Sonntag, 13. Dezember 2009

Obamas gemischte Bilanz

Fremde Federn: Robert B. Goldmann

Wenn auch die Umfragezahlen leicht gefallen sind, bleibt Präsident Obama beliebt, und das gilt nicht nur für Amerika, sondern auch für das Ausland. In linksliberalen Kreisen Amerikas wäre es geradezu Majestätsbeleidigung, sich negativ über ihn zu äußern.

Nach den acht Bush-Jahren hat Obama zugunsten Amerikas viel erreicht. Sein Charisma ist unbestreitbar, seine Familie bereichert diese Ausstrahlung, und auf seinen Reisen hat der Präsident die Interessen der Vereinigten Staaten verteidigt, ohne dabei provozierend zu wirken. Aber es hapert an konkreten Ergebnissen, sei es im Blick auf das iranische Nuklearprogramm oder im Nahostkonflikt: Hier hat Obama Israel deutlich gemacht, was er fordert; von den Palästinensern und arabischen Ländern, die hilfreich sein könnten, hat er dagegen wenig verlangt.

In Russland gab es ein freundliches Gespräch mit Präsident Medwedjew, aber die Unterredung mit Ministerpräsident Putin verlief gespannt. In Italien hat sich die G8 in der Klimapolitik auf bescheidene Richtlinien geeinigt, ist aber in Wirtschaftsdingen nicht weitergekommen. In Ghana verurteilte der Präsident mit klaren Worten Korruption und Diktatur in Afrika.

Was Bush zu viel und zu oft tat – die Demokratie zu preisen und sie Ländern mit anderer politischer Kultur dringend zu empfehlen –, tat Obama zu wenig. Klare Äußerungen fehlten nicht nur gegenüber der Verzögerungstaktik Teherans, sondern auch zur brutalen Niederschlagung der Demonstrationen in den Städten Irans gegen das Ergebnis der Präsidentenwahl.

Innenpolitisch kommt die Regierung nur schwer voran. Die vielen Milliarden des Konjunkturpakets zeigen nach fünf Monaten enttäuschende Ergebnisse. Die von Obama als höchste Priorität geplante Reform des Gesundheitswesens wird bescheidener ausfallen, als es der Präsident geplant hatte. Die Arbeitslosigkeit steigt unerbittlich, Washington ist jetzt Hauptaktionär von General Motors, und die Börsenkurse dümpeln dahin. Beunruhigend ist der steigende Schuldenberg, der weitgehend von China finanziert wird.

Obama hat erstklassige Mitarbeiter und Berater, und er selbst strahlt Zuversicht aus. Aber man fragt sich, ob er nicht mehr erreichen könnte, wenn er nicht alle Probleme gleichzeitig in Angriff nähme.

Schließlich sollte sich Obama Gedanken über die eine Woche lang fast ununterbrochene Beschäftigung der Medien mit Michael Jackson machen. Es ist an der Zeit, dass er gegen die Infantilisierung dieser Gesellschaft das Wort ergreift. Es ist ein Missverhältnis, dass endlos über den "König des Pop" berichtet wird, während über den Einsatz amerikanischer Soldaten in Afghanistan kaum öffentlich diskutiert wird. Der einflussreichste Präsident seit Franklin Roosevelt hat auch die Pflicht, dieser Generation zu erklären, dass sie sich auf lange Zeit schwerwiegenden Herausforderungen stellen muss. Ohne Ernst und Verantwortung geht das nicht.


 

Der Autor ist freier Journalist und lebt in New York.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.07.2009 Seite 8

Wo heute Lärm ist, war einst Magie

Das Theater kann der selige Schlupfwinkel der Kindheit sein oder das traurigste Gewerbe. Bei Michael Kehlmann, meinem Vater, war es ein Hort des Erzählens – bis das Erzählen aus der Mode kam. "Die Lichtprobe": Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele Von Daniel Kehlmann

Das bürgerliche Leben", sagte Max Reinhardt in einer Rede an der Columbia University, "ist eng begrenzt und arm an Gefühlsinhalten. Es hat aus seiner Armut lauter Tugenden gemacht, zwischen denen es sich schlecht und recht durchzwängt." Im Ungenügen also an dem einen Dasein, das uns gegeben ist, an der Mangelhaftigkeit unserer Gefühle, der Begrenztheit der Wege, die uns offen stehen, sah der Mitgründer dieser Festspiele die Wurzel unserer Faszination für das Theater. "Wir alle tragen die Möglichkeit zu allen Leidenschaften, zu allen Schicksalen, zu allen Lebensformen in uns." Wo aber das Theater die Berührung mit der existentiellen Wahrhaftigkeit verliere, bleibe leeres Spiel und, schlimmer noch, blanke Langeweile. "Das Theater kann, von allen guten Geistern verlassen, das traurigste Gewerbe, die armseligste Prostitution sein."

Ich hörte diese Rede zum ersten Mal als Kind auf einer Langspielplatte meines Vaters. Das mit dem traurigsten Gewerbe verstand ich nicht ganz, schon weil ich nicht so recht wusste, was das Wort Prostitution bedeutet, das über die Armut des bürgerlichen Lebens aber verstand ich sehr wohl: Natürlich sehnte ich mich nach anderen Möglichkeiten und danach, mehr als ein Leben zu führen, alle Kinder tun das, werden sie erwachsen, verdrängen sie es, es sei denn, sie werden Schauspieler oder sie schreiben. Wenn Reinhardt das Theater "den seligsten Schlupfwinkel derer" nennt, "die ihre Kindheit heimlich in die Tasche gesteckt und sich damit auf und davon gemacht haben", so fand ich genau diesen Schlupfwinkel in den Büchern, im Erfinden, in der kontrollierten Flucht in die Phantasie, die jeder Roman bietet. Vom Theater aber hielt ich mich lieber fern.

Das hatte mit meinem Elternhaus zu tun. Mein Vater war Regisseur, und das Theater gehörte nun einmal zu seiner Welt, zum Bereich seiner Zuständigkeit, dem ich als Sohn, der etwas Eigenes sein und tun wollte, lieber nicht zu nahe kam. Gerade als einer, der unter Schauspielern aufgewachsen ist, jenen stets angenehmen und doch so verzweifelt des Zuspruchs bedürftigen Menschen, hatte ich schon früh das Gefühl, dass es gut für mich wäre, mein Leben in anderem Umfeld zu verbringen.

An meinem ersten und größten Theatererlebnis waren allerdings gar keine Schauspieler beteiligt. Ich war vier Jahre alt, mein Vater probte im Wiener Theater an der Josefstadt, meine Mutter und ich waren aus München gekommen, ihn zu besuchen. Eines Morgens nahm er mich mit zur Beleuchtungsprobe. Ich sehe noch den leeren Zuschauerraum vor mir, die leere Bühne bei offenem Vorhang. Mein Vater rief etwas nach oben, und plötzlich begann sich ein riesiger Kristallluster – mir jedenfalls kam er riesig vor – aufleuchtend aus der Dunkelheit herabzusenken. Der gewaltige Raum wurde hell. Mein Vater rief wieder etwas, der Luster stieg auf, die Schatten wurden länger, und schließlich war der Luster im Schwarz der Decke verschwunden. Ich wusste natürlich nicht, dass sich das allabendlich ereignete; ich glaubte wirklich, es wäre nur für mich und zum ersten Mal geschehen. Ich war erschrocken und glücklich. Keine Theateraufführung kam je an diesen Vormittag heran.

In den nächsten Jahren sah ich viele Inszenierungen meines Vaters, die meisten als Fernsehaufzeichnungen, nurmehr wenige auf der Bühne, bis sein Leben Ende der achtziger Jahre eine traurige Wendung nahm: Lange Zeit war er einer der erfolgreichen Regisseure des deutschsprachigen Fernsehens und Theaters gewesen – übrigens arbeitete er auch bei den Salzburger Festspielen –, nun aber, mit verblüffender Geschwindigkeit, geriet er aus der Mode und in Vergessenheit.

Von seinem Vater zu lernen ist ja immer eine zweischneidige Sache. Man möchte doch eigenständig sein, instinktiv lehnt man Lektionen des Elternhauses ab und sucht seine Lehrer so fern davon wie möglich. Als mich vor kurzem ein Germanist darauf hinwies, dass die Hauptfigur meines ersten Romans vaterlos ist, ein Mann ohne Herkunft und Abstammung, so verblüffte es mich selbst, wie sehr man das, was ich damals für spielerische Erfindung hielt, als Absichtserklärung des beginnenden Autors lesen kann: niemandem verpflichtet und von keinem überschattet sein, von nirgendwo herkommen. Aber in Wirklichkeit ist es bekanntlich nie so, und Stunden, ja Tage würden nicht ausreichen, um auch nur einen Teil der Schuld zu umreißen, die ich Michael Kehlmann nicht nur als Mensch – das ist selbstverständlich und braucht hier nicht erklärt zu werden –, sondern als Künstler, als Gestalter, als Erzähler in Bildern und Szenen, zurückzuzahlen hätte, gehörte es nicht zum Wesen solcher Schulden, dass sie nicht zurückgezahlt werden können. Dadurch etwa, dass ich ihm zuhören durfte, wenn er seine Drehbücher der Verfilmungen Joseph Roths ins Tonbandgerät diktierte, lernte ich, dass Erzählen weniger eine Frage des Inhaltes als der Atmosphäre ist, eher Haltung als Handwerk, eher Stimme als Technik. Ich lernte von ihm den Wert des Humors, den Wert der Gelassenheit, vor allem auch den Wert des Zorns. Über seine Inszenierungen dachte er wochenlang nach und formte alles noch vor der ersten Leseprobe in seinem Kopf: Er wusste, wie ein Stück aussehen sollte, unter seiner Leitung wurde nicht diskutiert, dafür, so meinte er, habe man ihn ja engagiert. Kunst bestehe aus großen, kleinen und winzigen Entscheidungen, Aberhunderten davon, jeden einzelnen Tag, und man selbst wisse nie, ob man das Richtige tue, man könne nur darauf hoffen und müsse konsequent bleiben; immer an sich zu zweifeln sei ebenso wichtig, wie diese Zweifel dann während der Arbeit mit sich allein abzumachen.

Vor allem aber sah er im Regisseur einen Diener des Autors. Jawohl, einen Diener – so sagte er, und an dieser Auffassung lag es, dass er auf den deutschsprachigen Bühnen in den letzten zwei Jahrzehnten seines Lebens, trotz zunächst noch guter Gesundheit, nicht mehr arbeiten durfte. In einem Bereich, wo es keinen schlimmeren Vorwurf gibt als das Wort altmodisch, galt er plötzlich als ebendies, und wohl auch deswegen war ich zunehmend entschlossen, mich vom Theater fernzuhalten und lieber Bücher zu schreiben. Was immer einem Romancier zustößt, so dachte ich und denke es immer noch, es kann ihn doch keiner daran hindern, seine Arbeit zu tun. Schlimmstenfalls bleiben seine Werke ungedruckt, aber schreiben darf er sie doch, und niemand hält ihn davon ab, auf eine gewogenere Zukunft zu hoffen. Der Regisseur aber, der sich herrschenden Dogmen verschließt, hat diese Chance nicht. Als mein Vater durch den Wandel der Umstände seine Arbeit nicht mehr ausüben konnte, senkte sich allmählich die Krankheit des Vergessens auf ihn herab, bis ihn ganz zuletzt die Demenz vom Bewusstsein der Enttäuschungen befreite.

Ich bin also, ich leugne es nicht, voreingenommen, aber andere sind es nicht. Spricht man mit Russen, mit Polen, mit Engländern oder Skandinaviern, die deutschsprachige Lande besuchen und hier ins Theater gehen, so sind sie oft ziemlich verwirrt. Was das denn solle, fragen sie, was denn hier los sei, warum das denn auf den Bühnen alles immer so ähnlich aussehe, ständig Videowände und Spaghetti-Essen, warum sei immer irgendwer mit irgendwas beschmiert, wozu all das Gezucke und routiniert hysterische Geschrei? Bitte verzeihen Sie die Klischees, doch es sind nicht meine, sondern genau jene, die uns die deutschen Theater vorspielen, formelhaft treu, Abend für Abend, Woche für Woche, in Stadt und Land. Ob das, so die Frage der Besucher, denn staatlich vorgeschrieben sei?

Was soll man darauf antworten? Aus rein familiären Gründen – weil ich erlebt habe, dass einer, der es anders machen wollte, es gar nicht mehr machen konnte – und weil es mich außerdem jedesmal mit Melancholie erfüllt, im Ausland grandiose Stücke lebender Dramatiker zu sehen, die bei uns praktisch unaufführbar sind, weil ihre Autoren keine verfremdenden Inszenierungen gestatten, antworte ich diesen Verwunderten dann nicht, dass es nun einmal so sein müsse, dass sie keine Ahnung hätten, wie schlimm verstaubt das Theater in ihren Heimatstädten sei, und wir eben mal wieder einen Sonderweg gefunden hätten, zu speziell und verschlungen, um von anderen Völkern verstanden zu werden. Sondern ich sage in etwa Folgendes:

Bei uns ist etwas Absonderliches geschehen. Irgendwie ist es in den vergangenen Jahrzehnten dahin gekommen, dass die Frage, ob man Schiller in historischen Kostümen oder besser mit den inzwischen schon altbewährten Zutaten der sogenannten Aktualisierung aufführen solle, zur am stärksten mit Ideologie befrachteten Frage überhaupt geworden ist. Eher ist es möglich, unwidersprochen den reinsten Wahnwitz zu behaupten, als leise und schüchtern auszusprechen, dass die historisch akkurate Inszenierung eines         Fortsetzung auf Seite 25

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.07.2009 Seite 23


 


 

Fortsetzung der Rede von Daniel Kehlmann von Seite 23 Wo heute Lärm ist . . .

Theaterstücks einfach nur eine ästhetische Entscheidung ist, nicht besser und nicht schlechter als die Verfremdung, auf keinen Fall aber ein per se reaktionäres Unterfangen. Als vor vier Jahren der Satiriker Joachim Lottmann im "Spiegel" einen spöttischen Artikel über deutsche Regiegebräuche veröffentlichte, ging eine Empörungswelle durch die Redaktionen, als schriebe man das Jahr 1910 und einer hätte Kaiser Wilhelm gekränkt.

Es hat wohl mit der folgenreichsten Allianz der vergangenen Jahrzehnte zu tun: dem Bündnis zwischen Kitsch und Avantgarde. Nach wie vor und allezeit schätzt der Philister das Althergebrachte, aber mittlerweile muss sich dieses Althergebrachte auf eine strikt formelhafte Weise als neu geben. Denn wer ein Reihenhaus bewohnen, christlich- oder ökologisch-konservative Parteien wählen und seine Kinder auf Privatschulen schicken will und es dennoch für zwingend notwendig hält, sich als aufgeschlossener Bohemien ohne Vorurteil zu fühlen - was bleibt ihm denn als das Theater? In einer Kultur, in der niemand mehr Marx liest und kontroverse Diskussionen sich eigentlich nur noch um Sport drehen, ist das Regietheater zur letzten verbliebenen Schrumpfform linker Weltanschauung degeneriert.

Wie alt die Fragestellung und auch die Praxis ist, zeigt sich auch darin, dass der scharfsinnigste Text darüber aus dem Jahr 1926 stammt: Karl Kraus' furioser Aufsatz "Mein Vorurteil gegen Piscator". Der große Regisseur Erwin Piscator hatte in Berlin eine, das Wort war damals neu, "aktualisierte" Inszenierung von Schillers "Räubern" auf die Bühne gebracht, was Kraus dazu veranlasste, grundsätzlich zu werden. In Wahrheit, so Kraus, sei Aktualisieren das Gegenteil dessen, was die Presse darunter verstehe, nämlich die behutsame Wiederherstellung dessen, was wir nicht mehr von der Vergangenheit wüssten, was uns unwiderruflich von ihr trenne. ",Aktuell'", schrieb er, "ist die Überwindung des Zeitwiderstands, die Wegräumung des Überzugs, den das Geräusch des Lebens dem Gehör und der Sprache angetan hat. Für aktuell aber halten die Zutreiber der Zeit den Triumph des Geräusches über das Gedicht, die Entstellung seiner Geistigkeit durch ein psychologisches Motiv, das der Journalbildung" – also der Bildung des Journalismus – "erschlossen ist."

Man muss Kraus hierin nicht folgen, man kann es auch ganz anders sehen, man darf selbstverständlich auch für die drastischste Verfremdung eintreten, aber man sollte sich deswegen nicht für einen fortschrittlichen Menschen halten. Kraus war kein Anhänger des großen Ausstattungstheaters, er trat für äußerste Reduktion ein; was ihm vorschwebte, war näher bei dem Minimalismus eines Peter Brook als bei Max Reinhardt. Ein anderer Minimalist, Samuel Beckett, verbot regelmäßig Aufführungen seiner Werke, die er als entstellend empfand und die von seinen akribischen Regieanweisungen abwichen – möchte man ihn darum rückständig nennen? Wer gegen das sogenannte Regietheater ist, muss beileibe nicht konservativ sein, aber gerade mancher tiefkonservative Mensch hält die teuren und konventionellen Spektakel des Regietheaters für unangreifbar. Ein teuflischer Kreis: Wo Regisseure die Stars sind, dort halten sich die Autoren zurück. Wo sich die Autoren zurückhalten, beanspruchen die Regisseure wiederum den Status eines Stars, dem kein Autor, lebend oder tot, dreinzureden habe: "Eigentlich sind wir die Urheber!", rufen sie, und in der Tat muss man es sich wohl recht angenehm vorstellen, ein genialischer Schöpfer zu sein, ohne dafür eigens Stücke verfassen zu müssen. Unterdessen aber bleibt der Großteil der interessierten Menschen, die einstmals Publikum gewesen wären, daheim, liest Romane, geht ins Kino, kauft DVD-Boxen mit den intelligentesten amerikanischen Serien und nimmt Theater nur noch als fernen Lärm wahr, als Anlass für wunderliche Artikel im Feuilleton, als Privatvergnügen einer kleinen Gruppe folgsamer Pilger, ohne Relevanz für Leben, Gesellschaft und Gegenwart. "Das traurigste Gewerbe", sagte Reinhardt – und nicht selten ist man versucht, ihm zuzustimmen, sich abzuwenden und einfach den Fernseher einzuschalten.

Aber ich wollte ja von Michael Kehlmann reden und davon, was ihm die Bühne und was er für sie bedeutete, wieso bin ich so abgeschweift? Vielleicht bin ich es gar nicht, ich habe von dem gesprochen, was er neben einigen Gleichgesinnten – ich nenne nur den großen, fast vergessenen Rudolf Noelte –, zu verhindern versuchte und was doch Gestalt annahm: ein Klima der Repression, in dem Abweichung geächtet ist. "Ich bin größenwahnsinnig", schrieb Karl Kraus, "ich weiß, daß meine Zeit nicht kommen wird." Auch für meinen Vater zeichnete sich ab, dass seine Zeit nicht mehr kommen würde, dass sie, wenn überhaupt, unwiderruflich hinter ihm lag – und doch passte er sich nicht an und arbeitete lieber gar nicht als unter Umständen, die ihm nicht die volle Freiheit gelassen hätten. Man kann das durchaus Größenwahn nennen. Früher oder später kommt vielleicht für jeden Künstler der Augenblick, da sein Weg und der Zeitgeschmack sich trennen. Häufig ist Beharren ein Zeichen der Verstocktheit, manchmal aber auch das einzig Richtige.

Und so denke ich oft an jenen Luster damals im leeren Theater. An die wundersamen Widersprüche denke ich, die jedesmal von neuem auf der Bühne zusammenfinden: Etwas, das jeden Abend passiert, passiert gerade in dem Moment zum ersten Mal und nie wieder genau so; es wird Gegenwart und ist doch pure Wiederholung; Figuren stehen vor uns und tun es doch nicht, so dass wir Zeugen sind bei einem Ereignis, das nicht wirklich geschieht, und zwar in einer Spontaneität, wie sie nur nach langem Proben möglich wird. Film ist magisch, Theater aber ist paradox. Und das bleibt es selbst in der albernsten Gestalt, und das wird es noch sein, wenn man sich so mancher hochsubventionierten Absurdität nur noch mit amüsiertem Lächeln erinnert. "Nicht Verstellung ist die Aufgabe des Schauspielers", so Reinhardt, "sondern Enthüllung." Die Wahrheit auszusprechen also über unsere von Konvention und Gewohnheit eingeschnürte Natur, die Wahrheit über das eine kurze Leben, das wir führen. Und über die unzähligen Leben, die wir darüber versäumen und denen wir nirgendwo anders begegnen als in unserer Phantasie und in der Kunst.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.07.2009 Seite 25


 

 

Nur der Wind trocknet die Wäsche gratis


 


 

Wäschetrockner ersparen das mühsame Auf- und Abhängen der Wäsche. Sie machen Handtücher und Unterwäsche ohne Weichspüler flauschig, gelten aber als Energiefresser, die der Umwelt schaden. Stimmt das? Von Georg Küffner

Wäschetrockner sind schädliche Energiefresser. Das ist schnell gesagt. Ohne sich je in die Niederungen der Thermodynamik eingearbeitet zu haben, und das wäre für ein fundiertes Urteil wichtig, tragen viele Zeitgenossen diese Meinung immer wieder vor. Und es kommt noch doller: Zu Beginn der neunziger Jahre war der Widerstand gegen diese oft als völlig unnötig eingestufte Technik (Wäsche trocknet ja von selbst) so groß, dass man die Geräte ganz verbieten wollte.

Dass es anders kam, liegt weniger an der Lobbymacht der Hersteller und mehr an den überzeugenden Fakten. Denn wie eine Studie des Öko-Instituts belegt, frisst die auf dem Gestell im Arbeitszimmer aufgehängte Wäsche nicht mehr und nicht weniger Energie als die einem Mittelklasse-Wäschetrockner anvertraute. Denn die beim Trocknen in der Wohnung anfallende Verdunstungskälte muss durch mehr Heizaufwand ausgeglichen werden, andernfalls würde die Raumtemperatur merklich sinken. Zudem muss man die Feuchtigkeit aus der Wäsche durch intensives Lüften aus dem Haus bringen, wenn man sich keinen Schimmel einfangen will. Auch dafür braucht man Heizwärme.

Damit steht fest: Wäschetrocknen kostet Geld. Und wenn man sie im Garten aufhängt, was nicht immer möglich ist, kostet sie zumindest Zeit und Aufwand. Daher greifen auch überzeugte Lufttrockner im Winter gern auf den Trockenapparat zurück. So ein Gerät ist in den Apartmenthäusern großer Städte unentbehrlich, da vielerorts das Wäschetrocknen auf dem Balkon verboten ist oder äußerst ungern gesehen wird. Außerdem werden sogenannte Trockenböden und professionell ausgestattete Waschküchen in Neubauten kaum noch installiert.

Nicht viel anders ist die Lage in den Vereinigten Staaten. Hier ist in einigen Gegenden das Maschinentrocknen als allein akzeptiertes Vorgehen in Gesetzen, Verordnungen und Mietverträgen festgeschrieben. Wäscheleinen seien hässlich und minderten den Wert einer Immobilie deutlich, wird argumentiert. Im Zuge eines wachsenden Ökobewusstseins sehen das immer mehr Amerikaner anders und beharren auf ihrem "right to dry". So hat sich, wie der "Boston Globe" schreibt, mit dem "Project Laundry List" (www.laundrylist.org) eine ernstzunehmende Bürgerbewegung etabliert, die dem Naturtrocknen und damit der Wäscheleine ein rundum positives Image verpassen will. Ein hehres Ziel, das nur zu erreichen ist, wenn anders als bisher in den einschlägigen Geschäften auch Wäscheleinen und -ständer zu kaufen sind. Mehrere Unternehmen bedienen mittlerweile diesen Markt: Etwa die Vermont Clothesline Company (www.smartdrying.com), die für 195 Dollar den Ständer "Summer Breeze" anbietet. Das sind zwei rustikale hölzerne T-Stützen, die man im Garten einbuddelt und dazwischen mehrere parallele Leinen spannt.

Doch bei aller Euphorie für das Lufttrocknen, für das Gros der Amerikaner ist und bleibt der Wäschetrockner im Haus unentbehrlich. Rund 88 Prozent aller Haushalte nutzen ihn und verantworten damit einen Anteil am privaten Stromverbrauch von 5,8 Prozent. Deutlich mehr Energie wird im Haushalt für das Kühlen von Speisen und Getränken benötigt. Das ist in Deutschland (mit einem Anteil für Kühl- und Gefriergeräte von 24 Prozent) nicht anders. Auch hier zählt der Wäschetrockner nicht zu den größten Stromverbrauchern, wobei sich, je nach Energieeffizienzklasse des Geräts und Nutzerverhalten, die Stromrechnung für das Wäschetrocknen jedoch durchaus auf 150 bis 200 Euro im Jahr addieren kann.

Wie nicht anders zu erwarten, ist dafür weniger der Antrieb für die Edelstahltrommel verantwortlich, die sich während des Trockenprozesses dreht und dabei die Wäsche verwirbelt, sondern die Heizung der Geräte. Sie muss die Hauptarbeit leisten, und zwar um somehr, je größer der Wasseranteil in der Schleuderwäsche ist. Damit verteuern vor allem schwache Schleuderleistungen das Maschinentrocknen: Nach einem 1000/min-Schleudergang stecken in fünf Kilogramm Frottierhandtüchern noch rund 3,5 Liter Wasser – eine ganze Menge. Läuft die Schleuder auf höheren Touren, reduzieren sich der Feuchteanteil und damit der Energiehunger des Trockners deutlich. So vermindert ein Schleudergang mit 1400 Touren den Stromverbrauch beim anschließenden Trocknen um rund 15 Prozent. Und wer es genau wissen will: Um einen Liter Wasser aus der Wäsche zu treiben (bei 23 Grad Raumtemperatur und einer Luftfeuchte von über 50 Prozent), werden exakt 0,97 kWh benötigt.

In Kenntnis dieser Zusammenhänge weisen die Trocknerhersteller stets auf die Wichtigkeit des kraftvollen Schleuderns hin, arbeiten aber weiter daran, den Energieverbrauch ihrer Geräte zu senken. Das wäre gar kein Hexenwerk, würde man nicht die Zusage machen, dass man die getrocknete Wäsche bereits nach zwei Stunden dem Gerät entnehmen könne. Längere Trocknungszeiten, verbunden mit niedrigeren Lufttemperaturen, würden den Strombedarf deutlich reduzieren. Die in Skandinavien weitverbreiteten Trockenkammern arbeiten nach diesem Prinzip. Man hängt die nasse Wäsche auf Kleiderbügeln hinein, ventiliert Luft zu und wartet.

Wer es schneller haben will, der wählt heute in der Regel zwischen einem Abluft- und einem Kondenstrockner, wobei der erstgenannte Typ nur zu betreiben ist, wenn man den zwingend notwendigen Abluftschlauch ins Freie leiten kann. Die energetische Bewertung dieser Geräte fällt schwer, denn sie holen die Prozessluft aus dem Raum und pusten sie nach draußen: Im Sommer wird so kostenlose Sonnenenergie genutzt, während man im Winter teure (Raum-)Heizenergie verbrät. Und ganz wichtig: Die zugefeuerte Energie wird an die Umgebung abgegeben und ist verloren.

Das ist beim Kondenstrockner anders. Hier werden rund 80 Prozent der eingesetzten Heizleistung als Wärme an den Raum abgegeben, so dass diese Geräte wie Heizöfen wirken. Die Aufstellräume müssen entsprechend groß dimensioniert sein. Trotz dieses Vorzugs liegt der Energieverbrauch durchschnittlich etwa 15 Prozent über dem eines Ablufttrockners. Richtig Freude an diesen Trocknern hat nur, wer sich ein gut gekapseltes und damit "luftdichtes" Gerät kauft. Denn nur das schafft es, mehr als 90 Prozent der in der Trommel aufgenommenen Feuchtigkeit zu kondensieren. Ältere und nicht all zu hochwertige Geräte kommen nicht auf diesen Wert. Sie entlassen einen Großteil der Feuchtigkeit zusammen mit der Warmluft in den Raum, was in dieser Kombination besonders an Sommertagen überaus störend sein kann.

Deutlich weniger Energie benötigen die seit wenigen Jahren angebotenen Wärmepumpentrockner, die mittlerweile alle Hersteller (bis auf Whirlpool) im Programm haben. Sie ziehen 40 bis 50 Prozent weniger Strom als Abluft- oder Kondenstrockner, sind dafür in der Anschaffung aber rund 200 Euro teurer als die besten klassischen Modelle. Für den höheren Preis ist jedoch nur zum Teil der größere apparative Aufwand verantwortlich. Entscheidend ist, dass man bei den Bauteilen nicht auf eigens für Wäschetrockner konzipierte Komponenten zurückgreifen kann, sondern sich – etwa beim Kompressor – mit Standardprodukten begnügen muss, die Abstriche bei der Optimierung notwendig machen. Und so funktionieren die Pumptrockner: Der heiße Teil der Wärmepumpe heizt die Zuluft auf, während der kalte Teil der Pumpe die Feuchtigkeit der Abluft kondensiert. Wärme und (Trocken-)Luft können so im Kreislauf geführt werden, was in dieser Kombination den Vorzug dieser Technik ausmacht.

Ähnlich günstige Energiebilanzen wie mit (elektrisch betriebenen) Wärmepumpengeräten lassen sich mit den in Deutschland weitgehend unbekannten Erdgastrocknern erreichen. Während in Nordamerika 20 Prozent aller Geräte ihre Trockenwärme aus einer Gasflamme beziehen, werden hierzulande gerade mal rund 400 Gasgeräte im Jahr verkauft. Und es gibt nur noch einen Anbieter. Nachdem Miele aus dem Markt für gasbetriebene Haushaltstrockner ausgestiegen ist und lediglich noch Gas-Gewerbemaschinen herstellt, können energiebewusste Haushälter zwischen zwei Modellen (zeit- und sensorgesteuert) des englischen Anbieters Crosslee wählen, die über die AG Gastechnik GmbH in Olbernhau vertrieben werden.

Der Grund für das günstige Abschneiden der Gastrockner ist schnell erklärt: Es werden die nicht unerheblichen Wandlungs- und Transportverluste der Stromproduktion vermieden. Der (Primär-) Energieverbrauch und auch der CO2-Ausstoß liegen dadurch um rund 50 Prozent unter denen konventioneller Elektrotrockner. Und das Aufstellen und Anschließen der Geräte sind einfacher als vielfach vermutet, gibt es doch längst Gassteckdosen, die sich so einfach wie Stromdosen bedienen lassen.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.09.2009 Seite T1


 

Trocknen mit Gas und (elektrisch betriebener) Wärmepumpe

Den Markt der Wäschetrockner dominieren die Abluft- und Kondensgeräte. Doch es gibt Alternativen. Vor allem in Nordamerika spielen gasbefeuerte Maschinen eine wichtige Rolle, haben sie doch den Vorteil, direkt auf einen Primärenergieträger zugreifen zu können. Wandlungs- und Transportverluste wie bei der Stromproduktion werden vermieden. Über genormte Gassteckdosen können die Geräte wie konventionelle Trockner "angeschlossen" werden. Energetisch mustergültig arbeiten auch Wärmepumpentrockner: Der heiße Teil der Wärmepumpe (Verflüssiger) heizt die Zuluft auf, während der kalte Teil (Verdampfer) die Feuchtigkeit der Abluft kondensiert. Wärme und (Trocken-) Luft werden im Kreislauf geführt, was den Vorzug dieser Technik ausmacht. (kff.)

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.09.2009 Seite T1

 

Eckensteher der Romantik


 

Zum Tode Willy DeVilles

Von Edo Reents

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Willy deVille 1953 - 2009

07. August 2009 Es mag auch an seinem Äußeren gelegen haben, dass Willy DeVille nicht von allen ernstgenommen wurde. Der zeitlebens strizzihaft-dürre Kerl war dem Dunstkreis des Punk entstiegen und spielte klassisch-modernen Rhythm&Blues. Mit seiner Band Mink DeVille verbreitete er ein Jahrzehnt lang Eckensteherromantik in der Tradtion des Drifters-Soul. Die Platten "Cabretta" (mit den Hits "Spanish Stroll" und "Cadillac Walk") sowie "Return To Magenta" atmeten eine Romantizität, die von dem bisweilen knochenharten Rock nicht etwa erdrückt wurde, sondern erst recht hervortrat.

In einem versierten, aber ständig wechselnden Bandensemble lebte sich Willy De Ville mit einer fast unverschämten Grandezza und Schmierigkeit aus, die seine stimmlichen Leistungen bisweilen in den Hintergrund drängten. Aber niemand kam ihm im weißen Lager gleich, wenn er auf Balladen wie "Guardian Angel" und vor allem "That World Outside" erst Luft holte und dann delikate Seufzer ausstieß. Auch im mittleren Tempo konnte kaum einer bei ihm mithalten. Nicht weniger überzeugend war er schließlich als schnörkelloser, fauchender Rocksänger.

Bis zuletzt bewies Willy DeVille jene Nehmerqualitäten

Und dies alles dank einer Stimme, die aggressiv und schneidend, zärtlich und einschmeichelnd, stolz und klagend sein konnte, aber des Guten nie zu viel tat. Diese Ökonomie, die Weigerung, gesangliches overacting zu betreiben, machte Willy DeVilles Einzigartigkeit aus. Hinzu kam das in seinem Fall absolut glaubwürdige, jede Warnung vor Lächerlichkeit in den Wind schlagende Posieren in Rollen, die man längst überholt glaubte oder die dem Publikum sonst nur noch in ironisch-travestierter Form zugemutet wurde. Willy DeVille war wirklich der schmachtende Liebhaber und Angeber mit hochtoupiertem Haar und Goldzahn.

Unter dem Ausbleiben von Massenakzeptanz litt Willy DeVille auch während seiner Solokarriere, in der er nach schwächerem Start auf den Alben "Loup Garou" (1995) und "A Horse Of A Different Color" (1999) wieder sein altes Format zeigte. Wer das Glück hatte, ihn in jener Zeit auf der Bühne zu erleben, wird einen so großspurigen wie dünnhäutigen, bis in die letzten Nerven hinein angespannten und quasi jederzeit zum Tigersprung bereiten Musiker voller Hingabe und Professionalität in Erinnerung haben.

Der ganz große Erfolg blieb trotzdem aus. Aber bis zuletzt bewies Willy DeVille jene Nehmerqualitäten, die er an seinem Filmvorbild Silvester Stallone immer so bewundert hat. In der Nacht zum vergangenen Freitag ist William Borsay, wie er eigentlich hieß, in einem New Yorker Krankenhaus im Alter von achtundfünfzig Jahren gestorben.

Text: FAZ.NET
Bildmaterial: Michael Kretzer

Ein Fall fürs Katasteramt


 

Das Werk wird mit der Zeit immer geheimnisvoller, das Material aber immer überraschungsärmer, weil man das meiste schon kennt: Neil Youngs "Archives".

Das hat uns noch gefehlt, wir mussten aber auch lange darauf warten: Seit den achtziger Jahren geisterte das Schlagwort "Archiv" durch die Neil-Young-Philologie. Der Meister selbst, so hieß es immer wieder, warte nur noch auf den richtigen Zeitpunkt, es zu öffnen. Dass es einen richtigen Zeitpunkt nie geben würde, wusste Neil Young selbst wohl am besten; denn der nostalgische Aspekt, der mit der Sache unweigerlich verbunden war, würde sich mit seiner Technikfaszination nicht ins Gleichgewicht setzen lassen. Die Dialektik aus Traditionspflege und Neuerungsanspruch bestimmte, ähnlich wie bei Bob Dylan, seine Karriere seit dem kommerziellen Höhepunkt mit dem Album "Harvest" (1972). Young ist, anders als Dylan, jemand, der sich über die technische Qualität seiner Musik viel Gedanken macht (obwohl man das nicht immer hört) – der wohl penibelste Editionsphilologe im Rock, dessen Skrupel die Herausgabe dessen, was in seinem mutmaßlich sehr umfangreichen Archiv lag, immer wieder verzögerten. Man wusste zuletzt gar nicht mehr, ob es überhaupt noch dazu kommen würde oder ob das Ganze nicht doch bloß ein PR-Gag war, der ihn, zusätzlich zu seinen regulären und immer noch höchst regelmäßigen Plattenveröffentlichungen, im Gespräch hielt.

Jetzt, wo "Neil Young Archives Vol. I" vorliegt – zehn DVDs beziehungsweise Blu-ray-Discs und acht CDs –, ist festzuhalten, dass man sich von der Sache mehr versprochen hatte, was natürlich auch daran liegt, dass so viel davon gesprochen wurde und man so lange darauf gewartet hat. Unter den insgesamt 128 Songs finden sich 43 bisher unveröffentlichte; viele davon sind aber solche, die es in anderer und zum Teil besserer Fassung seit langem gibt. Wirklich neue Lieder gibt es also nur wenige, und sie finden sich vor allem auf der ersten DVD/CD zur ganz frühen Karrierephase der Jahre 1963 bis 1965, als Young noch in Kanada war und in der Kapelle The Squires Gitarre spielte, aber wenig sang, weil er seiner Stimme noch nicht recht traute und auf der Bühne gelegentlich sogar ausgelacht wurde.

Von diesen Liedern sind, außer der Urfassung von "Nowadays Clancy Can't Even Sing", das dann auf die erste Buffalo-Springfield-Platte kam, eigentlich nur "Runaround Babe", "The Ballad of Peggy Grover", "The Rent is Always Due" und "Extra Extra" erwähnenswert, weil sie die Originalität, Eigenwilligkeit und die melancholische Schärfe schon spüren lassen, die Neil Young später so auszeichneten. Der zum Teil rein instrumentale Rest zeigt nur, wie sehr die Squires unter dem Einfluss des klassischen Beat, mehr aber noch im übermächtigen Schatten Hank Marvins standen, des damals wie ein Gott verehrten Gitarristen der Shadows.

Aus dieser Zeit gibt es keine Filmaufnahmen; dazu war das Interesse, das Youngs erste richtige Band zu wecken vermochte, zu gering. Das ändert sich mit der Gründung von Buffalo Springfield, der ersten, aber nur kurzlebigen Supergruppe des Countryrock, der außerdem Stephen Stills und Richie Furay angehörten, eine der aufregendsten Livebands von Los Angeles, was etwas heißen will, weil dort zur selben Zeit auch die Doors aufspielten, in deren Nachbarschaft Buffalo Springfield denn auch oft auftauchten. Die in technicolorkompatiblen Farben festgehaltenen Bühnenauftritte wurden ausgelagert auf die DVD mit Youngs erstem Film "Journey Through The Past", der 1973 als Zeugnis eines ersten künstlerischen Innehaltens, einer ersten Selbstbetrachtung ins Kino kam und seither nur selten zu sehen war.

Dort also sehen wir die einander schon in Hassliebe verbundenen Flügelmänner, den Texaner Stills mit Cowboyhut und Young in indianischer Fransenjacke, die Klassiker "For What It's Worth" und "Mr. Soul" zum Besten geben. Im übrigen merkt man hier, dass es damals doch die richtige Entscheidung war, dass Young auch bei seinen eigenen Liedern Furay meistens den Gesang überließ; seine nachmals so fesselnde Stimme hatte sich noch nicht gefunden.

Darüber hinaus bringt der Springfield-Abschnitt 1966 bis 1968 kaum etwas Neues, ebenso wie die DVD/CD zur ersten Solozeit, in der aus der Raupe allerdings ein bunt schillernder Schmetterling wurde, der sich zunächst in dem von Hippies schon stark frequentierten Topanga Canyon nahe Hollywood niedergelassen hatte und später weiter nach Nordkalifornien zog, wo er auf seiner Broken-Arrow-Farm endgültig sesshaft wurde. Die Topanga-Zeit warf wichtiges Material ab, bis einschließlich "After The Gold Rush". Eine Offenbarung ist der mit Crazy Horse eingespielte harte Stomper "Dance Dance Dance", der nie auf Platte kam und nun zeigt, wie unterschätzt Youngs Countryfeeling die ganze Zeit über war. Und ein psychedelisch-surreales Akustik-Epos wie "The Last Trip to Tulsa" vom noch etwas unzureichend produzierten Debüt "Neil Young" oder die Gitarrenduelle seiner damals im Handstreich verpflichteten Begleitband Crazy Horse auf dem harten, staubtrockenen Album "Everybody Knows This Is Nowhere" sind immer wieder imponierend und erregend; aber um archivalische Funde handelt es sich hier nicht.

Unter den drei Livedokumenten war nur Youngs Auftritt vom Februar 1969 im Riverboat in seiner Heimatstadt Toronto bisher unzugänglich; die Konzerte vom März 1970 im New Yorker Fillmore East (krachend, aber für Crazy-Horse-Verhältnisse erstaunlich präzise) und vom Januar 1971 in der Massey Hall in Toronto (solo mit akustischer Gitarre) gibt es schon länger auf Vinyl und CD. Wir kennen also schon den abwechselnd hochempfindlich-gereizten und zugänglich plaudernden, linkisch-scheuen, aber vom Bewusstsein seiner, wie die "New York Times" dann später feststellen sollte, nur noch mit Dylan zu vergleichenden Songschreiber- und Performerqualitäten unverkennbar schon getragenen Künstler. Interessant aber, dass er seinen Standarddank ans Publikum ("Thank you very much, I really appreaciate that"), den er bis heute murmelt und bei dem man sich fragt, ob er nicht doch ironisch gemeint ist, schon sehr früh im Repertoire hatte. Aber nur beim Massey-Hall-Konzert sehen wir auch wirklich Filmaufnahmen, deren Qualität freilich zu wünschen übriglässt: Nicht sehr deutlich, manchmal nur schemenhaft bekommen wir eine faszinierend düstere, hochgewachsene Erscheinung zu sehen, die außer einer akustischen Gitarre oder einem Klavier nichts brauchte und ihrer Ausdruckskraft vollauf vertrauen konnte.

1963 bis 1972: Auch wenn Young sich in dieser Zeit enorm entwickelt hat, so ist in diesem Archivteil der musikalisch homogenste Abschnitt in seiner Karriere enthalten; es gibt noch keinen Bruch. Erst nach dem auf den letzten beiden DVDs/CDs dokumentierten Reifezustand, nach "Harvest", kam etwas wirklich Neues: die sogenannte doom trilogy mit "Time Fades Away", "On The Beach" und "Tonight's The Night". Dass Young mit diesen Alben, die heute mit zu seinen bedeutendsten zählen, das maßgeblich aus "Harvest" resultierende Image eines in goldgelbe Farben getauchten Vollendeten des Folkrock mutwillig zerstörte, muss heute niemanden mehr irritieren; aber dass diese Richtungsänderung durch den Tod zweier Clan-Mitglieder, des Crazy-Horse-Gitarristen Danny Whitten und des Roadies Bruce Berry, mitverursacht wurde – Young leistet mit den Post-"Harvest"-Platten ja auch Trauerarbeit –, erfahren wir nicht mehr und wird wohl auch auf den weiteren drei geplanten Archivteilen, deren Erscheinungstermine noch offen sind, ausgeblendet werden.

Alles andere widerspräche auch Youngs Auffassung, dass zwar die Öffentlichkeit ein Recht darauf hat, einen Künstler in jeder Phase und Form, auch in vermeintlich schlechteren, aus nächster Nähe zu betrachten, alles von ihm zur Kenntnis zu nehmen; dass aber die Musik dabei absolut für sich zu sprechen hat. Nur einmal gewährt er Einblick in seine Kunstauffassung, die sich erstaunlicherweise als religiös erweist: "God respects me when I work, but he loves me when I sing."

So akribisch also diese bereits sehr gewaltige Werkphase aufbereitet ist, so strikt werden biographische Einzelheiten ausgespart, die man ja auch in Form der Interviews, welche Young damals durchaus gegeben hat, hätte mitteilen können. Auf diese Weise wird das geheime Prinzip dieses Archivabschnitts deutlich: Während das Werk als solches mit der Zeit immer tiefer, geheimnisvoller, abgründiger wird, wird das gebotene Material immer überraschungsärmer, weil man das meiste eben schon kennt; nur aus der ganz frühen, musikalisch selbst den Biographen kaum bekannten Zeit gibt es Entdeckungen zu machen, die musikalisch indes nicht allzu hochwertig sind.

Ein Wort zum technischen Aspekt dieser mit dickem multimedialem Anstrich daherkommenden Sammlung: Sie blufft auch. Die Scheiben und das Booklet, die man dem unhandlichen, brettharten Karton umständlich entnimmt, sollen die Musik offensichtlich nach dem Internetprinzip erschließen: Man klickt an, was man gerade sehen oder hören will. Auf den Zeitleisten sind die wichtigsten Daten in einer nicht auf Anhieb einsichtigen Form vermerkt. Man hat Zugang zu den Songtexten mit der markanten, altvertrauten Handschrift, allerdings auch zu altmodischen Hängeregistraturen, als wäre Neil Young ein Fall für das Katasteramt. Das in weiches Kunstleder eingebundene Begleitbuch verdankt seinen Umfang nicht nur den zum Teil rührenden Fotos, sondern auch den ausführlichen diskographischen Angaben zu jedem einzelnen Song.

Was die Musik als solche betrifft, so starren wir die meiste Zeit über auf sich drehende Plattenspieler mit dem Originalvinyl oder Tonbänder; sonst ist, wie gesagt, nicht viel zu sehen. Das am Anfang jeder DVD pompös eingeblendete Logo "Shakey Pictures" (nach Youngs Filmkünstlernamen Bernard Shakey) verspricht mehr, als es halten kann – groß Regie führen musste hier niemand. Sagen wir es so: etwas viel tara, etwas wenig netto. Umso dankbarer ist man für die in der Tat wunderschönen Filmaufnahmen in der Hügellandschaft Kaliforniens, die einen Musiker in seltener Unbefangenheit zeigen, halb Hippie, halb verzogenes Superstarfrüchtchen, wie Karl Bruckmaier ihn einmal nannte.

Als grundsätzliche, auch für andere Werkausgaben mit diesem historisch-kritischen Anspruch geltende Erkenntnis bleibt, dass es in aller Regel schon seine Richtigkeit damit hat, wie die Platten damals erschienen sind. Das Bedauern über einst notgedrungen weggelassenes Material hält sich in Grenzen; und das, was regulär erschien, ließ sich, wie die Alternativfassungen zeigen, in der Regel kaum noch verbessern. Wirklich Neues, das die Sache und den Preis von in diesem Fall 249,99 Euro für die Blu-ray-Discs, 219,99 für die DVDs und 129,99 für die CDs auch lohnt, wird nur wenig zutage gefördert. Der Aufwand, der dazu betrieben wurde, läuft ein wenig ins Leere; man hat den Eindruck, dass die gewaltigen Speicherkapazitäten dieser Medien zu einem Vollständigkeitswahn in der Veröffentlichungspraxis verleiten, der der Musik nicht immer guttut.

Muss man das Archiv also haben? Fanatiker werden hier kaum zögern. Der etwas gelassenere Neil-Young-Freund, der nicht alles wissen muss, ist zufrieden, dass er den Kram nun endlich hat, aber auch ernüchtert.      EDO REENTS


 

Neil Young, Archives 1963–1972. Wahlweise 10 DVDs, 10 Blu-ray-Discs oder 8 CDs. Reprise Records (Warner)

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 08.08.2009 Seite 36

Fernsehgeräte Der Fortschritt steckt in subtilen Technik-Details

Raffinierte neue Lichtquellen und virtuelle Bilder aus Bewegungsprognosen sollen den LCD-Bildschirmen ihre letzten Schwächen austreiben. Die Resultate sind auf den neuen Flachmännern oft deutlich sichtbar – sogar im Elektronik-Supermarkt. Von Wolfgang Tunze

Frank Bolten, Geschäftsführer von Sharp in Deutschland, gestaltete seine Pressekonferenz auf der Internationalen Funkausstellung IFA anno 2009 im Stil eines technischen Proseminars. Der geneigte Teilnehmer erlernte dort Begriffe wie Edge-Lit, Full LED Backlight, RGB-Hinterleuchtung und vieles mehr, und am Ende der Veranstaltung leuchtete selbst den Korrespondenten fachferner Publikationen der Sinn des ungewöhnlichen Vortrags ein: Wie soll man denn sonst erklären, weshalb es flache Fernseher für 1200 und solche für 12 000 Euro gibt – vom offenkundigen Differenzierungskriterium der Mattscheibengröße einmal abgesehen? An anderen Ständen sammelten die IFA-Besucher in Berlin gleich noch etliche weitere Technik-Formeln ein. Die Größe 200 Hertz etwa tat sich allenthalben als das populärste Gütesignal der Saison hervor.

Steckt hinter all diesen Begriffen mehr als nur Marketing-Geklingel? Und wenn ja: Was bedeuten sie im Detail – und wie viel Entscheidungshilfe bieten sie beim Kauf? Das Stichwort LED signalisiert einen Großtrend der Bildschirmtechnik: Statt spaghettidünner Leuchtstoffröhren – Fachleute nennen sie Kaltkathodenröhren – setzen die Hersteller in den höherwertigen Geräteklassen immer häufiger Leuchtdioden (LED) als Lichtquellen ein. Dass Bildschirme überhaupt solcher Strahler bedürfen, liegt an den Besonderheiten der LCD-Technik, die auf der Lichtventil-Funktion von Flüssigkristallen beruht: Flache Scheiben der Gattung LCD leuchten nicht selbst. Einem Dia ähnlich, brauchen sie zierliche Lampen, die sie von hinten durchleuchten und erst so brillante Bildeindrücke ermöglichen.

LED-Leuchtzellen helfen sogar, Umweltlasten zu verringern

Samsung hat seine Begeisterung für LED-Hinterleuchtungen gleich in einen neuen Terminus umgemünzt: LED-Fernseher nennt der Hersteller entsprechend ausgestattete Geräte seines Hauses fortan. Der als Signal für Innovationsfreude gedachte Begriff irritiert allerdings eher: Natürlich zählen auch diese Modelle zur Familie der LCD-Fernseher. Und ob König Kunde den LED-Lichtquellen am Ende wirklich fortschrittliche Aspekte abgewinnen kann, hängt ganz von der konkreten Art ihres Einsatzes ab. Ökowerbebotschaften sagen dem LED-Trend gern umweltfreundliche Nebenwirkungen nach. Tatsächlich enthalten Kaltkathodenröhren Quecksilber, das der Biosphäre erspart bleibt, wenn LEDs künftig die Mattscheibe erhellen. Aber da wir von sofort an, ebenfalls aus Ökogründen, immer mehr quecksilberhaltige Stromsparglühbirnen in unsere Lampen schrauben müssen, vermag uns dieses Argument nicht recht zu entzücken.

LEDs können aber helfen, Energie zu sparen und gleichzeitig die Bildqualität zu erhöhen, und zwar mit einem Local Dimming genannten Kunstgriff: Konventionelle Hinterleuchtungen strahlen stets mit voller Leistung; gibt das Motiv dunkle Passagen vor, müssen die LCD-Zellen dem Licht so gut wie möglich den Weg versperren. Das gelingt ihnen allerdings, eine Schwäche des Prinzips, stets nur annähernd. Folglich schaffen LCD-Schirme von Haus aus keine perfekten Schwarzwerte, der Kontrast bleibt begrenzt. Übernimmt ein Feld aus LED-Zellen die Leuchtaufgaben, kann die Elektronik überall dort die Lichtleistung herunterregeln, in denen der Bildinhalt Dunkelheit verlangt. Das vertieft den Kontrast deutlich und senkt die Stromrechnung spürbar.

Die Verwirklichung solcher Lösungen ist freilich kniffliger, als sich die grobe Funktionsbeschreibung anhört. Geräte mittlerer Preisklassen können das Hinterleuchtungsraster nicht annähernd so fein gestalten wie die LCD-Schirme Bildpunkte differenzieren. Typische vollflächige LED-Hinterleuchtungen setzen sich aus etwa 100 bis 200 Lichtsegmenten zusammen. Daraus erwächst das Risiko, dass sich die Grenzen der viereckigen Lichtzonen im Fernsehbild abzeichnen. Davor sollen Diffusorscheiben schützen, die zwischen LED-Hinterleuchtung und LCD-Panel sitzen. Sie verwischen die Grenzen der Segmente, und zusätzlich helfen elektronische Signalkorrekturen, das Bild an die nun eher wolkige Lichtverteilung anzupassen. Ob die Lichtzonen dennoch sichtbar werden, offenbart ein simpler Test im Elektronik-Supermarkt: Laufen die Fernseher der engeren Wahl mit voll aufgedrehtem Kontrast und großer Helligkeit, und liefert das Programm überdies noch kontrastreiche Szenen, trennt sich die Spreu vom Weizen.

Es gibt aber auch noch weit anspruchsvollere Arten, das Local-Dimming-Prinzip zu perfektionieren. So rüstet Sharp sein Flaggschiff-Modell LC-XS1E (Bildschirmdiagonale: stolze 165 Zentimeter) mit einer LED-Hinterleuchtung aus, die sich aus 1568 Lichtsegmenten zusammensetzt und damit einen Weltrekord markiert. Außerdem spendiert der Hersteller diesem Boliden statt der einfachen weißen LEDs Gruppen aus roten, grünen und blauen Exemplaren; Sony und Samsung gönnen ihren Spitzenmodellen ebenfalls das Mischlicht aus den drei Grundfarben, Fachkürzel: RGB. Der Vorteil: Diese Lichtquellen decken einen größeren Farbraum ab, können also sichtbar dazu beitragen, die Motive mit feineren, natürlicher wirkenden Farbnuancen auf die Bildfläche zu bringen. Allerdings ist diese Art von Fernsehspaß noch sündhaft teuer: Sharp will für sein Renommierstück rund 12 000 Euro; auch diese Größe liegt auf Rekordniveau.

LED-Hinterleuchtungen haben noch eine andere interessante Eigenschaft: Gruppieren sie sich nur am Rand des Bildschirms und verteilen ihr Licht mit Hilfe einer speziellen Folie, so helfen sie, Bautiefe zu sparen. Folglich gibt es immer mehr elegante Bildschirme, die kaum noch dicker sind als ein Zeigefinger. Der Nachteil dieser Edge-Lit genannten Seitenbestrahlung: Local Dimming funktioniert höchstens rudimentär, und die Helligkeit größerer Bildschirme nimmt zur Mitte hin ab. Für Geräte, die solche Risiken dank vollflächiger Hinterleuchtung umgehen, haben Marketing-Linguisten deshalb schon den Begriff Full LED Backlight erfunden.

Schnellere Einzelbild-Folgen sorgen für schärfere Konturen

Das andere große Technik-Thema der Fernsehsaison hat mit der scharfen Darstellung von Bewegungen zu tun. LCD-Fernseher neigen dazu, schnell bewegte Bilddetails zu verwischen – nicht etwa, weil sie zu träge wären, auf flinke Veränderungen des Bildinhalts zu reagieren. Diese ursprünglich LCD-typische Schwäche haben die Bildschirme heute weitgehend überwunden. Das Problem entsteht so: LCD-Fernseher lassen jedes Einzelbild so lange stehen, bis der Sender das nächste liefert. Unsere Wahrnehmung verarbeitet Ruhephase und abrupten Wechsel zu einem Glissando mit verwischten Konturen. Ein probates Mittel gegen diesen Effekt besteht darin, die Anzahl der Einzelbilder in jeder Sekunde zu erhöhen. Der Kunstgriff ist eigentlich alt: Schon Röhrengeräte verdoppelten die 50 vom Sender stammenden Bilder je Sekunde, also die Bildfrequenz von 50 Hertz, auf 100 Hertz. In der Analog-Ära ging es allerdings darum, das Flimmern heller Bildpartien in den Griff zu bekommen. 100-Hertz-Technik zählt heute auch zur Ausstattung der meisten größeren Flachbild-Fernseher, und ihr bildschärfender Einfluss ist nicht zu übersehen.

Schon im vorigen Jahr setzte Sony als erster Hersteller noch eins drauf, mit der Vervierfachung der Bildfrequenz auf 200 Hertz. Konkret: Zwischen jeweils zwei vom Sender gelieferte Einzelbilder fügt die Fernseher-Elektronik drei weitere, komplett neu errechnete ein. Wie gut diese Maßnahme wirkt, hängt ganz davon ab, wie präzise es der Elektronik gelingt, die Bewegungsrichtungen im Bild vorherzusagen und so den virtuellen Zwischenbildern bis in die kleinsten Details hinein möglichst fehlerfreie Konturen zu verpassen. Sony hat seine 200-Hertz-Elektronik übrigens, das sei als patriotische Fußnote gestattet, nicht im fernen Tokio, sondern in seinem Stuttgarter Forschungslabor entwickelt, und von da aus machte das Beispiel Schule: Zur IFA gab es schon mehr als 30 verschiedene 200-Hertz-Modelle aller großen Hersteller. Allerdings: Nicht überall, wo 200 Hertz draufsteht, sind auch wirklich 200 vollständige Bilder in jeder Sekunde drin. Toshiba und LG etwa wenden in einigen Modellen einen Kunstgriff an, der durchaus brauchbare Resultate zeitigt: Dunkelphasen zwischen den Einzelbildern, auf wechselnde horizontale Teilbereiche des Bildschirms verteilt, sparen Rechenleistung, sprich Kosten, und helfen unseren Sinnen ebenfalls, konturenscharfe Bewegtbilder zu sehen. Allerdings verringert diese Scanning Backlight genannte Lösung die Bildhelligkeit.

Insgesamt gilt: Der Unterschied zwischen der Original-Bildfolge von 50 Hertz und errechneten 100 Hertz ist deutlich sichtbar. Die Differenzen zwischen 100 und 200 Hertz dagegen fallen subtiler aus; gute 100-Hertz-Geräte können manchmal sogar klarere Bilder produzieren als weniger gute 200-Hertz-Versionen. Am besten lässt sich die Wirkung der wundersamen Bildvermehrung mit Test-DVDs (etwa von Burosch, www.burosch.de) ermitteln, die Laufschriften auf die Mattscheibe bringen. Gute Geräte zeigen den Text klar und ohne Doppelkonturen.

Und noch etwas lässt sich als Fazit festhalten: LCD-Fernseher mit noch höheren Bildfrequenzen sind kaum zu erwarten. Sie bringen keine subjektiven Verbesserungen mehr – und sie würden auch das Reaktionsvermögen der LCD-Schirme überfordern. Denn ein bisschen träge ist diese Gattung der Flachmänner immer noch, aber solange sie damit nicht die Trägheit unserer biologischen Bildverarbeitung überbietet, sei es ihr gestattet.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 06.10.2009 Seite T1

Was ist mit der Kultur passiert?

Heinrich August Winklers "Geschichte des Westens" konzentriert sich allein auf die Politik. Das ist Stärke und Schwäche dieses monumentalen Werks.

Mit dem lapidaren Satz "Am Anfang war ein Glaube: der Glaube an einen Gott" hebt das vorliegende Riesenwerk an. Der Monotheismus war der Stammvater "des Westens", behauptet Heinrich August Winkler, und er nahm seinen Anfang im Ägypten des vierzehnten vorchristlichen Jahrhunderts, als König Amenophis IV. (Echnaton) den Sonnengott Aton zum alleinigen Gott erklärte. Zwar fielen die Ägypter bald wieder in ihren gewohnten Polytheismus zurück, doch wurde Aton durch Moses am Leben erhalten, wenngleich unter dem neuen Namen Jehova und mit einer neuen Theologie versehen. Dieser jüdische Monotheismus war es, so Winkler, der den Prozess der "Rationalisierung, Zivilisierung und Intellektualisierung" einleitete und den Westen schuf.

Bevor es dazu kommen konnte, bedurfte es jedoch einer weiteren entscheidenden Entwicklung. Auch sie war ein Ausfluss derselben religiösen Tradition, genauer gesagt, von Jesu Antwort auf die Frage, ob es recht sei, dass man dem römischen Kaiser Steuern zahle: "So gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!" Denn mit dieser Aufforderung nahm die Gewaltenteilung ihren Anfang. Im Mittelalter kam die Trennung zwischen dem Monarchen und den Ständen hinzu, deren dramatischste Episode sich 1215 ereignete, als König Johann auf Druck der englischen Barone die Magna Charta unterzeichnen musste.

Nachdem Montesquieu das Prinzip der Gewaltenteilung 1748 in seinem "De l'esprit des lois" maßgeblich formuliert hatte, wurde es 1776 in der amerikanischen und 1789 in der französischen Revolution von der Theorie in die Praxis umgesetzt und in den Verfassungen beider Länder verankert. Indem sie darüber hinaus die Prinzipien der Volkssouveränität und der Rechtsstaatlichkeit etablierten, vollendeten diese beiden weltgeschichtlichen Ereignisse das westliche Projekt. Seitdem, so Winkler, wird die politische Geschichte des Westens von Kämpfen "um die Aneignung oder Verwerfung des normativen Projekts der beiden atlantischen Revolutionen" bestimmt.

Dieses Szenario wirft eine naheliegende Frage auf: Was ist mit den Griechen passiert? Die verblüffende Antwort lautet: Sie sind ausgeklammert worden. Winkler führt uns ohne Umschweife von Moses zu Jesus, wobei als einziges Bindeglied seine Beobachtung dienen muss, Jesus habe "in einer Tradition des hellenistischen Judentums" gestanden. Aristoteles und Platon treten nur in Erscheinung, insofern sie Beiträge zur Entwicklung des Christentums und zur Renaissance in Italien geleistet haben. Der griechische Unabhängigkeitskampf in den 1820er Jahren nimmt in Winklers Darstellung breiteren Raum ein als das gesamte klassische Griechenland. Das Buch enthält mehr Verweise auf Frankfurt am Main als auf jede Phase der griechischen Geschichte. Den polytheistischen Römern geht es nur unwesentlich besser, dauerte es doch bis 312 nach Christus, bis endlich ein Kaiser – Konstantin – die Vorzüge des Monotheismus begriff. Dass Winkler die klassischen Wurzeln ignoriert, ist einigermaßen kühn und schreit nach einer wesentlich ausführlicheren Begründung, als hier gegeben wird, nämlich gar keine.

Die antike Welt auf das Judentum/Christentum zu reduzieren verleiht dem Buch seine spezifische chronologische Struktur, die einer auf der Spitze stehenden Pyramide gleicht. Das christliche Zeitalter wird auf Seite 30 erreicht, Karl der Große auf Seite 42 und die Magna Charta auf Seite 62. Konstantinopel fällt auf Seite 89 an die Türken, die italienische Renaissance beginnt auf Seite 93 und Luthers Reformation auf Seite 111. Nachdem die folgenden zweihundert Jahre auf sechzig atemlosen Seiten durchgenommen worden sind, lässt das Tempo spürbar nach. Nichtsdestotrotz sind wir bei den Revolutionen von 1848/49, bevor die Hälfte des Buches erreicht ist, wodurch für die letzten rund 150 Jahre gewaltig viel Platz bleibt. Dieses Ungleichgewicht wäre nicht so frappant, hätten die vorangegangenen Kapitel nicht so viele Fragen unbeantwortet gelassen und so viele Steine nicht umgedreht.

Im Rahmen der von ihm gezogenen Grenzen freilich liefert Winkler ein Buch von hoher, ja sehr hoher Qualität. Winklers größter Vorzug besteht in der Gabe, eine flüssige, stichhaltige und überzeugende politische Darstellung und Analyse zu verfassen. Obwohl er Stilmittel wie die Charakterskizze oder die unterhaltsame Vignette meidet, schreibt er nie langweilig oder unverständlich. Auch finden sich viele einprägsame Aphorismen. Darüber hinaus werden wir von dem "Warum einfach, wenn's auch schwierig geht"-Syndrom verschont, von dem einige führende Vertreter der deutschen Historikerzunft befallen sind. Winkler ist mit der besten – älteren wie neueren – deutschen, französischen, englischen und amerikanischen Literatur gründlich vertraut. Wer nach einer verlässlichen, umfassenden und lesbaren Darstellung der politischen Geschichte des Westens in der Neuzeit sucht, könnte nicht besser bedient sein.

Zwei besondere Vorzüge des Buches sollen hervorgehoben werden. Der erste ist der regelmäßige Einschub von substantiellen Abschnitten zur politischen Theorie, die den Leser zum Nachdenken und zur begrifflichen Klärung anregen. Besonders eindrucksvoll sind die Essays über Machiavelli, Hobbes, Locke, Rousseau und Tocqueville ausgefallen. Die schiere Breite seiner Kenntnisse und Tiefgründigkeit seines Verständnisses erlauben es Winkler zudem, die unterschiedlichsten erhellenden Querverweise sowohl geographischer als auch chronologischer Art anzubringen. Nachdem Kolumbus erst einmal in Südamerika und die Pilgerväter im Norden angelangt sind, mausert sich das Buch wahrhaft zur Geschichte des Westens. So weist Winkler darauf hin, dass 1848, als Europa durch seine Revolutionen von sich reden machte, die folgenreichsten Ereignisse in den Vereinigten Staaten der Vertrag von Guadalupe Hidalgo mit Mexiko sowie Goldfunde in Kalifornien waren. Wie dieses Beispiel andeutet, bekommt die Entwicklung in Nordamerika die Aufmerksamkeit, die sie verdient, und wird in den Hauptstrom der Erzählung integriert.

So gut sich Winklers konzeptueller Rahmen als übergreifendes Erklärungsschema eignet, wirft seine unermüdliche Betonung des "normativen Projekts" doch unbequeme Fragen nach der Fülle von Ausnahmen und Abweichungen auf. Insbesondere könnte man meinen, der Autor messe Verfassungsdokumenten wie der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte zu viel und der politischen Praxis zu wenig Gewicht bei. Trotz ihrer umfassenden Missachtung von Volkssouveränität, unveräußerlichen Menschenrechten oder der Gewaltenteilung gab es im "alten Regime" Großbritanniens oder dem Heiligen Römischen Reich mehr Freiheit als im revolutionären Frankreich, und zwar aus dem einfachen Grund, weil ihre morschen Strukturen den Pluralismus wenn nicht auf dem Papier, so doch realiter förderten. Winkler sieht ganz richtig, dass die Pluralität der Nationen einen wichtigen Bestandteil der spezifisch westlichen Politik bildete, doch seine einengenden normativen Kategorien verstellen ihm den Blick für das pluralistische Freiheitspotential, das gewöhnliche Männer und Frauen in der Zivilgesellschaft genießen.

Winkler bietet so viel, dass es ungehobelt erschiene, mehr zu verlangen. Kann aber eine Geschichte des Westens wirklich zufriedenstellen, die sich unter Ausschluss von praktisch allem anderen allein auf die Politik konzentriert? Von kurzen Passagen über mittelalterliche Städte und die industrielle Revolution abgesehen, bleibt die Wirtschaft ebenso ausgeklammert wie die mit ihr verbundenen sozialen Entwicklungen. Etwas mehr Aufmerksamkeit für die Entwicklung des Kapitalismus hätte vielleicht Zweifel daran gesät, ob man den Westen mit bestimmten positiven Merkmalen identifizieren kann, die sich allgemeiner, wenn vielleicht auch nicht einmütiger Zustimmung sicher sein dürfen. Handelte es sich bei Sklaverei, kolonialem Völkermord, Kinderarbeit und Antisemitismus wirklich nur um Irrwege – oder nicht doch um integrale Bestandteile des westlichen Prozesses? Der Westen gleicht eher Janus als Athena. Zudem ist die Welt in diesem Buch in hohem Maße eine von Männern, genauer gesagt, von heterosexuellen Männern. Die eine Buchseite, die den Frauen gewidmet ist, wirkt noch kümmerlicher, wenn man sie mit dem Luxus der folgenden zwanzig über (männliche) Arbeiter vergleicht. Von den marginalisierten und verfolgten Gruppen der Gesellschaft werden nur die Juden mit gebührender Aufmerksamkeit behandelt.

Die größte Auslassung betrifft die Kultur. Winklers Westen verfügt über eine politische Kultur, über die er sich ausführlich und mit großem Scharfsinn äußert; bildende Künste, Literatur oder Musik aber scheint dieser Westen nicht zu kennen. So wird die künstlerische Moderne in einem knappen Absatz abgefertigt. Shakespeare muss sich seinen einen Satz mit Dante und Cervantes teilen. Johann Sebastian Bach kommt lediglich vor, weil eines seines Orgelwerke beim Internationalen Sozialistenkongress 1912 in Basel gespielt wurde. Wagner hat einen flüchtigen Auftritt, jedoch nur als politischer Revolutionär. Mozart, Beethoven und Verdi – um nur einige der berühmtesten Abwesenden zu nennen – werden nicht einmal erwähnt. Winklers Westen ist einer für den politisch anspruchsvollen Kulturbanausen.             Tim Blanning


 

Aus dem Englischen von Michael Adrian.
Heinrich August Winkler: "Geschichte des Westens". Bd. 1: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert. C. H. Beck Verlag, München 2009. 1343 S., geb., 38,– €.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.10.2009 Seite 35

Brücke zwischen MP3 und High-End


 


 

Peachtree Nova: ein Vollverstärker, der Kompromisse veredeln kann

Die Verfechter schönen HiFi-Klangs haben mindestens so große Nachwuchssorgen wie der Motorradhandel. Die Computer- und Telekommunikationswelt hält junge Leute heute so gefangen, dass die Bikes ebenso das Nachsehen haben wie der von entsprechend hochwertigem Gerät servierte Ohrenschmaus. Datenreduzierte Musiksoftware beherrscht die Szene, Festplatten und USB-Speicher dienen als Vorratslager von Klängen, die bei High-Endern Kopfschütteln provozieren. Doch es gibt Brücken zwischen diesen Kontinenten. Eine davon heißt, poetisch genug, Peachtree Nova, stammt aus Amerika (und, was die Fertigung betrifft, aus China) und will das digitale Prekariat mit der akustischen Wohlhabenheit verwöhnter Ohren versöhnen.

Technisch gesprochen, ist der Nova nichts anderes als ein Zwei-Kanal-Vollverstärker. Er sieht aber so ganz anders aus als die übliche HiFi-Architektur: kein eckiger schwarzer Kasten, sondern ein wohlgerundetes Ding mit tadellosem Außenfinish. Das 36 Zentimeter breite hölzerne Gehäuse rings um die Aluminiumfront ist in zwei verschiedenen Furnieren oder Schwarz Hochglanz zu haben. Vorn neben dem Lautstärkesteller (fernbedienbar wie die anderen Funktionen des Pfirsichbaums) der Netzschalter und nicht weniger als acht Knöpfe zur Quellenwahl sowie ein Fensterchen, hinter dem man unschwer eine Elektronenröhre erkennt. Hinten eine sauber gekennzeichnete An-schlussvielfalt mit ordentlichen Cinch- und optischen Buchsen, dazu solide Lautsprecherklemmen, ein Stereoausgang für einen Subwoofer oder eine externe Endstufe und ein mit einer Platte verschlossenes Loch, auf das wir noch zu sprechen kommen.

Die Mission des Nova wird schon an der Frontbeschriftung deutlich: Nur drei von acht Eingängen betreffen analoge Zuspieler (darunter einer, der direkt zur Endstufe weiterführt), die anderen warten auf digitale Kost, die auch über eine USB-Buchse Zugang hat. Dekodiert werden fast alle gängigen Formate, neben MP3 und MP4 auch WAV, Apple Lossless und andere. Die Röhre gehört zum Vorverstärkerzweig (die auch einen anspruchsvollen Kopfhörer-Röhrenverstärker umfasst) und soll hier mit einer Prise harmonischen Klirrs für mehr musikalische Wärme sorgen; zugunsten höherwertigen Quellmaterials lässt sie sich auch umgehen. Die Endstufe liefert 2 × 70 Watt an 4 Ohm und kann so auch leistungshungrige Lautsprecher versorgen. Der streuarme Ringkerntransformator ist kräftig dimensioniert (der Nova wiegt nicht zuletzt deswegen 13,5 Kilogramm), das Netzkabel ist abnehmbar – im High-End-Bereich ein Muss, damit man auch hier die freie Wahl hat. Im Signalweg arbeitet ein 24-Bit-Digital-Analog-Wandler erster Qualität von ESS Sabre, dem sagenhafte 122 Dezibel Rauschspannungsabstand und totale Abwesenheit von Jitter (digitalen Verzerrungen) attestiert werden. Damit ist der Nova natürlich Billig-Wandlern im Konsumbereich so haushoch überlegen, dass man ihn an solche Quellen, auch wenn die Wahl besteht, jedenfalls digital anschließen sollte. Mit Knopfdruck kann man zwischen zwei Digitalfiltern mit den Charakteristiken "langsam" und "scharf" wählen.

Jetzt aber zum Klang des Peachtree. Nach kurzer Einspielzeit probierten wir ihn zuerst mit den kleinen Boxen ds 4.5 aus, die – auch optisch passend – zum Nova angeboten werden (Paarpreis 600 Euro). Es sind Zwei-Wege-Systeme mit einer 2,5-Zentimeter-Textilkalotte für die hohen Frequenzen und einem 10-Zentimeter-Konustieftöner. Nach recht kurzer Einspielzeit ging das Gespann erfreulich zur Sache: Mit vollwertigem Musikmaterial war das keine Überraschung – hier stellte sich der Nova mehr als Klanggourmet denn als Analytiker vor –, doch wie er die Zusammenarbeit mit iPod (analog angeschlossen), MP3-Spielern (über USB), Satellitenradio (über einen koaxialen Digitaleingang) und Computer-Festplatte (USB, kein Treiber erforderlich) gestaltet, das war schon besonders hörenswert. Hier zeigt er tatsächlich sein Talent, aus datenreduziertem Material oder mit minderwertigen Wandlern gestraften Quellen ein Maximum an Klang herauszuholen. Ob man dabei die Röhre (per Fernbedienung) einschaltet oder welchen Filter man wählt (an der Geräterückseite), ist Geschmackssache; gewaltig sind die Unterschiede jeweils nicht, doch durchaus hörbar. Die nur 22 Zentimeter hohen Böxchen stehen dabei wacker ihren Mann, mit einem achtbaren Bass und gut durch-gezeichneten Höhen. Wir haben den Nova aber auch mit größeren und teureren Lautsprechern zusammengebracht: Hier hält er mit anderen Vollverstärkern seiner Preisklasse mühelos mit.

Nicht zuletzt die luxuriöse Wandler-Sektion des Nova rechtfertigt seinen Preis von rund 1300 Euro, aber auch seine sonstige technische Ausstattung und sein ansprechendes, wohnzimmergerechtes Aussehen. Und da kommen wir noch einmal auf den Schacht an seiner Rückseite: Er ist eine Frucht der Sympathie zwischen Peachtree Audio und Sonos, dem kalifornischen Spezialisten für hochwertige kabellose Mehrraum-Anlagen (Technik und Motor vom 29. September), und kann ein Zone-Player-Modul Z80 oder Z90 aus dessen Programm unsichtbar aufnehmen, so dass sich die Außenstellen einer Sonos-Anlage optisch auf das Nova-Gehäuse reduzieren lassen. Ob mit oder ohne Sonos – der Nova (und sein rund 900 Euro kostender, äußerlich gleicher Bruder Decco II, der nur sieben Eingänge hat und 2×40 Watt leistet) hat das Zeug dazu, dem weniger anspruchsvollen Zweig der Digital-Szene die Tür zur High-End-Welt wenigstens ein Stückchen zu öffnen. Wer davon Gebrauch macht, dessen Ohren werden es nicht bereuen.       Gerold Lingnau


 

Vertrieb: Robert Ross Audiophile Produkte GmbH, 85095 Denkendorf, Telefon 0 84 66/90 50 30, www.peachtreeaudio.de.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.10.2009 Seite T2

Tod eines Torwarts

Die ARD macht aus dem Fall Enke einen Spielbericht

Ein Satz, der harmlos daherkommt und doch geradezu brutal ist: "Sportlich erfolgreich, doch im Privaten erlebt er einen herben Rückschlag – seine leibliche Tochter stirbt vor drei Jahren an einem schweren Herzfehler." Gesendet wurde diese öffentlich-rechtliche Rohheit am späten Dienstagabend im Nachtmagazin der ARD zum Tod des Fußball-Nationaltorwarts Robert Enke, der sich wenige Stunden zuvor das Leben genommen hatte.

Ist es denn so, dass dieser Mann, der als sensibel und sozial galt, doch bloß ein Karrierist war, dem auf seinem Weg nach oben der Tod der eigenen Tochter in die Quere kommt, als Störfall gewissermaßen? Einen "herben Rückschlag" mag man das Ausscheiden aus der Champions League nennen, aber nicht das der Tochter aus dem Leben. Und es ist in diesem Zusammenhang auch nicht nötig, deren Leiblichkeit hervorzuheben, als wäre es weniger schlimm gewesen, wenn es sich um ein adoptiertes Kind gehandelt hätte.

Es ist weiß Gott schwer, in Todesfällen die richtigen Worte zu finden. Gelungen ist dies vor Jahren bei Johnny Cash. Marietta Slomka sagte nämlich eigentlich nichts, erwähnte dessen Tod nur, ließ dann ein wahrhaft bewegendes Video des Musikers laufen, kam wieder ins Bild, schluckte und ging dann ernst und wortlos über zum nächsten Thema. Jeder Zuschauer konnte sich seine eigenen Gedanken machen und war doch nicht allein damit, denn er sah: An der Moderatorin geht das auch nicht spurlos vorüber, und dieser Eindruck genügt ja vielleicht auch schon.

Was soll man über einen Selbstmörder auch öffentlich sagen, das über die üblichen Versatzstücke, die Sprach- und Fassungslosigkeit zum Ausdruck bringen, hinaus- und doch nicht zu weit geht? Es wäre verfehlt, hier überkritische Haltungsnoten zu vergeben. Aber die Rede vom "herben Rückschlag" ist eine Entgleisung, die tiefer blicken lässt und womöglich mit dem geradezu grotesken Überhandnehmen der Fußball-Berichterstattung in den beiden öffentlich-rechtlichen Sendern zusammenhängt. ARD und ZDF lassen sich die Übertragungsrechte einiges kosten, darum zeigen sie auch viel. Aber sie zeigen inzwischen zu viel.

Die massive Präsenz des Fußballs schafft sich ihren eigenen Kommunikationsstil, der zur Emotionalisierung neigt und auf andere Bereiche abfärbt. Da wird es dann auch in der Politik und der Wirtschaft üblich, von Auf- und Absteigern, von Duellen und Niederlagen zu sprechen. Im Fußball hat das dazu geführt, dass sich die Fernsehberichterstattung über weite Strecken damit begnügt, den immer einstudierter wirkenden Torjubel der Spieler zu zeigen und diese anschließend auch noch zu interviewen, um zu erfahren, was man doch schon gesehen hat: wie sich der Torschütze oder Torwart gefühlt habe.

So erscheint es nun fast als konsequent, wenn die Berichterstattung über einen so existentiellen Fall in den Jargon des Sportjournalismus zurückfällt. Man tut dann so, als ließe sich eine Lebensgeschichte beschreiben wie ein Spiel oder eine Saison. Der Tod eines Kindes ist dann eben ein herber Rückschlag im Auf und Ab eines Lebens, das der Logik des Tabellenstands gehorcht und an dessen Ende die Meisterschaft oder der Abstieg steht.

Es fällt anlässlich dieses Todesfalles noch etwas anderes ins Auge, das allgemein journalistischer Natur ist: Die öffentlich-rechtlichen Nachrichtensendungen haben inzwischen Schwierigkeiten, angemessen auf solche Ereignisse zu reagieren, weil sie ohnehin schon so vieles dramatisieren, personalisieren und boulevardisieren. Das ist auch eine Frage des Sendeformats. Wir nehmen es hin, dass die "Tagesthemen", das "Heute-Journal" und das "Morgenmagazin" keine Nachrichtensendungen sind, sondern "Nachrichtenjournale", bei denen es immer wichtiger wird, wie die Moderatoren sich in Szene setzen. Nicht nur dass sie sich vertraulich das Wort erteilen – auch der Vor- und der Abspann der Sendungen, die die Zuschauer eigentlich gar nicht zu interessieren haben, zeigen sie durchweg schäkernd und bestens gelaunt, als gäbe es nur Erfreuliches zu berichten. Wie soll man inmitten dieses Terrors von Intimität noch den richtigen Ton für etwas treffen, von dem sich ein ganzes Land bestürzt zeigt?

In diesen Rahmen passt eine Todesnachricht denkbar schlecht. Das "Morgenmagazin" weckte am Mittwoch Befremden. Der Zuschauer konnte erwarten, dass der erste Beitrag dem Tod des Torwarts gelten würde. Aber dass die Moderatoren während der Überleitung zu den Nachrichten mit ihrer Trauer einen Platz füllten, der normalerweise für ihr neckisches Geplänkel vorgesehen ist, wirkte abstoßend. Man musste ja daran denken, dass sie eigentlich viel lieber miteinander schäkern.

Es mag gerade in solchen Fällen eine Katharsis durch die Medien nötig sein. Moderatoren nehmen es dem Zuschauer ab, einer Trauer Ausdruck zu verleihen, und man orientiert sich dabei an einem seriösen Rahmen. Selten machte sich die Preisgabe einer Neutralität, die doch gerade in solchen Fällen Halt gibt, weil sie jedermann noch Raum für eigene Empfindungen lässt, so krass bemerkbar wie jetzt. Man hatte sich die Übertragungsrechte gesichert, aber der Tod Robert Enkes stand nicht auf dem Spielplan.      EDO REENTS

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.11.2009 Seite 29

Schluss mit den Mauerlegenden!

Das zum Jahrestag des 9. November ständig wiederholte Mantra, das Ende des Kommunismus sei unvorhersehbar gewesen, ist eine Entstellung der Tatsachen. Von Bernard-Henri Lévy

Wir sind dabei, einen neuen Mythos zu erschaffen: den des "Mauerfalls, den niemand vorausgesehen hat".

Natürlich hat niemand gewusst, wann es dazu kommen würde. Und auch das liegt auf der Hand: Mit der Form dieser Revolution verhielt es sich ebenso wie mit der Form aller wahren Revolutionen, die den geregelten Gang der Dinge unterbrechen. Keine historische Erklärung vermag das Geschehen vollständig zu begründen, weil auch diese Revolution von Dingen abhing, deren Auftreten die normale Logik der Geschichte außer Kraft setzten. Wir wurden hier gleichsam Zeugen eines Wunders, in dem die kleinen Leute der kleinen Staaten Mitteleuropas den großen Mächten das Steuer der großen Geschichte aus der Hand und das eigene Schicksal wieder in die eigenen Hände nahmen.

Doch wenn wir daraus schlössen, wir hätten dem Schauspiel vollkommen verblüfft beigewohnt; wenn wir aus der zutreffenden Tatsache, dass dieses Geschehen sich nicht vorausberechnen ließ, den falschen Schluss zögen, es sei auch unvorstellbar gewesen; also wenn wir aus dem außergewöhnlichen Charakter dieser unerwarteten Wendung die Vorstellung herleiteten, die ganze Welt hätte das Märchen einer unvergänglichen Sowjetherrschaft geglaubt, dann entspräche das weder der Wahrheit noch der Erinnerung derer, die das Glück hatten, diesen unerhörten Augenblick zu erleben.

Ich erinnere mich an Schriftsteller, von Schalamow bis Solschenizyn, die sehr deutlich vorausgesehen haben, dass der Kommunismus untergehen würde. Ich erinnere mich an die Männer und Frauen, die man Dissidenten nannte und die – wie Andrei Amalrik, der schon 1970 ein Buch schrieb, das den Titel trug "Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben?" – allenfalls am Datum des Untergangs Zweifel hegten. Ich erinnere mich an Intellektuelle, die im Westen das Wort dieser Dissidenten aufgriffen und damit dem antitotalitären Denken neues Leben einhauchten. Ihre Botschaft lautete, die Entlarvung des Schwindels sei nicht nur wünschenswert, sondern auch wahrscheinlich und auf kürzere oder längere Sicht unausweichlich. Ich erinnere mich an einen Essayisten, Cornelius Castoriadis, der in einem seiner letzten Bücher, "Devant la Guerre", in der Hypertrophie des sowjetischen Militärapparats und seinem exponentiellen, irrsinnigen, metastasenartigen Wachstum das Symptom einer Krebsgeschwulst erblickte, die das System auffraß und zum Tode verurteilte.

Ich erinnere mich, um hier ausschließlich auf Verstorbene zu verweisen, an einen anderen Essayisten, Jean-François Revel, der niemals solche Trauer über die "totalitäre Versuchung" in den Demokratien, über die "große Parade", zu der sie sich bereitfanden, um den versteinerten Herren eines seinerseits versteinerten Sowjetsystems zu gefallen, und über ihre unverständliche, betrübliche, selbstmörderische "Feigheit" zum Ausdruck gebracht hätte, wenn ihm nicht bewusst gewesen wäre, dass diese Regime im Sterben lagen.

Ich erinnere mich an Michel Foucault, der immer wieder gesagt hat, dass jede Diskursformation wie auch jedes politische Gebilde geboren wird, also auch stirbt – und dass dieses Gebilde eines Tages wie alle anderen sterben wird.

Ich erinnere mich an Papst Johannes Paul II., der an die Erscheinung der Jungfrau Maria in Fatima erinnerte, die bereits im Mai 1917 den drei Hirtenkindern den Tod des Sowjetregimes geweissagt hatte, und der uns ohne Umschweife erklärte, die lang ersehnte Stunde sei nicht mehr fern.

Ich erinnere mich an die einfachen Leute, denen ich vor 1989 auf meinen Reisen in die Tschechoslowakei, nach Polen und in die Sowjetunion begegnete und die sich immer weniger von einer Mystifizierung täuschen ließen, welche sich allenfalls noch auf die von ihr verbreitete Angst stützen konnte oder auf die Willensschwäche einer "freien Welt", die ihre eigenen Werte verriet.

Anders gesagt, wir sind dabei, zwei Dinge miteinander zu verwechseln: Feigheit und Taubheit. Die Tatsache, dass man nichts hören wollte, mit der Tatsache, dass nichts gesagt worden wäre.

Die Haltung eines Kissinger, Brandt oder Giscard d'Estaing, die vor den Unterdrückten im Osten die Türe zuschlugen; die Haltung Thatchers oder Mitterrands, die, wie wir heute wissen, bis zum letzten Augenblick alles taten, um die Wiedervereinigung Deutschlands zu verhindern und die alte Ordnung zu retten; die Haltung schließlich eines intellektuellen Klerus, der in seiner übergroßen Mehrheit, in Schweden oder Norwegen wie in Frankreich, nichts über den fortdauernden Skandal zu sagen wusste, der die Hälfte Europas in einem Raum, einer Zeit und einer Zivilisation gänzlich anderer Art gefangen hielt – wir sind dabei, all das zu verwechseln mit der scheinbaren Stummheit, dem langen, stillen Grollen jener Völker, die dort im Osten längst alles verstanden hatten und nur auf den letzten Funken warteten, der ihnen den Mut gab zu sagen, dass der König, also die Diktatur, nackt war.

Diese Verwechslung ist schlimmer als ein Irrtum. Sie ist ein Fehler.

Sie ist schlimmer als eine Legende, sie ist Desinformation.

Und diese Desinformation vertreibt die Lüge nicht, sondern lässt sie auf andere Weise weiterleben. Damit löscht man eine jahrzehntelange Geschichte des Denkens und des Kampfes aus dem Gedächtnis. Und man bereitet die entmutigende Zukunft einer umgeschriebenen, manipulierten, revidierten Geschichte vor.

Schluss mit den banalen, bis zum Erbrechen wiederholten Klischees! Und Ehre all denen, die mit dem Kopf oder mit den Füßen den Zusammenbruch kommen sahen und ihn beschleunigten!


 

Aus dem Französischen von Michael Bischoff.


 

Der französische Publizist Bernard-Henri Lévy, geboren 1948, veröffentlichte auf Deutsch zuletzt seinen Briefwechsel mit Michel Houellebecq unter dem Titel "Volksfeinde – Ein Schlagabtausch".

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.11.2009 Seite 31

Tina Turner wird 70


 


 

Tina Turner Das schönste Gesicht des Rhythm & Blues Groß gemacht und beinahe zerstört von ihrem Ehemann Ike, wurde sie eine der am meisten geachteten Rocksängerinnen überhaupt

Am 14. Mai 1981, einen Tag nach dem Papst-Attentat, berichtete die "New York Times" über ein Konzert im "Ritz". Es war die Rückkehr einer Dschungel-Aphrodite, die man lange nicht mehr gesehen hatte und die nun, im Alter von einundvierzig Jahren, sich anschickte, "die Mae West der Rockmusik" zu werden.

Die Zahl der Rückkehrer in der Unterhaltungsindustrie ist groß. Das Comeback, das Tina Turner feierte – allerdings noch nicht im "Ritz", sondern eigentlich erst drei Jahre später –, ist vermutlich eines der allergrößten und nur noch mit dem von Elvis Presley in Memphis zu vergleichen. Angekündigt war eine so gut wie mittellose, künstlerisch ausgebrannte Sängerin, die sich des Mae-West-Vergleichs jedoch insofern als würdig erwies, als sie auf der Bühne dann geradezu die Parodie einer unzüchtigen Frau gab: derb und humorvoll, Prostituierte und Gospelinterpretin in einem, die einen Mann, wie einst Mae West, auch jederzeit hätte fragen können: "Hast du 'ne Knarre in der Hose, oder freust du dich so, mich zu sehen?" Die Show muss jedenfalls enorm gewesen sein, und es spielt aus heutiger Sicht keine Rolle, ob sie es auch deswegen war, weil Tina Turner bloß ihre Unsicherheit verbergen wollte. Die Stimme jedenfalls, eine der wenigen, auf die das Attribut "Reibeisen" wirklich passt, hatte sich ihre einzigartige Kraft bewahrt, und ihre Beine, die immer als die schönsten im Rockzirkus gepriesen wurden, werden ihren Eindruck auch nicht verfehlt haben.

Dass sie aber in diesem Alter um ihr Leben sang, während Mae West wenige Jahre vorher mit achtzig noch ein sängerisches Comeback gewagt hatte, zeigt, wie sehr sich die Zeit zwischen Hollywoods golden age und der Reagan-Ära, aber auch, wie sehr sich unsere Wahrnehmung in den vergangenen dreißig Jahren geändert hat: Niemand käme heute auf die Idee, eine Einundvierzigjährige für alternd oder alt zu halten. Tina Turner selbst auch nicht, sonst hätte sie das Singen wohl längst aufgegeben.

Vier Produzenten und acht Songschreiber waren trotzdem nötig, um sie 1984 wieder richtig auf die Beine zu bringen. Der Boden war bereitet von schmeichelhafter Propaganda des Rockadels in Gestalt Mick Jaggers und David Bowies, die sie zu ihrer Lieblingssängerin erklärten – Jagger hatte noch andere Gründe, denn von Tina Turner lernte er im Prinzip erst tanzen. Im Sommer 1984 schoss die bei der alten Sinatra-Firma Capitol verlegte Platte "Private Dancer" in die Hitparaden, hielt sich lange darin und bekam vier Grammys. Obwohl sie keine direkten Anspielungen enthielt, war sie die Bewältigung einer Vergangenheit, die bitter gewesen sein muss. Was falsche Liebe betrifft, wusste sie jedenfalls, denn ihr Mann Ike, von dem sie nach "sechzehnjähriger Leibeigenschaft" geschieden wurde, ohne auch nur einen Penny für sich und ihre vier Kinder zu sehen, saß ihr quasi noch im Nacken, tauchte 1993 sogar bei den Dreharbeiten für den beklemmenden, auf ihrer Autobiographie basierenden Film "What's Love Got to Do With It?" auf und sorgte dafür, dass die Hauptdarstellerin Angela Bassett Leibwächter bekam.

Ike Turner hat sie groß gemacht, nachdem er Ende der fünfziger Jahre mit einem Blumenstrauß vor dem Elternhaus der gerade volljährigen Anna Mae Bullock aufgetaucht war und deren Mutter den Gentleman mit besten Absichten vorgespielt hatte. Und das Mädchen ließ sich darauf ein, nannte sich fortan Tina und machte die "Ike and Tina Turner Revue" zur absolut heißesten, obszön-gewagtesten Unterhaltungsshow, die es in den sechziger Jahren in Amerika gab. Tina konnte sich dabei in ihren Freizügigkeiten desto besser entfalten, da Ike ein Diktator wie James Brown war und den Laden mit seiner profunden Musikalität und einer bemerkenswerten Hitpalette zusammenhielt. Stöhnend und kreischend kämpfte sich Tina durch das Arsenal von "A Fool in Love" (1960) über die gewaltige Phil-Spector-Produktion "River Deep, Mountain High" (1966) und "Proud Mary" (1970) bis hin zu "Notbush City Limits" (1973). Der große Atlantic-Mann Jerry Wexler kam aus dem Staunen nicht mehr heraus: "Du musstest warten, bis du dreißig bist, um eine Sexbombe für die Blumenkinder werden zu können."

Ike Turner betrachtete sie trotzdem nicht als Allgemeingut, sondern als seine Erfindung, über die er nach Belieben verfügen zu können glaubte. Er schlug sie und hielt sie wie eine Gefangene. So hätte er Tina Turner beinahe zugrunde gerichtet. Aber sie hielt sich die achtziger und neunziger Jahre hindurch mit enorm erfolgreichen, verwegen betitelten Platten ("Break Every Rule", "Foreign Affairs", "Wildest Dreams"), mit strapaziösen und nur mit einer Physis wie ihrer zu absolvierenden Tourneen. So wurde sie sexiest grandmother ever und die wohl geachtetste Popsängerin überhaupt.

Wenn einen die Karriere der Tina Turner dennoch ein wenig melancholisch stimmt, dann deswegen, weil sie, nachdem ihr Ehegefängnis gesprengt war, Musik machte, die sehr genau auf den weißen Massenmarkt hin berechnet und insofern ein Verrat am Rhythm & Blues war. Das soll uns aber – um Buddhas willen (an den sie fest glaubt) – vom Gratulieren nicht abhalten. Am kommenden Donnerstag feiert Tina Turner ihren siebzigsten Geburtstag.      EDO REENTS

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.11.2009 Seite 32

Bologna-Reform

Willkommen an Bord der "Good Practice"!

Von Jürgen Kaube


 


 


 


 

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Widerstand gegen eine Reform ohne Plan

19. November 2009 Warum streiken, wogegen demonstrieren die Studenten denn? Wissen sie denn nicht: Der 1999 gestartete Bologna-Prozess hat zu einer erfolgreichen Modernisierung der deutschen Hochschulen beigetragen. Der Bologna-Prozess ist ein freiwilliger Prozess, der vor allem durch den Dialog der beteiligten Staaten und der eingebundenen Organisationen, der sogenannten Stakeholder, vorangetrieben wird. Der Austausch von Good Practice ist ein wesentliches Element der Zusammenarbeit. Die Umstellung greift, die Umsetzung des Bologna-Prozesses gewinnt an Fahrt.

Für die deutschen Hochschulen ist das ein Gewinn, denn der Bologna-Prozess ist ein wichtiger Beitrag zu ihrer Internationalisierung. Das Bachelor/Master-System eröffnet den Studierenden neue Möglichkeiten für eine Kombination attraktiver Qualifikationen sowie für eine flexiblere Verbindung von Lernen, beruflichen Tätigkeiten und privater Lebensplanung. Auch die Einführung der neuen Studiengänge kommt weiter gut voran. Die Kritik daran ist gestrig. Der Anspruch der Studenten, nicht nur auf Credit Points fixiert zu sein, muss ihre eigene Einstellung zum Studium prägen.

Nein, wir sind nicht übergeschnappt. Wir haben nur zitiert. Zitiert aus Reden und Verlautbarungen der Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU), ihres Staatssekretärs und des Ministeriums. Alles aus diesem Jahr, auch das mit der Fahrt.

Taktik statt Interesse

Jetzt hingegen, da die Studenten protestieren und aus den Hochschulen keine Meldungen kommen, die einen Erfolg von Bologna erkennen lassen, ist Frau Schavan, wie sie sagt, "die erste Ministerin auf Bundesebene, die gesagt hat: Die Reform ist richtig, braucht aber in der Umsetzung Korrekturen", was auch nicht schwierig war, weil sie überhaupt erst die zweite Ministerin im Zeitraum des Bologna-Prozesses ist. Jetzt versteht sie "die Anliegen" der Studenten, ihre Unzufriedenheit, fordert Länder und die Hochschulen auf, ihre Belange ernst zu nehmen. Und die Unternehmen werden ermahnt, die "richtigen Signale" zu geben, dass man mit dem Bachelor "hervorragende Berufschancen" hat.

Woher weiß Frau Schavan eigentlich, dass man diese Chancen hat? Und dass es durch den Bachelor hervorgebrachte Chancen sind, also nicht solche, die es trotz Bachelor gibt, oder solche, die gar nichts mit der Studienreform zu tun haben? Woher weiß sie, dass die Reform richtig ist? Kennt sie Hochschulen? Weiß sie, wie sich dort die Professoren, denen man Exzellenzanreize hingehalten hat, aus der Lehre in der Bachelor-Phase zurückziehen? Hat sie davon gehört, dass Bologna das Studierverhalten demoralisiert, weil es vielerorts zu rein notentaktischen Einstellungen auffordert? Dass das Vergnügen am Studium sinkt, weil es nur noch als Hindernisparcours wahrgenommen wird, auf dem es nicht mehr möglich ist, aus schlechten Seminaren auszusteigen, uninteressante zu überspringen, bei einer Sache, für die man sich begeistert, auch zu bleiben?

Der falsche Plan

Ist ihr die Wirklichkeit der schwachsinnigen Abrechnung von Studienleistungen nach "workloads" – also den "Kontaktzeiten" der Studierenden mit ihren Lehrern und der Pflichtlektüre – schon einmal begegnet? Weiß sie, dass man in Oxford oder Zürich nach wie vor lachen würde, wenn jemand unter Berufung auf ein deutsches Bachelor-Zertifikat den Zugang zum weiterführenden Studium erzwingen wollte? Hat sie davon gehört, dass es schon innerhalb Deutschlands ihre vielbeschworene "erhöhte Mobilität durch Bologna" nicht gibt? Und hat sie ihre Beamten schon einmal ausrechnen lassen, wie viel Zeit für Lehre und Forschung sie und ihresgleichen vernichten, indem sie das wissenschaftliche Personal in immer neue Drittmittelantragsverfahren, Exzellenzinitiativkommissionen, Selbst- und Fremdevaluationsprozesse, Ratings und Rankings, Studienordnungsdebatten und Akkreditierungen stürzen?

Das entscheidende Wort hier ist "ihresgleichen". Denn das Spiel, das jetzt beginnt, heißt "Wer hat's falsch umgesetzt?", und es ist ein verlogenes Spiel, weil nicht die Umsetzung falsch, sondern der Plan gedankenlos und ohne das geringste Gespür für naheliegende Folgen war. Dieses Spiel soll Unterschiede zwischen den Funktionären suggerieren.

So, als dächten nicht Minister und Bundespolitiker aller Parteien und Landespolitiker aller Parteien und die meisten Rektoren, auf jeden Fall aber die Hochschulrektorenkonferenz und der Wissenschaftsrat und das "Centrum für Hochschulentwicklung" und die Bologna-Beauftragten vor Ort und die Akkreditierungsagenturen alle genau dasselbe. Als hätten sie nicht alle dieselben Reformgesänge angestimmt. Als redeten sie nicht alle vom unumkehrbaren Schicksal, wenn sie "Bologna" meinen. Als hätten sie nicht alle kaum Anschauung von dem, was an Universitäten dort, wo diese ihr "Kerngeschäft", die Lehre nämlich, betreiben, vor sich geht. Als interessierte sich irgendjemand aus dem Reformestablishment dafür, was aus den Studenten werden soll. Und weil die das jetzt ahnen, genau darum protestieren die Studenten.

Text: F.A.Z.

Jetzt räumen sie Fehler ein Die Bologna-Reformer sind um Ausreden nicht verlegen

Jahrelang war alles auf dem besten Weg. Die Einreden gegen die Bologna-Reform an den deutschen Universitäten wurden als Dokumente ewiggestriger, nostalgischer oder einfach nur lobbyistischer Gesinnung von änderungsunwilligen Professoren abgetan. Jahrelang, das heißt: bis vor ein paar Monaten.

Jetzt aber wird eingeräumt. Die Kultusministerkonferenz hat neulich eingeräumt, es gebe Korrekturbedarf. Die Studiengänge müssten "studierbar" gemacht werden. Jetzt räumt der Vorsitzende des Wissenschaftsrats, Peter Strohschneider, "handwerkliche Fehler" bei der Einführung der Bachelor-Studiengänge ein. Auch der Präsident der KMK, Mecklenburg-Vorpommerns Wissenschaftsminister Henry Tesch (CDU), räumt ein, die Proteste von Studenten seien richtig, sofern sie auf konkrete Verbesserungen der "unmittelbaren Studienbedingungen" zielen. Und als ob es auf einer Verabredung beruhte, schließen sich dem auch die Präsidentin der Hochschulrektorenkonferenz und die Bundesbildungsministerin beim Einräumen an. Noch wird gern hinzugefügt, in Bausch und Bogen dürfe man die Bologna-Reform nicht ablehnen, aber wer weiß, ein, zwei Amtswechsel, und es ist vielleicht auch damit zu rechnen.

Handwerkliche Fehler, konkrete Verbesserungen, nicht in Bausch und Bogen – das Kleingedruckte zeigt die Rechthaberei im Großen und Ganzen. Es heißt: Die Baupläne stimmen, nur der Handwerker hat gepfuscht. Konkrete Verbesserungen, weil allgemein ja nichts gegen Bologna zu sagen ist und, das will man mitteilen, ja auch nicht die fürs Allgemeine zuständige Politik, sondern die fürs Konkrete zuständigen Hochschulen versagt haben. Die Absichten waren doch bestens.

Man will es sich selbst, vor allem aber allen anderen – denn womöglich wäre es ja ein Rücktrittsgrund –, nicht eingestehen, dass fast nichts, was die Bologna-Reformen in Aussicht gestellt haben, eingetreten ist. Mehr Mobilität, kürzere Studiengänge, mehr Abschlüsse, mehr Praxisnähe. Wie alle Wertelisten enthält auch diese nur Einträge, die man nicht ablehnen kann. Nehmen wir darum noch "mehr Exzellenz in der Forschung", "Umstellung auf Programm- statt Einzelförderung", "Leistungsentlohnung des Personals" und "Steigerung der Studierquote" hinzu. Kann man das alles in Bausch und Bogen ablehnen? Ja, man kann, wenn man sieht, wie sich diese Ziele gegenseitig im Wege stehen, wie verblasen manche von ihnen sind, wie andere als Begründung für Reformen an Fächer herangetragen wurden, bei denen gar nichts im Argen lag, und wie wieder andere reine Phrasen sind, für die es gar keine Anschauung gibt: Leistungsentlohnung zum Beispiel.

Für eine nüchterne Lageanalyse wäre also das Eingeständnis vorauszusetzen, dass die Reform nicht handwerklich und aufgrund von Unzulänglichkeiten oder Übereifer vor Ort scheitert, sondern an ihrer Undurchdachtheit und ihren windigen Zielen, für die der Begriff "Ökonomisierung der Hochschule" noch viel zu optimistisch ist, weil er eine klare Absicht unterstellt.

Was kann man also jetzt, da die Einsicht da ist, dass es so nicht gut werden wird, tun? Was nottäte, wäre der Rückgewinn einer Anschauung von dem, womit es die Universitäten derzeit zu tun haben. Da ist zum Beispiel ihre maßlose Bürokratisierung. Studienordnungen etwa werden erst hart erkämpft und dann durch teure Akkreditierungsprozesse geschleust, obwohl sie bislang nur auf dem Papier stehen, also noch niemand sagen kann, wie "studierbar" sie eigentlich sind. Wieso schafft man das – kein handwerklicher, sondern ein gedanklicher Fehler – nicht einfach ab? Denn hier, beim Akkreditieren, wurden schließlich all jene unsinnigen Erwartungen durchgesetzt, von denen es jetzt heißt, niemand habe sie gewollt, und von denen jedenfalls feststeht, dass sie, die Studienordnungen, niemand versteht.

Das Vollstopfen der Stundenpläne mit modual abrechnungspflichtigen Kursen wäre ein anderer Punkt. Auch dies kein Malheur, das ungewollt passierte. Sollte doch dasselbe – ein vernünftiger Abschluss, der das Papier wert ist, auf dem er steht – in kürzerer Zeit erreicht werden. Siehe G8. Jetzt gibt man bei den Semesterzahlen nach, kann sich statt sechs auch sieben oder acht und bestimmt auch bald wieder zehn vorstellen. Aber dass man durch das Modulsystem vor allem die Präsenzpflicht der Studierenden ganz unsinnig erhöht hat und dadurch die ohnehin bedrohte Kulturtechnik des Lesens, des freien Lesens gar, abschafft, ist den Managern nicht aufgefallen. Vielleicht weil sie die Literatur auf den Gebieten, auf denen sie einst als Forscher tätig waren, oft auch nur noch "zur Kenntnis nehmen" und nicht mehr studieren.

Das sind nur zwei Gesichtspunkte von Dutzenden, die nichts mit adminstrativem Handwerk, dafür alles mit dem Nachdenken über Aufgaben und Möglichkeiten einer Universität zu tun haben. Die Bologna-Reform beruhte auf einer richtigen Fragestellung: Was machen wir mit Studenten, die nicht Wissenschaftler werden wollen? Und sie beruhte auf einer komplett falschen Antwort: Wir sorgen dafür, dass sie möglichst schnell einen Abschluss bekommen. Wer sich diesen grundsätzlichen Irrtum nicht eingesteht, von dem ist nicht zu erwarten, dass er mit Einräumen etwas anderes meint als Beschwichtigen.             Jürgen Kaube

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.11.2009 Seite N5