Dienstag, 1. Januar 2008

Köhler-Interview-12-07

Im Gespräch: Bundespräsident Köhler

Zur Freiheit gehört Ungleichheit“

30. Dezember 2007 Mindestlohn, Managergehälter, Parteiendemokratie und Populismus: In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zieht der Bundespräsident eine politische Bilanz des Jahres 2007. Köhler äußert sich unzufrieden über die deutsche Reformpolitik und fordert von den Parteien „mehr Reformehrgeiz“. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müsse sich Deutschland noch stärker „ins Zeug legen“. Das Gespräch mit dem Bundespräsidenten führten Berthold Kohler und Günter Bannas.

Herr Bundespräsident, war 2007 ein gutes Jahr für Deutschland?

Deutschland ist ein gutes Land, und es lässt sich gut darin leben. Mit der Wirtschaft ging es weiter aufwärts, die Arbeitslosigkeit nahm deutlich ab. Unser Land hat seinen außenpolitischen Ruf gefestigt. Wir sind insgesamt vorangekommen.

Sind Sie mit der Reformbilanz des zurückliegenden Jahres zufrieden?

Der Schwabe in mir ist nie ganz zufrieden, und der Ökonom weiß: Der Aufstieg Asiens hat erst begonnen, und auch andere Schwellenländer drängen vorwärts. Deutschland muss sich für seine Wettbewerbsfähigkeit noch stärker ins Zeug legen. Am Konjunkturhimmel ziehen Wolken auf. Deshalb wünschte ich mir mehr Reformehrgeiz. Wir sind in dem Prozess, uns auf die Chancen und Risiken der Globalisierung einzustellen, noch nicht weit genug gekommen, und auch nicht bei der Frage, wie wir auf den Rückgang und die Alterung unserer Bevölkerung reagieren. Wir investieren – materiell und immateriell – immer noch zu wenig in die Zukunft unseres Landes. Einem Schritt oder zweien voran folgt leider oft auch wieder ein Schritt zurück.

Vor gut einem Jahr begann die Debatte über eine Verlängerung der Auszahlung des Arbeitslosengeldes I an ältere Arbeitslose. Sie haben damals vor einem Paradigmenwechsel gewarnt. Jetzt wird der Paradigmenwechsel vollzogen.

Offensichtlich, und ich habe meine Zweifel, ob diese Maßnahme wirklich zu mehr sozialer Gerechtigkeit führt. Eher trägt sie wohl dazu bei, die Beschäftigungsschwelle des Wachstums wieder anzuheben, das heißt, es zu erschweren, aus Wachstum mehr Beschäftigung zu machen. Der nachhaltige Abbau der Sockelarbeitslosigkeit wird dadurch nicht leichter. Dabei haben wir mit derzeit 3,4 Millionen Menschen doch noch viel zu viele Arbeitslose, die meisten von ihnen Langzeitarbeitslose und Menschen mit geringer Qualifizierung. Ihre Lage ist in meinen Augen der wichtigste Ausdruck von sozialer Ungerechtigkeit und eine der Hauptursachen für Kinderarmut.

Das Wort „Reform“ scheint zu einem Unwort geworden zu sein. Die Koalitionsparteien scheuen es wie der Teufel das Weihwasser. Woran liegt das?

Wir haben ein Problem mit dem Erklären, warum Reformen notwendig sind. Und wir haben ein Problem mit dem Aushaltenkönnen, bis Reformen wirken. Da kommt es auf politisches Stehvermögen und gute Kommunikation an. Mir ist bewusst, dass dies leichter gesagt als getan ist. Doch das Interesse des Landes steht über partei- oder machtpolitischen Interessen. Mit der erfreulichen Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt im Rücken gab es die Chance, den Bürgern einen positiven Zusammenhang zwischen Reformen und ihrer Wirkung zu vermitteln.

Setzt sich in der Politik der Populismus durch?

Es geht mehr um die Frage, wie sich strukturelle politische Lösungsansätze, die einen langen Atem verlangen, gegenüber kurzfristigem Denken durchsetzen können. Wir können die Bürger ruhig ernst nehmen. Ich schätze ihren gesunden Menschenverstand hoch ein. Meine Erfahrung ist: Die Leute wollen mitdenken, und wenn sie richtig angesprochen werden, dann machen sie mit. Auf politischen Mut kommt es aber auch immer an.

Kürzlich haben Sie gefordert, das Steuersystem müsse einfacher und transparenter werden. Sie haben dies auch als eine Herausforderung an das demokratische System bezeichnet. Mit solchen Vorschlägen sind der ehemalige Unions-Fraktionsvorsitzende Merz und der frühere Verfassungsrichter Kirchhof aber schon in der CDU gescheitert.

Die Demokratie lebt davon, dass die Bürger ihre Grundregeln verstehen, verinnerlichen und bejahen. Die Komplexität des Steuer- und Abgabensystems kann einen Grad erreichen, der dem zuwiderläuft. Und wenn die Bürger ein Bewusstsein entwickeln, für ihren Beitrag keine angemessene Gegenleistung zu erhalten, dann geht Vertrauen in die Demokratie verloren. Ein einfaches, für die Bürger durchschaubares Steuer- und Sozialsystem wäre in meinen Augen eine Stärkung von Demokratie und Staat.

Der politische Diskurs wird derzeit dominiert von Forderungen nach Umverteilung und sozialer Gerechtigkeit. Vorstöße, die mehr Eigenverantwortung, mehr Freiheit gar verlangen, sind sehr selten geworden. Ist die Gleichheit der oberste Wert der Deutschen?

Ich glaube, es war Willy Brandt, der gesagt hat: Freiheit ist nicht alles, aber ohne Freiheit ist alles nichts. Freiheit ist für mich die wichtigste Quelle für Kreativität. Und wir stehen vor der Aufgabe, all unsere Kreativität zu mobilisieren, um auch in Zukunft die Nase vorn zu haben. In einem demokratischen, freiheitlichen Staat sollen die Menschen die Chance haben, sich und ihre Talente zu entfalten. Es ist die Leistung der Menschen, die den Staat zusammenhält, und nicht die Leistung des Staates, die Menschen zusammenzuhalten. Wir sollten uns nicht vormachen, dass Glück sich als Sozialleistung organisieren lässt. Aber es ist auch wahr, dass um die richtige Balance zwischen Freiheit und Gleichheit schon immer gerungen worden ist. Da gibt es keine letzte Wahrheit, das ist ein Prozess, geprägt von der Entwicklung der Gesellschaft und den Herausforderungen des internationalen Wandels. Derzeit erleben wir, wie die Verteilung der Einkommen und Vermögen sich auseinanderentwickelt. Vergleichsweise wenige erfreuen sich enormer Einkommenszuwächse, während die Einkommen der breiten Mittelschicht in Deutschland stagnieren oder real teilweise sogar sinken. Doch die Menschen in der Mitte der Gesellschaft erbringen den Löwenanteil dessen, was verteilt wird. Ihre Anstrengung, das eigene Leben in die Hand zu nehmen, mit allen Risiken und Unwägbarkeiten, verdient Anerkennung, Respekt und Förderung durch den Staat. Es ist wichtig, dass sie erleben: Ihr Beitrag lohnt sich auch für sie selber. Und bei allem Werben der Politik um die Mitte: Die Steuer- und Beitragszahler merken am Geldbeutel, wie handfest die Unterstützung für sie wirklich ist. Mich überrascht es nicht, wenn Fragen nach der sozialen Gerechtigkeit aufgeworfen werden. Dabei stören mich weniger die Managergehälter für sich genommen. Mehr Sorgen bereitet mir die zunehmende Verunsicherung der Mittelschicht.

Wer bestimmt, was sozial gerecht ist?

Es gibt immer wieder ganz oben und ganz unten auf der Einkommensskala Fälle, da weiß jeder: Das ist jetzt aber ungerecht. Im Übrigen hat unser Gerechtigkeitsempfinden viel mit dem Blick auf andere zu tun. Da kommt so lange keine Unruhe auf, wie das Gefühl vorherrscht, dass sich eigene Anstrengung lohnt und dass jeder die gleiche Chance hat, die eigene Leistungsfähigkeit zu entwickeln. Der Schlüssel hierfür ist Bildung. Gleiche Bildungschancen sind die wichtigste Form sozialer Gerechtigkeit. Hier hapert es in Deutschland, und alle wissen es. Die Durchlässigkeit unseres Bildungssystems und damit auch unseres Sozialsystems hat abgenommen. Arbeiterkinder haben es um ein Vielfaches schwerer, aufs Gymnasium und später auf die Universität zu kommen. Noch schlechter steht es um die Kinder von Zugewanderten. Das ist ein unakzeptabler Zustand. Die Vitalität und Stabilität der Demokratie – auch der Wirtschaft – hängen letztlich eminent von der Durchlässigkeit der Gesellschaft ab. Wir brauchen Eliten. Aber sie dürfen sich nicht nur aus sich selber rekrutieren. Aufsteigen zu können ist viel wichtiger als die Frage, wer wie viel verdient. Für mich ist es ein zentraler Prüfstein für unsere Zukunftsfähigkeit, ob die nachhaltige Verbesserung unseres Bildungswesens gelingt. Kein Talent in Deutschland darf vernachlässigt werden.

Angesichts der auseinandergehenden Einkommens- und Vermögensentwicklung wird schon von einer Legitimationskrise der Marktwirtschaft gesprochen. Sehen Sie das auch so?

Ich rate dazu, diese Frage weder zu dramatisieren noch zu ignorieren. Ungleichheit gehört zur Freiheit, zur menschlichen Natur und zu jeder offenen Gesellschaft. Sie ist eine dynamische Kraft. Die Frage ist: Wie viel Ungleichheit stärkt die schöpferischen Kräfte, und ab wann gefährdet Ungleichheit den Zusammenhalt zu Lasten aller? Meine Meinung ist: Die Gesellschaft wird nicht durch Nivellierung der Einkommen, sondern durch Chancengerechtigkeit zusammengehalten. Und natürlich auch durch die Einsicht der oberen Einkommensschichten, sich als Teil der Gesellschaft insgesamt zu verstehen. Deshalb erwarte ich von ihnen Einfühlungsvermögen, und Führen durch Vorbild. Da rede ich nicht nur von den Managern.

Brauchen wir einen Mindestlohn?

Mindestlöhne gibt es auch anderswo, und bislang ist das Abendland nicht untergegangen. Aber es gibt Risiken, denn ein Mindestlohn, der von den Arbeitgebern im Wettbewerb nicht gezahlt werden kann, vernichtet Arbeitsplätze. Das Problem besteht doch darin: Wenn Arbeit überall auf der Welt in gewünschter Qualität geleistet werden kann, dann lässt sich ihr Preis immer weniger innerhalb von Landesgrenzen bestimmen. Diesen Druck erfahren vor allem Menschen, denen nur einfache Tätigkeiten gelingen. Sollen sie zur Arbeitslosigkeit verurteilt sein, weil ihre Arbeitskraft zu teuer ist und deshalb nicht nachgefragt wird? Sollen sie zu Löhnen arbeiten müssen, von denen sich nicht leben und nicht sterben lässt? Hier liegt ein Spannungsfeld, dem sich Staat und Tarifparteien stellen müssen. Wie schaffen wir es, Hilfe zu organisieren, die wirksam bei den Menschen ankommt, zugleich aber die Probleme auf dem Arbeitsmarkt nicht noch verschärft? Ob die Vereinbarung zum Post-Mindestlohn eine rundum gelungene Antwort auf diese Fragen ist, weiß ich nicht. Andererseits sehe ich durchaus, dass es eine der Kernaufgaben des modernen Sozialstaates ist, seinen Bürgern ein Leben frei von Not zu ermöglichen. Deshalb sage ich: Wenn ein Arbeitseinkommen nicht reicht, um das Auskommen zu sichern, muss der Staat etwas dazugeben.

Immer öfter ertönt der Ruf, der Staat solle eingreifen. Den Leuten wird das Rauchen in Gaststätten verboten, ausländischen Staatsfonds sollen die Investitionsmöglichkeiten in Deutschland erschwert werden.

Wir leben in einer Zeit weltweit tiefgreifenden Wandels. Das stärkt das Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit. Für den Staat wird es dadurch schwerer, sich auf die notwendige Prioritätenbildung zu konzentrieren, und umgekehrt wird ihm eine Lösungskapazität zugeordnet, die er in der Wirklichkeit der Globalisierung nicht hat. Die Frage, wie viel Staat brauchen und wollen wir wirklich, ist in Deutschland noch nicht substantiell diskutiert worden. Diese Diskussion brauchen wir aber, wenn wir die Herausforderung der Globalisierung bestehen wollen. Ich glaube, wir machen einen grundlegenden Fehler, wenn wir die Eigenverantwortung der Menschen zu gering schätzen und auch ihren Willen und ihre Fähigkeit, Probleme selbst zu lösen.

Sollte der Staat den Bürgern ein Grundeinkommen zahlen?

Fördern und Fordern müssen zusammenbleiben. Ich halte es deshalb nicht für richtig, ein Grundeinkommen ohne Bedingungen zu garantieren. Der Staat hat ja auch nicht die Verfügungsgewalt über die Arbeitsplätze. Nach meiner Vorstellung geht es um einen Staat, der seinen Bürgern so viel Freiheit gibt wie möglich, aber auch so viel Sicherheit wie nötig. Das ist ein Staat, der sich auf seine Kernaufgaben konzentriert – sozialen Ausgleich, Bildung und Kultur, innere und äußere Sicherheit.

Über Innenminister Schäuble haben Sie in diesem Jahr gesagt, er verunsichere mit seinen Vorschlägen zur Verbesserung der inneren Sicherheit im Stakkato-Rhythmus die Bürger.

Ich habe großen Respekt vor der Arbeit von Wolfgang Schäuble, der in Zeiten des Terrorismus für die innere Sicherheit zuständig ist. Die Bedrohungslage hat sich zweifelsohne verschärft. Und der technische Fortschritt verschafft den Feinden unserer Gesellschaftsordnung neue Kommunikationsmittel. Terroristen kennen keine Regeln. Ihnen ist jedes Mittel recht. Heißt das, der demokratische Staat muss sich auf die Ebene der Terroristen begeben, um sie wirksam bekämpfen zu können? Schauen Sie: Amerika ist und bleibt für mich der Hort der Freiheit in der Welt, und doch scheint mir, unseren amerikanischen Freunden ist im Kampf gegen den Terrorismus etwas Wichtiges von sich selbst verloren gegangen. Da brauchen sie unsere Unterstützung und unser Verständnis dafür, wie tief sie der 11. September getroffen hat, und wir sollten beides einbringen; nicht nur, weil wir in der westlichen Wertegemeinschaft aneinander gebunden sind, sondern auch aus Freundschaft. Gerade die Ursprünge dieser Freundschaft und unsere vorangegangene schlimme Geschichte und ihre Aufarbeitung sind es doch, die uns sensibel machen gegen Willkür und Regellosigkeit.

In den siebziger und achtziger Jahren ist die Debatte über das Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit schärfer geführt worden als heute.

Damals ging es vor allem um den RAF-Terrorismus, und ich erinnere mich an den einen oder anderen Vorschlag, der weit über das Ziel hinausging. Der Rechtsstaat hat diese Bewährungsprobe bestanden. Daran sollten wir uns erinnern.

Aus Ihren Äußerungen spricht die Sorge, dass es beim Kampf gegen den Terrorismus zu Grenzüberschreitungen kommen könnte. An wem ist es, sie zu verhindern?

An uns allen. Und eine große Koalition aus beiden Volksparteien hat die große Chance, beim Thema „Innere Sicherheit“ mit einer Stimme zu sprechen. Gerade in diesem Bereich muss es um die Sache gehen. Die Grenze dessen, was wir einsetzen wollen, zieht unumstößlich Artikel 1 des Grundgesetzes, der auch auf Terroristen angewendet werden muss: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Brauchen wir Kinderrechte im Grundgesetz?

Wir brauchen Achtsamkeit für Kinder vor allem in den Herzen und Köpfen der Erwachsenen. Wollen wir weiter hinnehmen, dass hinter irgendeiner verschlossenen Wohnungstür in Deutschland ein Kind hungern oder in anderer Weise Not leiden muss? Manchmal ist ein aufmerksamer Mitmensch entscheidender als ein Verfassungstext.

Sie stammen aus einer Familie, die aus eigener Erfahrung weiß, was Flucht und Vertreibung bedeuten. Wie müsste Ihrer Auffassung nach das sogenannte „sichtbare Zeichen“ in Berlin aussehen, das sich die Bundesregierung vorgenommen hat?

Zunächst einmal: Ich sehe mich nicht als Vertriebenen. Vertrieben wurden die polnischen Menschen, in deren Haus meine Eltern damals eingewiesen wurden. Das sichtbare Zeichen in Berlin sollte die Ursachen von Flucht und Vertreibung gleichermaßen wie die Leiden der Menschen verdeutlichen. Und es sollte einen Beitrag zur Versöhnung zwischen den Völkern leisten. Ich finde die Idee gut, das Projekt in ein europäisches Netzwerk der Erinnerung an Flucht und Vertreibung einzubringen.

Was halten Sie vom polnischen Vorschlag, ein Museum des Zweiten Weltkrieges in Danzig zu errichten?

Deutschland sollte sich einer offenen Diskussion darüber nicht versperren. Zwischen den Vorhaben sehe ich keinen grundsätzlichen Gegensatz. Sie könnten wichtige Teile des europäischen Netzwerks sein.

Die Initiative zum Gedenken an die Vertreibung ging in Deutschland von Erika Steinbach aus, der Präsidentin des Bundes der Vertriebenen. In Polen gilt sie als Persona non grata. Hat Polen in ihrem Fall ein Vetorecht ?

Ich setze darauf, dass beide Seiten eine gute Lösung finden können. Die polnische Seite wird aber sicher Verständnis dafür haben, dass über deutsche Personalfragen in Deutschland entschieden wird.

Sie sind für die Beteiligung der Vertriebenen an diesem Projekt?

Ja. Es gibt für mich keinen überzeugenden Grund, die Vertriebenenverbände von diesem Projekt auszuschließen. Ihr Sachverstand sollte hilfreich sein.

Ihre Amtszeit endet im Sommer 2009, kurz vor der Bundestagswahl. Wann werden Sie bekanntgeben, ob Sie wieder antreten?

Ich habe gesagt, etwa ein Jahr vor Ablauf meiner Amtszeit.

Ihr Vorschlag, über eine Direktwahl späterer Bundespräsidenten nachzudenken, sorgte in Berlin für erheblichen Wellengang. Halten Sie an dieser Idee fest?

Mein Thema ist: Wie können wir es schaffen, die Bürger insgesamt stärker am politischen Prozess zu beteiligen? Die Gründungslogik der Republik hat, wie Sie wissen, ein politisches System geschaffen, in dem die Wähler bei den Spitzenämtern auf Bundesebene nicht unmittelbar über Personen abstimmen können. Die Gründer der Republik hatten ein gesundes Misstrauen gegenüber der demokratischen Standfestigkeit der Deutschen. Die Frage ist, ob dieses institutionalisierte Misstrauen heute noch angebracht ist. Ob hier in Zukunft Änderungsbedarf besteht, soll offen diskutiert werden. Der Bundespräsident soll für alle Menschen in Deutschland sprechen. Dann sollte es nicht undenkbar sein, dass er von den Deutschen auch direkt gewählt wird. Oder wollen wir uns einreden lassen, wir hätten keinen Grund zur Zuversicht in die Stabilität der Demokratie in Deutschland?

Wer sollte uns das einreden? Die Parteien?

Sie sehen doch, die Zahl der Menschen, die sich parteipolitisch engagieren, nimmt ab, und die Zahl der Menschen, die sich jenseits von politischen Parteien zivilgesellschaftlich engagieren, nimmt zu. Solche Signale nehme ich auf, und ich nehme sie ernst.

Das heißt, Sie treten für mehr plebiszitäre Elemente ein?

Ich bin aufgeschlossen für eine Diskussion über mehr Elemente direkter Demokratie. Und den etablierten Parteien kann es nicht schaden, mehr mit den Bürgern zu reden und ihnen genauer zuzuhören. Es gibt Gegenden, in denen extremistische Parteien in den Ruf geraten sind, die einzigen zu sein, die sich wirklich um die Bürger kümmern. Darin sehe ich eine dringende Aufforderung an die demokratischen Parteien. Sie müssen den Bürgern deutlich machen, dass sie ihre Anliegen ernst nehmen. Und die Bürger sehe ich in der Pflicht, ihre Erfahrung und ihr Wissen stärker an die Politik heranzutragen. Ich bin überzeugt, dass es Aufgabe der Parteien ist, in unserem Verfassungsgefüge zur demokratischen Willensbildung beizutragen. Aber die Diskussionen in Berlin haben mit der Wirklichkeit der Menschen zuweilen recht wenig zu tun.

Also gibt es das „Raumschiff Berlin“?

Darin steckt ein Körnchen Wahrheit. Ich bin dafür, den Bürgern im Land mit Aufmerksamkeit zu begegnen. Das haben sie verdient. Und ich sage voraus: Die Parteien profitieren davon in ihrer wichtigen, verantwortungsvollen Arbeit.

Das Gespräch mit dem Bundespräsidenten führten Berthold Kohler und Günter Bannas.



Text: F.A.Z.