüdisch-amerikanischen Romans in die robuste, vom Heroismus seines unbezwingbaren Optimismus geleitete Figur des Augie March, dessen Stimme laut Philip Roth im weltlichen und demokratischen Amerika auf keinen Widerstand mehr stoße: "Dieses entschlossene Behaupten der ununterdrückbaren Mitbürgerschaft im Freistil-Amerika", so Roth über den selbstbewussten Duktus der pulsierenden, von Henning Ahrens virtuos ins Deutsche übertragenen Prosa, mit der Bellow der amerikanischen Literatur einen neuen Kontinent erschloss, "war ebenjener kühne Ton, der nötig gewesen war, um sämtliche Zweifel an den amerikanischen Schriftsteller-Referenzen eines Einwanderersohnes wie Saul Bellow auszuräumen." Als "eine Art Kolumbus des Naheliegenden", als der Augie sich am Ende des Romans beschreibt, ist er der Entdecker jener verwirrenden Terra incognita der amerikanischen Gegenwart, in der sich die Protagonisten der Romane "Herzog" und "Humboldts Vermächtnis" zu verlieren drohen.

"Sie haben eine Seele, nicht wahr, Moses?" In "Herzog", seiner 1964 veröffentlichten Meditation über den vom "faustischen Geist der Unzufriedenheit" heimgesuchten Gelehrten Moses Herzog, der ähnlich wie in "Humboldts Vermächtnis" der Schriftsteller Charlie Citrine aus der Unordnung seines Lebens zum Kern einer existentiellen Krise vordringt, zeichnet Bellow ein ironisches Porträt des unter der "knochenbrechenden Bürde von Selbstsein und Selbstentwicklung" strauchelnden modernen Menschen. Herzog hat seine akademische Stellung aufgegeben, auch die Ehe mit seiner zweiten Frau ist gescheitert. Er ist unfähig zur Arbeit, sein großes Werk über die sozialen Ideen der Romantik ist unvollendet, und schreibt stattdessen wie besessen Briefe an Zeitungen, an Personen des öffentlichen Lebens wie Präsident Eisenhower und Martin Heidegger, an Freunde und Verwandte – die lebenden wie die toten. Herzog ist "durch eine Gefühlsverwirrung behindert", er glaubt sich auf dem besten Weg, den Verstand zu verlieren und ist doch längst "auf der Spur von Dingen, die er erst jetzt und nur undeutlich zu begreifen" beginnt. "Schlimmes Handicap, eine Seele", so der geschäftstüchtige Mann einer ehemaligen Geliebten, die Herzog bei einem der Ausflüge besucht, die er in der realen Unterströmung des weitläufig delirierenden Gedankenflusses, der Bellows mitreißenden Roman ausmacht, zu diversen Nebenfiguren seines Lebens unternimmt.

Wie Charlie Citrine, der in "Humboldts Vermächtnis" der irren Intensität der amerikanischen Realität zu entkommen versucht und sich mit Unterstützung seines toten Freundes Von Humboldt Fleisher im expandierenden, lediglich auf äußere Wunder spezialisierten Wirtschaftsunternehmen Vereinigte Staaten auf die Suche nach einem "inneren Wunder" begibt, durchdringt auch Herzog auf seinem mäandernden Erkenntnisweg die von fremden Welt- und falschen Selbstbildern belebte Sphäre seines Lebens und kommt im stillen Triumph eines endlich sprach- und gedankenlosen Augenblicks schließlich zu sich selbst.

Herzog probiere in dem Roman nach und nach noch einmal alle Rollen aus, die ihm bisher Halt gegeben hätten, so Bellow über seinen Helden, der Augie Marchs Abenteuer der Selbstbefreiung, den Widerstand gegen die "Realitätslehrer", wie es in "Herzog" heißt, in der schwindelerregenden Höhe abstrakter Gedanken mit einem waghalsigen intellektuellen Drahtseilakt nachzuahmen scheint: "den Vater, den Liebhaber, den Ehemann, den Gelehrten, den Rächer. Er schlüpft hinein und streift sie sich ab wie Kleidung. Keine dieser Rollen passt ihm wirklich. Alle haben ihn in die Irre geführt", so Bellow, der Herzog und Citrine und Augie March am Ende ihrer Romane zumindest das Wissen um die Möglichkeit eines anderen, von der Last und der Verwirrung ihrer Zeit befreiten Lebens schenkt. You got a soul – haven't you, Moses. "Ja, ich glaube", so Bellow, "am Ende geht aus all diesem Unsinn eine Person hervor, wenn Herzog begreift, dass sein Leben eine viel größere, von ihm bisher ignorierte Bedeutung hat – eine transzendente Bedeutung." Can't dump the sonofabitch, can we? Terrible handicap, a soul. In Saul Bellows olympischem, 1976 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneten Werk vereint sich ein kritischer, vom reinen höheren Licht des akademischen Geisteslebens durchfluteter Rationalismus mit dem Mysterium einer ganz ursprünglichen Spiritualität. Saul Bellow war der vielleicht letzte bedeutende Metaphysiker der amerikanischen Literatur. "Wir betreten die Welt ohne vorherige Ankündigung, wir sind erschienen, bevor uns das Erscheinen bewusst sein kann", wie er in "Vettern und Kusinen" schreibt – an zentraler Stelle nicht nur dieser 1984 veröffentlichten Erzählung: "Ein ursprüngliches Ich existiert oder, wenn man das vorzieht, eine ursprüngliche Seele."

Und in gewisser Hinsicht sind natürlich auch Bellows Romane ihr eigenes, gleichsam ursprüngliches Ich, dessen sprachliche Urgestalt sich selbst in der gelungensten Übersetzung nicht wirklich zeigt. Dave Eggers attestiert Bellow "die schönsten, die musikalischsten Sätze", die er je gelesen habe. Jeffrey Eugenides spricht in seiner Einleitung zur amerikanischen Neuausgabe von "Humboldt's Gift" von einer Prosa, "die, in jedem Satz, von Erleuchtung berührt" sei. "Jeder Satz", so Eugenides, "leuchtet mit seiner eigenen Aura." Bellow ist der Autor eines unverwechselbaren, eines unverwechselbar amerikanischen Stils, dessen spektrale sprachliche Farbigkeit in den bisher lieferbaren, längst in die Jahre gekommenen Übersetzungen von "Die Abenteuer des Augie March", von "Herzog" und "Humboldts Vermächtnis" kaum noch zum Vorschein kam.

Es ist Bellows deutschem Verlag Kiepenheuer & Witsch daher hoch anzurechnen, diese drei schillernden Meisterwerke vom Staub der Zeit befreit zu haben und ihren bei uns ein wenig in Vergessenheit geratenen Autor als einen der großen Schriftsteller Amerikas in Erinnerung zu rufen. Henning Ahrens erlöst Augie March nun endlich von jenem historischen, im Eis der fünfziger Jahre gefrorenen Jargon, aus dem sich Bellows glühendes Original immer wieder ganz von selbst in eine neue Zeit befreit, und auch Bärbel Flads Überarbeitung der Mitte der sechziger Jahre von Walter Hasenclever besorgten Übersetzung rettet "Herzog" in die Gegenwart, die Bellows im kristallinen Bewusstsein seines verirrten Helden dahinschwebende Erzählung im Englischen nie verlassen hat.

Es ist jedoch Eike Schönfelds fulminante, wie eine strahlend phosphoreszierende Membran aufgespannte Übersetzung, durch die man am tiefsten in Bellows Werk zu blicken meint. "Humboldts Vermächtnis" ist Bellows wilder Totentanz, ein vom grellen Schein der Vergänglichkeit illuminiertes Schauspiel, "so überdreht und karnevalesk" – Roth – "wie kein anderes" von Bellows Büchern, und Schönfeld legt in seine Übersetzung so viel Mut, so viel Freiheit und deshalb letztlich so viel Leben, wie man es vielleicht nur im Angesicht des Todes wagen kann.

"Wenn das Leben nicht berauschend ist, ist es gar nichts", so Von Humboldt Fleisher, dessen Vermächtnis schließlich nicht nur Bellows todesfürchtigen Ich-Erzähler Charlie Citrine in die Schwerelosigkeit eines höheren Bewusstsens enthebt. "Entweder man brennt, oder man verfault." Here it's burn or rot. Aber in "Humboldts Vermächtnis", in "Herzog" und "Die Abenteuer des Augie March" schenkt Saul Bellow seinen Lesern einen berauschenden Anblick ihrer Seele, und sie fliegt hoch wie der Adler über den täglichen Schicksalen der Menschen.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21.03.2009 Seite Z5

Vom „Bösen“ spricht man nicht

Was die Kirchen zum Amoklauf zu sagen haben / Von Thomas Jansen

Frankfurt, 20. März. Warum konnte es zu einer Schreckenstat wie dem Amoklauf von Winnenden kommen? Wer auf diese Frage in den vergangenen Tagen eine Antwort suchte, konnte sich über einen Mangel an psychologischen, soziologischen und pädagogischen Beiträgen nicht beklagen. Und auch an Vorschlägen, wie solchen Taten künftig vorzubeugen sei, fehlte es nicht: strengere Waffengesetze, mehr Schulpsychologen und ein Verbot von gewaltverherrlichenden Computerspielen. Doch wer sich fragte, ob in dem Amoklauf vielleicht nicht doch auch Grundsätzlicheres zum Vorschein gekommen sein könnte als eine laxe Handhabung der Waffengesetze oder eine Überforderung des Täters durch seine Eltern, etwa das, was Theologen das Böse oder die Sünde nennen, sah sich weitgehend alleingelassen.

Es war der baden-württembergische Kultusminister Helmut Rau, der als erster Politiker in einer größeren Öffentlichkeit den Amoklauf als Manifestation des Bösen bezeichnete. Das Böse sei ausgebrochen, und es sei vorher nicht zu erkennen gewesen, sagte Rau einen Tag nach dem Amoklauf im Zweiten Deutschen Fernsehen. Ein Patentrezept, so lautete seine Schlussfolgerung, mit dessen Hilfe sich Taten wie die des Tim K. verhindern ließen, gebe es nicht. Dass der praktizierende Protestant Rau, von Haus aus nicht etwa Theologe, sondern Anglist und Politologe, kaum Nachahmer unter seinesgleichen fand, lässt sich noch leicht erklären: Das Eingeständnis der eigenen Ohnmacht ist für Politiker, die vom Wähler normalerweise an ihren Taten oder zumindest an ihren Forderungen gemessen werden, meist mit einem Risiko behaftet.

Verwunderlicher ist es schon, dass auch Kirchen und Theologen in ihren Äußerungen den Begriff des Bösen meist übergingen oder allenfalls am Rande erwähnten. In den Stellungnahmen des EKD-Ratsvorsitzenden Bischof Huber und des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Zollitsch, findet sich kein Hinweis darauf, dass es in beiden Kirchen durchaus so etwas wie eine Lehre vom Bösen gibt. Man wolle Schmerz und Fassungslosigkeit "Raum geben" sagte Huber. Die Tragödie übersteige die "menschliche Vorstellungskraft", sagte Zollitsch. Der Landesbischof der Evangelischen Kirche in Württemberg, July, erinnerte angesichts des Amoklaufs in einem Beitrag für die Wochenzeitung "Rheinischer Merkur" an die christliche Rede von Schuld und Vergebung und zitiert die entsprechende Bitte aus dem Vaterunser. Eine andere Bitte aus diesem wichtigsten Gebet der Christenheit, "und erlöse uns von dem Bösen", erwähnt er hingegen nicht. Auch im ökumenischen Gedenkgottesdienst am Mittwoch vergangener Woche in Winnenden, an dem unter anderen der Bischof von Rottenburg-Stuttgart, Fürst, teilnahm, tauchte der Begriff des Bösen nur einmal kurz auf, von der Sünde war, bezogen auf den Amoklauf, überhaupt nicht die Rede. Im "Wort zum Sonntag", dem kirchlichen Forum mit der größten Breitenwirkung, sprach eine evangelische Pfarrerin darüber, wie sie mit ihren Konfirmanden die Passionsgeschichte gelesen hat, und schlägt anschließend einen Bogen zum Amoklauf. Auch sie kommt ohne "das Böse" und "die Sünde" aus.

Schließlich gab es auch kirchliche Stellungnahmen, die sich nahtlos in die politische Debatte einfügten. Die hannoversche Bischöfin Käßmann sprach sich in einem Gespräch mit der Zeitung "Neue Presse" dafür aus, dass Schulen mehr Sozialpädagogen beschäftigen und die Klassenstärken verringert werden sollten.

Warum machten Vertreter beider Kirchen nach dem Amoklauf von Winnenden einen solch großen Bogen um den Begriff des Bösen? Weil er für die christliche Botschaft eben doch nicht entscheidend ist? Weil sie den richtigen Zeitpunkt noch nicht für gekommen hielten oder weil sie fürchteten, das Vokabular könne die Menschen abschrecken? Der fehlende Anlass kann es jedenfalls nicht gewesen sein.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21.03.2009 Seite 6


 

Im Gespräch: Joachim Wanke, Bischof von Erfurt "Das Geheimnis des Bösen ist unerklärbar"

Bischof Wanke, woher kommt das Böse in der Welt?

Die Frage nach der Herkunft des Bösen angesichts eines guten Gottes bleibt für den Menschen ein dunkles Rätsel. Manche Begleitumstände einer bösen Tat, wie jetzt wieder der Amoklauf in Winnenden, mögen sich begreiflich machen lassen. Doch vor dem harten Kern der Fragen Was ist das Böse? Woher kommt es? bleiben wir ratlos.

Gott ist also gut, der Mensch böse?

Wenn wir Christen ein dualistisches Weltbild ablehnen, in dem das Böse gleich ursprünglich wäre wie das Gute, aber auch ein Weltbild, in dem das Böse seinen Ursprung in Gott selbst hat, dann bleibt nur der Weg, eine auf Freiheit und Entscheidung ruhende Verneinung des Guten als Quellgrund des Bösen anzusehen. Dieser "Mangel" an Bejahung des Guten kann unterschiedliche Gestalt annehmen, nicht nur eine individuelle, sondern auch eine strukturelle, die man mit dem Stichwort "Verblendungszusammenhang" kennzeichnen könnte.

Gibt es nur "das Böse" oder auch "den Bösen"?

Wenn eine Freiheitstat am Anfang des Bösen steht, wird verständlich, dass im christlichen Glauben "das Böse" immer auch eine personale Dimension hat. Doch ist die Rede von der Personalität des Bösen, etwa als Satan oder Teufel, nicht mit menschlichem Person-Sein gleichzusetzen. Wo es nur noch reine Verneinung gibt, kann es an sich keine Personalität, keine Kommunikation geben. Für mich ist das Böse so etwas wie ein "schwarzes Loch", das alles in sich verschlingt, aber keinen Lichtstrahl aus sich herauslässt.

In allen europäischen Sprachen ist das Wort für "Teufel" aus dem griechisch-biblischen Wort "diábolos" abgeleitet. Gäbe es ohne das Christentum den Teufel nicht?

Religionsgeschichtlich gesehen, ist der Teufel kein Eigengut des Christentums. Auch das, was mit dem Wort Sünde bezeichnet wird, ist anderen Religionen durchaus bekannt. Für das Christentum eigentümlich ist die Einordnung der mit Teufel und Sünde bezeichneten Wirklichkeiten in das Ganze der christlichen Welt- und Heilssicht.

Das "Vater unser", das von Jesus überlieferte Grundgebet der Christenheit, endet mit der Bitte um Erlösung "von dem Bösen". Warum?

Weil Jesus – wie der Evangelist Johannes bemerkte – "wusste, was im Menschen ist". In jedem Menschen, auch dem heiligsten, steckt eine Potenz der Verneinung, eine Möglichkeit, sich dem Leben zu verweigern.

Was ist mit der Rede von der "Erbsünde" gemeint? Ist das Böse immer schon als Möglichkeit im Menschen, oder kommt es von außen in ihn hinein?

Die Rede von der Erbsünde, als theologisches Denkmodell besonders von Augustinus entwickelt, will die grundsätzliche Erlösungsbedürftigkeit jedes Menschen festhalten. Übrigens hat Erbsünde nichts mit Geburt und Fortpflanzung zu tun. Die Heilige Schrift will mit ihren Erzählungen vom Paradies aussagen, dass der Mensch von seinem Schöpfer ohne Sündenanfälligkeit gedacht ist. Durch eine Anfangsentscheidung des freien Menschen, wie immer diese auch zu denken ist, sind alle Menschen in "Mithaftung" genommen. Dieses Phänomen der "Einschließung unter die Sünde" (wie Paulus das nennt) ist uns nicht fremd, denken wir nur an politische und sonstige Mithaftung für Verhältnisse, die ich persönlich nicht verursacht habe, die ich aber mitzutragen habe.

Im Johannes-Evangelium heißt es von dem Teufel, er sei der "Herrscher dieser Welt". Was ist damit gemeint?

In der Sprache des Johannes ist "Welt" die Chiffre aller Gottfeindlichkeit. Jesus entmachtet durch sein Kommen jede gottwidrige Herrschaft. Die Bibel rechnet mit der Herrschaft Satans, weiß ihn aber durch Jesus besiegt, so wie ein feindliches Heer besiegt ist, aber man durchaus noch im Nachhutgefecht mit dem schon besiegten Gegner fallen kann.

Während der Feier der Taufe und der Feier der Osternacht werden die Gläubigen gefragt, ob sie "dem Satan widersagen". Warum?

Weil die Unterstellung unter das schon hier und jetzt in jedem Glaubenden angebrochene Reich Gottes einer Entscheidung bedarf. Der Ruf in die Nachfolge Christi spricht die Freiheit des Menschen an, die von Gottes zuvorkommender Gnade umfangen wird. Darum gehört von Anfang an das Taufgelöbnis mit der Absage an den Satan zum Taufritus. In der Feier der Osternacht wird dieses Gelöbnis gleichsam aktualisiert.

Die Auferweckung Jesu von den Toten deutet die Kirche als Sieg über Sünde und Tod. Die Geschichte der Menschheit spricht eine andere Sprache.

Hier mag der Vergleich mit dem helfen, was 1989/90 politisch im Osten passiert ist. Die Bedingungen für ein freies, selbstbestimmtes Leben waren nach der friedlichen Revolution gegeben, aber nicht alle haben die damit gegebenen Möglichkeiten ergriffen. Ostern ist für mich so etwas wie ein "Herrschaftswechsel". Natürlich hinkt der Vergleich, weil er innerhalb menschlicher Geschichte bleibt. Diese ist noch nicht in Gottes Welt endgültig eingemündet, wie manche Ideologien, auch manche Terroristen uns glauben machen wollen. Trotz der bitteren Erfahrungen aus Geschichte und Gegenwart gilt für den Christen: Gott hat im Auferstandenen einen schöpferischen Neuanfang gesetzt: Das Alte ist vergangen – siehe, Neues ist geworden. Das kann freilich nur Gott. Aus dieser Perspektive vermag man auch in der Dunkelheit österlich zu leben.

Im Neuen Testament ist weitaus häufiger als im Alten Testament von "Dämonen" die Rede und von Menschen, die von unreinen Geistern "besessen" sind. Ist das eine zeitbedingte, einem längst überholten Weltbild verpflichtete Rede oder eine heute noch gültige Einsicht in die Befindlichkeit des Menschen?

Die Bibel ist kein Lehrbuch der Psychologie, und natürlich ist ihre Sprache von zeitbedingten Vorstellungen geprägt. Auch wir haben heute "Vorurteile", die anzufragen sind, etwa den grassierenden Unschuldswahn. Dass freilich ein Mensch "besetzt" sein kann, ist für mich außerhalb jedes Zweifels. Man muss jedoch aufpassen: Die Rede von Besessenheit streift schnell die Grenze zum Aberglauben. Wir wissen um die furchtbaren Folgen etwa des Hexenwahns.

Kardinal Ratzinger hat 1983 vor einer "rationalistisch verflachten Theologie des Teufels und der Welt der Dämonen" gewarnt, sollten beide nur noch als Chiffre für die inneren Gefährdungen des Menschen dienen. Ist diese Warnung noch immer aktuell?

Ohne Zweifel, wie mein Hinweis auf den "Unschuldswahn" zeigt. Der Mensch ist nicht nur durch persönliche Schuld gefährdet, sondern auch durch "Strukturen des Bösen". Was das sein könnte, erahnt man als aufmerksamer Betrachter des Zeitgeschehens durchaus. Die Rebellion gegen Gottes Schöpfungsordnung ist alles andere als ein Kavaliersdelikt. Sie gibt dem Bösen gleichsam ein Gesicht. Freilich geht das Böse nicht völlig in Einzelpersonen und deren Bosheit auf. Für mich ist die Redeweise vom Teufel ein bleibendes Festhalten am Geheimnis des Bösen, das letztlich unerklärbar ist. Aber noch einmal: Wer verloren in einer Eisspalte liegt, sinnt nicht über deren Ursprung nach. Er müht sich vielmehr, mit allen Kräften die rettende Hand zu ergreifen, die sich ihm entgegenstreckt.

In welchen Gestalten begegnet Ihnen das Böse?

Vor allem im eigenen Leben, in dem sich immer wieder die Täuschung breitmacht, selbst Gott sein zu können. Es begegnet in Taten der Inhumanität, die menschliche Würde, die das Leben selbst zerstören. Es begegnet in Verhältnissen, in denen Freiheit unterbunden, die Wahrheit unterdrückt und jede Hoffnung auf Veränderung zum Guten geraubt wird. Freilich ist zu bedenken: Dort, wo das Licht stärker wird, werden auch die Schatten tiefer. Das Böse ist ein Epiphänomen. Es begleitet das Gute, das es gottlob nie verschlingen kann.

Wie kann man diese Wirklichkeit überwinden?

Durch die Demut, von jedem ideologischen Experiment zu lassen, die Welt mit Gewalt gut zu machen. Bischof Franz Kamphaus hat das Wort geprägt: Religion ist dazu da, Gott zu verehren, nicht Gott zu spielen. Die Anerkennung Gottes und das Vertrauen auf ihn als Quelle alles Guten ist eine Hilfe, an der Welt, so wie sie ist, nicht zu verzweifeln, sondern im Gegenteil: immer wieder neu Biotope des Guten zu bauen.


 

      Das Gespräch mit dem Bischof von Erfurt führte Daniel Deckers.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21.03.2009 Seite 6

Was treibt junge Mädchen in den Tod?

Amerikanische Teenager haben Jay Ashers Roman "Tote Mädchen lügen nicht" verschlungen. Jetzt erscheint das Jugendbuch über den Selbstmord einer Schülerin auf Deutsch.

In diesen Tagen kommt in Deutschland ein Buch heraus, das keine Expertenstudie, kein statistisches Nachschlagewerk, sondern ein Jugendroman ist. Er heißt "Tote Mädchen lügen nicht", und sein Autor ist der dreiunddreißigjährige Kalifornier Jay Asher. Seit das Buch im Oktober 2007 in den Vereinigten Staaten erschien, hat es sich dort gut hundertsechzigtausendmal verkauft, und das, obwohl es anfangs kaum Verlagswerbung gab: Teenager haben vielmehr Teenagern davon erzählt. "Thirteen Reasons Why", so der Originaltitel, ist im amerikanischen Handel immer noch ausschließlich als Hardcover erhältlich. Es war bis auf den dritten Platz der "New York Times"-Bestsellerliste gerückt. Seine Rechte sind inzwischen in vierzehn Länder verkauft worden. In Deutschland trifft der Roman auf ein Publikum, jung wie alt, das sich beim Lesen wahrscheinlich kaum von den Ereignissen in Winnenden lösen kann – auch wenn es gar nicht um ein "High School Shooting" geht, sondern um den Selbstmord einer Schülerin.

Am Montag hat Alice Schwarzer, die Herausgeberin der Zeitschrift "Emma", einen streitbaren Artikel über Winnenden veröffentlich. Sie hat den Amoklauf "das erste Massaker mit dem Motiv Frauenhass in Deutschland" genannt – weil von den neunzehn toten und verletzten Opfern in der Albertville-Realschule achtzehn weiblich gewesen seien. Auf der Flucht habe der Täter dann wahllos und auch auf Männer geschossen. "Tim K. soll ,Depressionen' gehabt haben", schreibt Alice Schwarzer. "Wir alle kennen depressive Frauen. Morden sie? Nein, höchstens sich selbst."

Morden sie? In den Tagen seit den Ereignissen von Winnenden hat man zwei andere Fragen wieder und wieder gehört. Die eine lautet: Hätten wir die Warnsignale des Schulamokläufers rechtzeitig erkennen können? Und die andere: Warum sind es eigentlich immer Jungs oder junge Männer? Experten haben daraufhin erklärt, dass es sehr wohl Amokläuferinnen gibt, wenn ihre Zahl auch gering ist: Eine Studie aus dem Jahr 2006, die neunundneunzig Amokläufe an Schulen auf der ganzen Welt seit 1974 aufgeschlüsselt hat, zeigt, dass es viermal Täterinnen waren. Und obwohl die Gewaltbereitschaft junger Mädchen zuletzt gestiegen ist, was wiederum andere Studien belegen: Die Aggression psychisch belasteter Frauen, und das bringen Alice Schwarzers bittere Worte zum Ausdruck, scheint sich also eher nicht nach außen, sondern nach innen zu richten. Doch auch Jungen, dass darf man dabei nicht vergessen, begehen Selbstmord. Sie tun es sogar häufiger als Mädchen.

In "Tote Mädchen lügen nicht" geht es um einen jungen Menschen, der sich isoliert fühlt, jedes Vertrauen verliert und irgendwann beschließt, in den Tod zu gehen – aber nicht ohne noch zu dokumentieren, welche Signale es für diesen Selbstmord gegeben hat. Ihr hättet es erkennen können, diese Botschaft hinterlässt die junge Hannah Baker dreizehn Menschen aus ihrem Umfeld: zwölf Mitschülern und einem Lehrer. Ihr hättet mich aufhalten können, denn die Signale waren da, als ich mir die Haare abschnitt und auf Gängen herumgeschrien habe. Ihr hättet nur hinsehen, hinhören müssen, ihr hättet nur einmal nachdenken müssen, was ihr mir antut. Dann hättet ihr vielleicht verhindern können, dass es so weit kommt und ich Tabletten nehme.

Aber dazu ist es nun zu spät. Und daher müssen die dreizehn Menschen, die Anteil am Schicksal Hannahs hatten, dem Mädchen zwei Wochen nach seinem Freitod so genau zuhören, wie sie es vorher eben nicht taten: Hannah Baker hat vor ihrem Tod Kassetten besprochen, dreizehn Stück, für jeden eine: für den Jungen, der sie zum ersten Mal küsste und danach bei seinen Freunden damit prahlte; für das Mädchen, das sie benutzte, um selbst heller strahlen zu können; für einen anderen Jungen, der ihr Briefgeheimnis brach; für einen dritten Jungen, der ungefragt ein Gedicht von ihr druckte und an der Schule verteilte; für eine Freundin, die keine war; und schließlich für den Lehrer, der ihr riet, doch einfach auf sich beruhen zu lassen, was sie umtrieb, und der in seinem Büro sitzen blieb, als Hannah aufstand und sagte: Ich schließe jetzt mit meinem Leben ab. Dreizehn größere und kleinere Verletzungen kommen so zusammen. Erst in der Summe der Teile wird ein Bild daraus, das nur Hannah erkannte, die anderen aber nicht, aus Teilnahmslosigkeit, Arroganz, Dummheit – oder weil es zu schwer war, die Verletzung überhaupt zu erkennen.

Jay Asher hat es weder sich noch seinen Figuren leichtgemacht. Er hat auch Hannah Baker als ungerecht, unfair und unzugänglich beschrieben: Das bewahrt sein Buch davor, eine banale Anleitung zum Seelenklempnern zu sein. Das ist vielleicht auch das Geheimnis, warum das Buch an amerikanischen Highschools von Hand zu Hand wanderte. Es ist nicht pädagogisch, nicht altklug, nicht berufsjugendlich, es ist kompliziert. Was hat "Tote Mädchen lügen nicht" inspiriert, warum rückt einem das Buch so nah? "Mich hat die Geschichte einer jungen Verwandten beschäftigt, die sich das Leben zu nehmen versucht hat", erzählt Jay Asher im Gespräch. Und dass er sich mit seiner Frau und anderen Freundinnen hingesetzt hat und sie fragte, was in deren Schulzeit geschehen sei, das sie nicht bewältigen konnten. Gerüchte, antworteten sie, Gerede, Rufmord und Klatsch. Als er selbst noch in der Highschool war, hat Asher an einem Präventivkurs zur Verhinderung von Selbstmorden teilgenommen. Auch im Buch wird eine Broschüre verteilt, die "Warnsignale suizidgefährdeter Menschen" heißt. "Ich wollte, dass es kein zu großes Ereignis ist, das Hannah umtreibt", sagt Asher. "Ich wollte, dass es viele kleine Dinge sind." Ein Herz, das immer wieder bricht, und mit jedem Mal wird der Knacks größer.

Natürlich hat Jay Asher von den Ereignissen in Winnenden gehört, die Bilder waren auch auf CNN zu sehen, weil jedes "High School Shooting" außerhalb des Landes die Amerikaner offenbar darin versichert, nicht allein mit diesem Phänomen zu sein (sie führen die eingangs genannte Statistik von 2006 mit großem Vorsprung an). Asher versteht auch, warum sein Jugendbuch in eine ungefähre Nähe zu dem Unglück rückt, er selbst aber sieht Parallelen zu einem ganz anderen Fall: Megan Meier, ein Mädchen mit Zahnspangen aus einem Vorort von St. Louis, erhängte sich im Oktober 2006 in ihrem Kleiderschrank, nachdem sie auf ihrer MySpace-Seite von einem Jungen namens Josh Evans gemobbt worden war. "Die Welt wäre ein besserer Ort ohne Dich", lautete Joshs letzter Eintrag. Vorher hatte er über eine längere Zeit im Netz mit Megan geflirtet. Nur: Diesen Jungen gab es gar nicht. Eine Nachbarstochter hatte sich "Josh Evans" gemeinsam mit ihrer Mutter und einer Bekannten ausgedacht. Dass Megan Psychopharmaka nahm, hatten die Beteiligten offenbar gewusst. Die Nachbarsmutter ist im vergangenen November wegen Computerbetrugs verurteilt worden – es war der erste amerikanische Prozess gegen "Cyberbullying" überhaupt. Auch bei Megan, sagt Jay Asher, habe kein großes Ereignis den Anstoß gegeben, sondern ein Satz: dahingesagte Worte für andere, für das dreizehnjährige Mädchen der letzte Treffer.

Es wundert nicht, dass in Amerika nach Megan Meiers Selbstmord heftig über das Internet und seine anonyme Grausamkeit diskutiert wurde, genau wie man jetzt im Fall Winnenden im Computer von Tim K. nach Spuren gesucht hat. In "Tote Mädchen lügen nicht" allerdings spielt das Internet überhaupt keine Rolle. Das Wort fällt auf den 283 Seiten des Buchs kein einziges Mal. Dafür spielen Postkarten eine Rolle, Briefchen, Listen, Schuljahrbücher, Gedichte: Asher hat eine analoge Geschichte geschrieben. Hannah Baker verschickt ein Paket mit Kassetten, die, so verfügt sie, von Adressat zu Adressat weitergereicht werden sollen – andernfalls habe sie dafür gesorgt, dass ihr peinlicher Inhalt veröffentlicht werde. Das ist das Erzählmodell des Buchs, angeregt, sagt Jay Asher, von Audioguides, wie sie seit einiger Zeit in Museen verteilt werden und Besucher über eine Stimme im Kopfhörer von Artefakt zu Artefakt leiten. Hannah hat auch eine Karte beigelegt, die ihre Zuhörer (und den Leser) an die Orte des Geschehens führt und immer näher heran an ein dunkles Geheimnis, an eine Mitschuld Hannahs bei einem anderen Verbrechen, dessen Zeugin sie war, ohne einzugreifen.

Liest Jay Asher aus seinem Debüt an Schulen oder in Buchläden vor, stehen nachher Jungs und Mädchen bei ihm an, um davon zu erzählen, wie sie die Lektüre verändert habe. Einige gründeten Diskussionsrunden und Buchclubs an ihren Schulen. Andere sendeten E-Mails: "Ich habe bestimmte Stellen in Hannahs Geschichte angestrichen", schrieb ein Mädchen, "und meinem Cousin geschickt. Er hat mir dann die Hilfe besorgt, die ich brauchte, um mit meiner Depression fertig zu werden." Ein anderes Mädchen gestand: "In den letzten Jahren habe ich mit dem Gedanken an Selbstmord gekämpft, alles, was Sie erwähnt und gezeigt haben, war so genau: die Gerüchte, die Jungs, das Drama, alles. Und ich habe mich so viel besser gefühlt, weil ich wusste, dass jemand es versteht." Und ein Junge schrieb: "Ich war sehr gemein zu anderen, ein Schwein. Seit Ihrem Buch habe ich begonnen, anderen zuzuhören und höflicher zu sein."

Ein Mann hat "Tote Mädchen lügen nicht" geschrieben, ein Junge erzählt es: Clay, der in Hannah verliebt war und sie vielleicht in ihn, aber als die beiden das merkten, war es zu spät und Hannah schon zu weit abgetrieben, um noch erreichbar zu sein. Der Roman endet damit, dass Clay einem anderen Mädchen, einem Drifter mit komischen Haaren, nachläuft. Er weicht nicht mehr aus, er nimmt Kontakt auf. In der entscheidenden Passage, als Clay das Geheimnis Hannahs erfährt, bricht er, den Walkman auf den Ohren, im Auto eines Freundes zusammen. Da sitzen die beiden nebeneinander, fast wortlos, fast reden sie, aber noch nicht richtig. Und deshalb beginnt in diesem Buch auch eine andere Geschichte, die jetzt weitererzählt werden muss, jenseits des Papiers, und die handelt von Jungs.       Tobias Rüther

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.03.2009 Seite 33