Vor dem Sturm
Von Professor Dr. Elisabeth Noelle
Es gehört zu den eigenartigsten Verzerrungen des Geschichtsbildes, dass die fünfziger Jahre in Westdeutschland heute oft als „reaktionär“, „spießig“ oder gar als Zeit des Stillstands beschrieben werden. Als ruhig mögen die Gründerjahre der Bundesrepublik Deutschland vielleicht vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen des darauffolgenden Jahrzehnts erscheinen, doch auch das nur bei äußerst oberflächlicher Betrachtung. Für diejenigen, die sie erlebt haben, waren die Adenauer-Jahre eine außerordentlich aufregende Zeit, geprägt von einer rasant fortschreitenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dynamik und von nicht weniger aufregenden innen- und außenpolitischen Entwicklungen und entsprechend hitzigen öffentlichen Auseinandersetzungen.
Innerhalb dieser in ihrer Dramatik nicht zu unterschätzenden Phase der westdeutschen Geschichte erscheint das Jahr 1958 ein wenig wie eine Atempause. Nicht, dass es an großen weltpolitischen Ereignissen und innenpolitischen Streitthemen gefehlt hätte. 1958 traten die im Jahr zuvor geschlossenen Römischen Verträge in Kraft, und die EWG-Kommission unter Walter Hallstein nahm ihre Arbeit auf; in Frankreich scheiterte die Vierte Republik, und General de Gaulle übernahm die Macht; in Rom wurde Papst Johannes XXIII. Nachfolger des verstorbenen Pius XII.; die Vereinigten Staaten und Großbritannien versuchten mit Militärinterventionen im Libanon und in Jordanien die Lage im auch damals schon unruhigen Nahen Osten zu stabilisieren; und am Ende des Jahres, im November, forderte der russische Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow die Westmächte ultimativ auf, die Westsektoren Berlins zu verlassen.
Die innenpolitische Diskussion des Jahres 1958 war von der Auseinandersetzung über die Frage geprägt, ob auf deutschem Boden Atomwaffen stationiert oder gar die Bundeswehr selbst mit Atomwaffen ausgerüstet werden sollte. Bei der außerordentlich scharf geführten Bundestagsdebatte über dieses Thema handelte sich ein junger SPD-Abgeordneter aus Hamburg, der bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal in Erscheinung trat, den Spitznamen „Schmidt Schnauze“ ein.
An Streitthemen war also kein Mangel, dennoch ist der Grundklang des Jahres 1958 der der Beruhigung. Die politischen Grundsatzfragen, um die in den vorangegangenen Jahren erbittert gerungen worden war, waren entschieden: die Westbindung der Bundesrepublik Deutschland, der Aufbau der Bundeswehr, den Adenauer gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit durchgesetzt hatte, die Einbindung der Bundesrepublik in einen westeuropäischen Wirtschaftsverbund. Adenauer war mit seinem historischen Wahlsieg von 1957 glänzend bestätigt worden. Die SPD, die zunächst Westbindung und Wiederbewaffnung vehement bekämpft hatte, begann sich mit diesen neuen Konstanten der westdeutschen Politik zu arrangieren. Im kommenden Jahr 1959 sollten die Sozialdemokraten das Godesberger Programm verabschieden.
Adenauer stand 1958 auf dem Höhepunkt seiner Macht. In den vorangegangenen Jahren war es ihm geglückt, den Widerwillen der Bevölkerung gegen die Wiederbewaffnung durch politische Erfolge zu überwinden, die den Deutschen geradezu fabelhaft erschienen. Der Besuch in Moskau 1955, der die Rückkehr der letzten ehemaligen Wehrmachtssoldaten aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft ermöglichte, und der Beitritt des Saarlandes zur Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1957 wurden ihm als große Verdienste zugeschrieben. Hinzu kam, dass sich nicht nur die Lage der Wirtschaft stetig verbesserte, sondern dass auch die ärmeren Bevölkerungsschichten von dem Wirtschaftswunder profitierten. Nach der Rentenreform des Jahres 1957 wurden die Renten nicht mehr auf der Grundlage der eingezahlten Beiträge berechnet, sondern nach Maßgabe der Entwicklung der Wirtschaft. Die Folge war, dass sich das Einkommen vieler Rentner spürbar verbesserte.
Als das Allensbacher Institut kurz vor der Bundestagswahl am 15. September 1957 seine erste Wahlprognose in dieser Zeitung veröffentlichte und einen Stimmenanteil der CDU/CSU von 50 Prozent voraussagte, erreichten mich empörte Anrufe: Ob ich denn nicht wüsste, dass noch nie in der deutschen Geschichte eine Partei die absolute Mehrheit erhalten habe. Doch, das wusste ich: Aber die Zahlen waren nun einmal, wie sie waren. Auch die Redaktion glaubte uns wohl nicht recht. „Noch eine Prognose“ lautete herablassend die Schlagzeile. Schließlich erhielten die Unionsparteien 50,3 Prozent der Stimmen.
Das Einverständnis mit Adenauer erreichte 1958 Werte, die danach nicht mehr übertroffen werden sollten. Auf die Frage „Sind Sie im Großen und Ganzen mit der Politik Adenauers einverstanden oder nicht einverstanden?“ antworteten im November 1958 53 Prozent der Befragten „Einverstanden“. Nur 22 Prozent, also weit weniger, als die Oppositionsparteien Anhänger hatten, sagten, sie seien nicht einverstanden. 1958 war auch das Jahr, in dem sich bei der Bevölkerung die Erkenntnis von der historischen Größe Adenauers durchsetzte. Seit Januar 1950 hatten wir in den Allensbacher Bevölkerungsumfragen regelmäßig die Frage gestellt: „Welcher große Deutsche hat Ihrer Ansicht nach am meisten für Deutschland geleistet?“ Über mehr als fünf Jahre hinweg stand bei dieser Frage Bismarck mit großem Abstand vor allen anderen genannten Namen an erster Stelle. Doch in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts begann sich dies zu ändern. Im Oktober 1958 zog Adenauer an Bismarck vorbei. 26 Prozent nannten nun den Bundes-, 23 Prozent den früheren Reichskanzler. Fünf Jahre später sollte das Verhältnis 40 zu 16 zugunsten von Adenauer betragen.
Man kann das Jahr 1958 als einen Wendepunkt im Verhältnis zwischen Adenauer und der westdeutschen Bevölkerung ansehen, denn je mehr sich die Ansicht durchsetzte, dass der Bundeskanzler eine Gestalt von historischer Bedeutung war, desto mehr wuchsen auch die Zweifel, ob er noch der Gegenwart gerecht werden könne. 1957 hatte noch die Mehrheit der Bevölkerung Äußerungen zurückgewiesen, wonach Adenauer angesichts seines hohen Alters einem jüngeren Politiker Platz machen sollte. Im Februar 1957 stimmten gerade 18 Prozent der Aussage zu, es gebe jüngere Politiker, die mehr leisten könnten als er. Doch schon zwei Jahre danach hatte sich das Klima spürbar verändert.
Als Adenauer im Frühjahr 1959 sagte, er wolle als Bundeskanzler zurücktreten und Bundespräsident werden, stimmte ihm die Mehrheit derer, die darüber eine Meinung hatten, zu. Als er wenige Wochen später ankündigte, doch im Amt bleiben zu wollen, war in den Reaktionen der Befragten die Enttäuschung unübersehbar. Auf die Frage „Spricht es Ihrer Meinung nach für oder gegen Adenauer, dass er seinen Entschluss geändert hat?“ antwortete eine relative Mehrheit von 46 Prozent: „Es spricht gegen ihn.“ Spätestens zu diesem Zeitpunkt hatte das Vertrauen der Bevölkerung in Adenauer seinen Höhepunkt überschritten. Er erreichte zwar auch weiterhin bis zum Ende seiner Amtszeit noch immer Zustimmungsraten, von denen die meisten seiner Nachfolger nur träumen konnten, doch ganz so ungetrübt wie gegen Ende des Jahres 1958 war das Verhältnis zwischen Bevölkerung und Kanzler nie mehr.
Noch in einer anderen Hinsicht markiert das Jahr 1958 einen politischen Wendepunkt, nämlich im Verhältnis zwischen Deutschen und Franzosen. Auf die Frage „Glauben Sie, dass Frankreich jetzt den guten Willen zur Zusammenarbeit mit uns hat?“ hatten im Juni 1953 noch 41 Prozent mit Nein und nur zwölf Prozent mit Ja geantwortet. Aber in den folgenden Jahren wuchs das Vertrauen in den westlichen Nachbarn kontinuierlich, scheinbar unbeeindruckt von den Rückschlägen auf dem Weg der europäischen Einigung, wie etwa der Ablehnung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) durch die französische Nationalversammlung im Jahr 1954.
1958 überwog nun zum ersten Mal deutlich der Anteil derjenigen, die Frankreich trauten. 36 Prozent sagten im November, sie glaubten, dass Frankreich gewillt sei, mit Deutschland gut zusammenzuarbeiten; nur noch 16 Prozent widersprachen ausdrücklich. Der Aufbau eines soliden Vertrauens in den früheren Kriegsgegner in so kurzer Zeit gehört wahrscheinlich zu den größten politischen Leistungen des zwanzigsten Jahrhunderts.
Der Alltag der westdeutschen Bevölkerung im Jahr 1958 war trotz eines aus heutiger Sicht bescheidenen Wohlstandsniveaus von dem Gefühl des stetigen Aufstiegs geprägt. Die im Archiv des Allensbacher Instituts dokumentierten Umfragen zeigen, wie sehr sich die Lebensbedingungen der Menschen verbesserten, wobei die Einzelheiten oft aufschlussreicher sind als die Daten zu großen gesellschaftlichen Themen. Im Sommer 1958 besaßen 19 Prozent der Bevölkerung eine Waschmaschine, vier von fünf Maschinen waren in den Jahren nach 1953 angeschafft worden. Die Hälfte der Bevölkerung hatte sich angewöhnt, täglich Bohnenkaffee zu trinken, ein Luxus, der noch wenige Jahre zuvor den meisten unvorstellbar erschien. Dementsprechend stieg der Anteil derer an der Bevölkerung, die zumindest gelegentlich Dosenmilch verwendeten, seit 1950 von 50 auf 76 Prozent.
36 Prozent der Westdeutschen hatten im Jahr 1957 eine Urlaubsreise unternommen, wobei etwas mehr als die Hälfte, 54 Prozent, mit der Eisenbahn unterwegs war, aber immerhin schon jeder Vierte mit dem privaten Auto. Die Urlaubsziele lagen noch überwiegend im Inland: 69 Prozent berichteten von einer Reise innerhalb Westdeutschlands, wobei Oberbayern mit zwölf Prozent und der Schwarzwald mit elf Prozent der Nennungen an der Spitze standen. Jeden Vierten zog es ins Ausland; Italien nahm mit zehn Prozent die Spitzenstellung ein, gefolgt von Österreich mit sieben Prozent.
In den Wohnzimmern bahnte sich eine Revolution an. Noch war das Kino das wichtigste Unterhaltungsmedium. 51 Prozent der Westdeutschen sagten im Winter 1957/58, dass sie mindestens einmal im Monat das Kino besuchten. Ein Jahr später waren es nur noch 42 Prozent. Zwölf Prozent besaßen im Juli 1958 ein Fernsehgerät, ein Jahr später sollten es bereits fast doppelt so viele sein. Die Auswirkungen dieser Entwicklung auf das Freizeit- und Informationsverhalten der Bevölkerung lassen sich kaum überschätzen. Noch sagten rund zwei Drittel der Befragten, dass sie auf die Wochenschau vor Beginn des eigentlichen Kinofilms Wert legten, doch nahezu alle Fernsehteilnehmer gaben im Juni 1958 zu Protokoll, dass sie mindestens „zwei- bis dreimal in der Woche“ die Tagesschau anschauten. Es waren noch sieben Jahre bis zur ersten Bundestagswahl, deren Ergebnis von Fernsehbildern wesentlich beeinflusst werden sollte.
Den Menschen war damals durchaus bewusst, wie außergewöhnlich diese Entwicklung war, nur ein Jahrzehnt nach den Hungersnöten der Nachkriegszeit. Auf die Frage „Sehen Sie dem kommenden Jahr mit Hoffnungen oder Befürchtungen entgegen?“ antworteten im Dezember 1958 53 Prozent „Mit Hoffnungen“. Im Dezember 2006 gaben 49 Prozent dieselbe Antwort, ein Wert, der vor Jahresfrist als Kennzeichen von außerordentlichem Optimismus gedeutet wurde. Und die Frage „Wann in diesem Jahrhundert ist es nach Ihrem Gefühl Deutschland am besten gegangen?“ beantworteten im Juni 1959 42 Prozent mit „In der Gegenwart, heute“. Nur noch 28 Prozent verwiesen auf die „gute alte Zeit“ vor 1914, 18 Prozent auf die Scheinblüte Deutschlands in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft.
Im Jahr 1951 sahen die Antworten ganz anders aus. Damals hatten 45 Prozent gesagt, in der Zeit vor 1914 sei es Deutschland am besten gegangen, fast ebenso viele, 42 Prozent, entschieden sich für die Jahre zwischen 1933 und 1939. Aus diesen Zahlen lässt sich erahnen, wie wichtig die fünfziger Jahre für die Verankerung der Demokratie in Westdeutschland und wie erfolgreich sie in dieser Hinsicht auch waren. Der Kontrast zur heutigen Situation in den östlichen Bundesländern ist auffällig.
Man kann sagen, dass im Jahr 1958 die erste Phase der Bewältigung der unmittelbaren Kriegsfolgen abgeschlossen war. Seit Gründung des Allensbacher Instituts hatten wir in nahezu alle unsere Fragebogen als Routineermittlung die Frage „Sind Sie Flüchtling?“ aufgenommen. Die Aufgabe, annähernd neun Millionen Menschen, die aus den ehemaligen Ostgebieten geflohen oder vertrieben worden waren, in die westdeutsche Gesellschaft zu integrieren, war eine der größten Anforderungen an die Politik der frühen fünfziger Jahre. Sie wurde so erfolgreich bewältigt, dass sich die Vertriebenen schon am Ende des ersten Nachkriegsjahrzehnts in ihren Meinungen und Verhaltensweisen kaum noch von der einheimischen Bevölkerung unterschieden. Damit wurde auch die Frage, ob ein Befragter Vertriebener war oder nicht, für die Analysen unserer Umfragen immer nebensächlicher. Von 1959 an verschwand sie aus unseren Fragebogen – sie wurde irgendwann einfach vergessen.
Auch bei der Bewältigung und Aufarbeitung der nationalsozialistischen Ideologie hatte es beträchtliche Fortschritte gegeben. Es wird heute oft behauptet, dass es in den fünfziger Jahren keine gesellschaftliche Auseinandersetzung über dieses Thema gegeben habe, doch das stimmt so nicht, wenn es auch in dieser Hinsicht sicherlich viele Defizite gab. Betrachtet man heute die Allensbacher Fragebogen aus dieser Zeit, dann ist man erstaunt über die Vielzahl von Fragen, die sich mit diesem Thema beschäftigen, etwa mit der Frage, was mit Kriegsverbrechern geschehen solle, ob ehemalige Nationalsozialisten viel Einfluss in Westdeutschland hätten, wie man mit ehemaligen Parteimitgliedern umgehen solle. Es gibt Fragen über die Ursachen des Reichstagsbrands, die Kriegsschuld, über den 20. Juli 1944 und zum Thema Antisemitismus. Viele der Antworten erscheinen aus heutiger Sicht unverständlich, doch die Entwicklung, die sich in den fünfziger Jahren vollzog, ist bemerkenswert. Im Oktober 1951 war nur ein knappes Drittel der westdeutschen Bevölkerung der Ansicht, dass Deutschland am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs schuld sei, eine relative Mehrheit von 42 Prozent meinte, dass andere Staaten mindestens ebenso sehr Schuld trügen. Acht Jahre später waren davon noch 21 Prozent übrig geblieben.
Auch die oft geäußerte These, dass in den fünfziger Jahren kaum über das Dritte Reich gesprochen worden sei, führt zumindest teilweise in die Irre. Die junge Generation, die ihren Eltern bohrende Fragen hätte stellen können, wuchs erst heran, und den Älteren standen die Ereignisse ganz lebendig vor Augen. Wer im Jahr 1958 dreißig Jahre alt war, hatte die Diktatur der Nationalsozialisten von Beginn an erlebt. Die Erinnerung war allgegenwärtig, auch im Alltag.
Im Jahr 1958 weihte das Allensbacher Institut gerade seinen ersten Erweiterungsbau ein. Der wirtschaftliche Aufschwung hatte nach einigen schweren Jahren am Anfang des Jahrzehnts auch uns erreicht, so dass das Bauernhaus aus dem siebzehnten Jahrhundert, in dem wir seit 1951 arbeiteten, zu klein geworden war. Geplant worden war der Anbau von Herbert Werner, unserem glänzenden Cheforganisator seit 1948, der seine Fähigkeiten unter anderem als Wehrmachtsoffizier in Finnland erworben hatte. Als nun unser Anbau, dem Zeitgeschmack entsprechend, architektonisch sehr schlicht geriet, witzelte Erich Peter Neumann, mit dem ich das Institut aufgebaut hatte: „Der Herbert Werner kann nur Bunker bauen.“
Im Rückblick betrachtet erscheint das Jahr 1958 als ein ruhiges Jahr, doch die Beben, die die Gesellschaft im kommenden Jahrzehnt erschüttern sollten, kündigten sich an. Die junge Generation begann sich in ihren Wertvorstellungen und in der Alltagskultur von der älteren Generation zu entfernen. Die ersten Vorboten dieser Entwicklung zeigten sich in scheinbar nebensächlichen Details: Die Wohnzimmer veränderten sich. Seit 1955 legte das Allensbacher Institut seinen Befragten regelmäßig ein Bildblatt vor, auf dem vier Wohnzimmer abgebildet waren, zwei im traditionellen bürgerlichen Stil, zwei aus damaliger Sicht radikal moderne, von der Formensprache des Bauhauses geprägte. Dazu wurde die Frage gestellt: „Welches dieser Zimmer gefällt Ihnen am besten, ich meine, für welches würden Sie sich entscheiden, wenn Sie in einem davon wohnen sollten?“ Noch 1955 entschieden sich 59 Prozent für die traditionelle, 38 Prozent für die moderne Wohnzimmereinrichtung. Doch schon 1958 sprachen sich 50 Prozent für die Bauhaus-Variante aus, nur noch 48 Prozent für die bürgerliche. Solche Entwicklungen sind nicht alltäglich, und sie sind auch nicht unwichtig.
„Nirgends wird an den Weisen der Musik gerüttelt“, schrieb Platon, „ohne dass die wichtigsten Gesetze des Staates mit erschüttert werden.“ Und im Jahr 1958 wurde an den Weisen der Musik gerüttelt. Der Rock ’n’ Roll begeisterte die Jugendlichen. Zwei Jahre vorher, 1956, war in den Allensbacher Fragebogen zum ersten Mal der Begriff „Halbstarke“ erschienen, im November 1958 mussten Bill Haley und seine „Kometen“ ein Konzert im Berliner Sportpalast abbrechen, weil das Publikum eine Saalschlacht anzettelte. Verständnislos und voller Abscheu blickten die Älteren auf die sich entwickelnde Jugendkultur und die mit ihr einhergehende demonstrative Abkehr von traditionellen Sitten und Gebräuchen.
Sie spürten wahrscheinlich, dass das, was sich dort abzeichnete, nicht einfach ein Wechsel der Mode war, sondern der Beginn einer Kulturrevolution, die zehn Jahre später das seit mindestens zwei Jahrhunderten überlieferte bürgerliche Wertesystem erschüttern sollte. Die Auswirkungen sollten praktisch alle wesentlichen Lebensbereiche berühren – von der Frage, wie man seine Kinder erziehe, über die politische Orientierung und das grundsätzliche Verhältnis der Generationen zueinander bis zur Rolle der Frauen in der Gesellschaft und zu den Sexualnormen.
Es ist kein Zufall, dass sich diese gesellschaftlichen Konflikte entwickelten, sobald die erste nach dem Krieg geborene Generation erwachsen wurde – eine Generation, die unter vollkommen anderen politischen und sozialen Bedingungen aufgewachsen war als ihre Eltern.
Später zeigten sich im Ansatz ähnliche, wenn auch bei weitem nicht so stark ausgeprägte Generationskonflikte Anfang der neunziger Jahre in Spanien und in der jüngsten Zeit in den östlichen Bundesländern, jeweils eineinhalb Jahrzehnte nach dem Ende einer Diktatur. Im Jahr 1958 ahnten wohl nur wenige, welche Dimensionen der gesellschaftliche Wertewandel annehmen sollte, der sich am Horizont abzeichnete. Insofern war die Zeit vor fünfzig Jahren eine Zeit der relativen Ruhe vor dem Sturm.
Die Verfasserin ist Gründerin des Instituts für Demoskopie Allensbach.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 02.01.2008 Seite 7