Geburtenschwund.
Wo kommen die Kinder her?
12. April 2009
Der Befund kann Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) nicht gefallen. Leidenschaftlich kämpft sie für das Elterngeld, um vor allem gut ausgebildeten arbeitenden Frauen die Entscheidung für ein Kind zu erleichtern. Doch gut zwei Jahre nach der Einführung dieses Milliardenprogramms bleibt Deutschland von einem Kindersegen in dieser Gruppe weit entfernt. Der Geburtenrückgang ist nicht gestoppt. Wie das Statistische Bundesamt in dieser Woche mitteilte, ist die Zahl der Neugeborenen in Deutschland 2008 mit 675.000 Kindern gegenüber der vergleichbaren Zahl des Vorjahres erneut um 1,1 Prozent zurückgegangen.
Schlimmer noch: Vor allem die qualifizierten Frauen streiken weiter. Attraktiv ist das Geld vom Staat vor allem für Familien der Unterschicht. „Das Elterngeld ist für mich überhaupt nicht überzeugend“, sagt eine junge Volkswirtin aus Berlin. „Es hilft vielleicht kurzfristig, für zwei Jahre. Doch das Risiko, dann im Beruf nicht mehr so gut wie jetzt Fuß zu fassen, kann es nicht kompensieren.“ Deswegen komme für sie ein Kind jetzt nicht in Frage.
Kinder werden zum Geschäftsmodell
Sie steht mit dieser Ansicht nicht allein. Die Zahlen dazu sprechen eine eindeutige Sprache: Von den ersten 750.000 Babys, die bis Mitte 2008 Ansprüche auf das Geld vom Staat einbringen, stammen nicht einmal fünf Prozent von hochqualifizierten Frauen in guten Jobs. Ein verheerendes Ergebnis; denn gerade ihnen sollte mit dem 2007 eingeführten Elterngeld doch schmackhaft gemacht werden, nicht nur ein erstes, sondern am besten noch das demographisch so schmerzlich vermisste zweite Kind zu bekommen.
Ganz anders wirkte der Geldsegen der Ursula von der Leyen in den unteren Gesellschaftsschichten. Hier hilft es den Frauen, ihre Kinderwünsche umzusetzen. Es ist sogar ein Anreiz. Mehr als jedes zweite Baby wird in Deutschland in Familien geboren, in denen Geld knapp ist. Der Grund dafür ist einfach: Kindergeld, die 300 Euro Elterngeld, dazu vielleicht noch der Geschwisterzuschlag – die Hilfen des Staates erhöhen hier spürbar das Familieneinkommen. Kinder werden – gar nicht unbedingt bewusst – zum Geschäftsmodell. Die offiziellen Zahlen bestätigen das: Für den Großteil der Familien mit weniger als 1000 Euro Nettoeinkommen erhöht sich – anders in den höheren Einkommensklassen – im Jahr der Geburt eines neuen Kindes das verfügbare Einkommen, wie eine Untersuchung des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) im Auftrag des Familienministeriums ergab.
Immer mehr Kinder werden in sozial schwachen Milieus geborenEntsprechend fallen die Zahlen aus: Gerade mal 4,4 Prozent der Frauen, die Babys bekommen, erhalten ein Elterngeld von 1500 bis zum Höchstbetrag von 1800 Euro – stammen also aus jener Schicht, auf die das Programm eigentlich zielt. Weitere 9,3 Prozent bekommen 1000 bis 1500 Euro. Dagegen erhalten 46,9 Prozent den Mindestbetrag von 300 Euro. Für viele Unterschichtenfamilien wirkt der familienpolitische Geldsegen als Anreiz, mit der Kinderzahl ihr Haushaltseinkommen zu erhöhen: „Die haben in den meisten Fällen ja nicht gut versorgte Kinder, die dann plötzlich in die Armut rutschen, sondern können sich die relative Armut als lebenslange Versorgung nur erhalten, wenn sie durch immer neue Kinder unter dem Durchschnittseinkommen bleiben“, sagt der Bremer Sozialwissenschaftler Gunnar Heinsohn. Das Staatsgeld schaffe hier schon fast so etwas wie einen „sanften Beamtenstatus“.
Ministerin von der Leyen hat recht, wenn sie sagt: „Für die meisten Eltern stabilisiert oder erhöht das Elterngeld das Haushaltseinkommen.“ Nur mit welchen Folgen? Hinter den Zahlen verbirgt sich eine gesellschaftlich hochbrisante Entwicklung: Immer mehr Kinder werden in sozial schwachen Milieus geboren, in prekäre materielle und oft genug auch bildungsferne Verhältnisse. Und nur sehr wenige schaffen es, sich daraus im Laufe ihres Lebens hochzuarbeiten.
Eine wirtschaftliche Belastung für Familien
Vor vier Generationen wurden Kinder in Deutschland noch als das Kapital einer Familie angesehen. „Heute sind sie unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten eindeutig eine wirtschaftliche Belastung für Familien“, sagt der Sozialforscher Klaus Hurrelmann von der Berliner Hertie School of Governance. Vor dem Hintergrund der Einkommenseinbußen und hohen Kosten, die Kinder ihren Eltern aus mittleren Gesellschaftsschichten heute verursachen, fallen die staatlichen Sozialtransfers für diese Familien überhaupt nicht ins Gewicht. Familien mit einem Einkommen von mehr als 3000 Euro hilft das Elterngeld deswegen auch kaum. 67 Prozent dieser Familien haben nach der Geburt eines Babys weniger Geld als vor der Geburt.
Ganz anders sieht es in den unteren Einkommensschichten aus. „In einkommensarmen Schichten haben die familienpolitischen Transferleistungen durchaus den Charakter eines Erwerbseinkommensersatzes. Dort wirkt sogar die Erhöhung des Kindergeldes von 10 Euro entlastend“, sagt Uta Meier-Gräwe, Professorin für Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienwissenschaften in Gießen. Kinderreichtum gibt es auch in der Oberschicht. Dort gehören Kinder zum guten Ton, am Geld scheitert der Kinderwunsch nicht.
Schieflage in Sachen Gebärfreudigkeit
Die Schieflage in Sachen Gebärfreudigkeit zwischen den Gesellschaftsschichten ist nicht neu. Die Familienministerin hätte darum bedenken müssen, dass jede Einführung neuer Transfers den Trend noch verstärkt. „Diese Entwicklung wurde schon vor ein paar Jahren im zweiten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung nachgewiesen“, berichtet auch Meier-Gräwe. „Seit Mitte der achtziger Jahre hat sich zunächst in der alten Bundesrepublik und später dann auch in Ostdeutschland gezeigt, dass parallel zur insgesamt steigenden Bildungsbeteiligung von Frauen relativ mehr Kinder in Familien geboren werden, in denen die Eltern keine oder nur geringe Bildungsabschlüsse vorweisen können.“Der Anteil der Kinder, die in eher bildungsfernen und nicht zuletzt dadurch ärmeren Haushalten aufwachsen, ist ständig gestiegen. Die Armutsforscherin warnt allerdings vor dem platten Schluss, in Deutschland würden damit immer mehr dumme Kinder geboren. „Nicht die Kinder sind dümmer, sie haben nur deutlich weniger Chancen, sich zu gut entwickeln.“ Und das hat Konsequenzen: Zu viele dieser Kinder setzen die Karrieren ihrer bildungsfernen Eltern nahtlos fort. Sie bleiben entweder in der Sozialhilfe oder finden nur Arbeit als schlecht ausgebildete und schlecht entlohnte Niedriglöhner.
Weg von der klassischen Mutterrolle
Sozialforscher Hurrelmann sieht neben den Anreizen, die von Sozialtransfers ausgehen, einen weiteren Grund dafür, dass eher in Unter- als in Mittelschichtenfamilien Kinder geboren werden. „Gut ausgebildete Frauen wollen ihre Bildung auch anwenden. Sie sehen sich nicht mehr in der klassischen Mutterrolle“, sagt er. „In ihrer Lebensplanung kommen Kinder später vor. Im Kalkül des Für und Wider gibt es zunehmend Bedenken.“
In den unteren sozialen Schichten ist dagegen die klassische Rolle als Hausfrau und Mutter viel stärker ausgeprägt. Wie bei Hanna L. aus Hannover, deren Familie von Hartz IV lebt. „Kinder gehören doch dazu“, sagt sie. „Na ja, und wenn der Staat mir Geld dazugibt . . .“ Sie zuckt mit den Schultern. „Das hilft.“ Anders gesagt: Die weniger gebildeten Frauen wünschen sich Kinder und bekommen sie auch. Und der Staat fördert dies. Die gut ausgebildeten Frauen wünschen sich auch Kinder, aber sie bekommen sie nicht. „Bisher ist es trotz aller politischer Anstrengungen nicht gelungen, die zögerlichen Frauen aus der Mittelschicht davon zu überzeugen, ihre Kinderwünsche auch tatsächlich umzusetzen“, sagt Hurrelmann.
Für die Zukunft heißt das nichts Gutes
Für die Zukunft heißt das nichts Gutes: Der Anteil der Kinder aus bildungsfernen Familien wird weiter steigen. Die Schicht der Transferempfänger reproduziert sich selbst in einem Land, in dem sozialer Aufstieg seltener gelingt als anderswo – auch weil sich viele im Sozialstaat eingerichtet und den Willen zum Aufstieg aus eigener Kraft aufgegeben haben. Von den gesellschaftlichen Folgekosten dieser Entwicklung will kaum einer sprechen. Nicht zuletzt, weil es politisch wenig korrekt ist, auf die falschen Anreizwirkung des Geldsegens hinzuweisen. Im Gegenteil: Um den Kampf gegen Kinderarmut zu gewinnen, wird in der Politik der Ruf nach noch höheren Sozialtransfers lauter. Die Folge: Der Trend, dass vor allem in bildungsfernen Schichten Kinder geboren werden, wird sich weiter verstärken.