Samstag, 9. Februar 2008

Der größte Regisseur der Welt filmt die berühmtesten Rocker in New York

Der größte Regisseur der Welt filmt die berühmtesten Rocker in New York: Martin Scorsese im Gespräch Meine Nächte mit Mick „Warum besorgen wir uns nicht die besten Kameraleute und machen uns einen Riesenspaß“, fragte Martin Scorsese die Rolling Stones. Daraus wurde „Shine a Light“. Außerdem erzählt er, warum der diesjährige Ehrenbärträger Francesco Rosi für ihn einer der wichtigsten Filmemacher überhaupt ist.

Mr. Scorsese, Ihre Musikdokumentation „Shine a Light“ eröffnet die Berlinale. Warum wollten Sie ausgerechnet einen Film über die Rolling Stones machen?

Ich liebe Dokumentationen. Das hält mich frisch, glaube ich. Die Rolling Stones sind die meistdokumentierte Rockgruppe der Geschichte. Sie haben schon alles gemacht, wirklich alles, auch vor der Kamera. Was sie aber eigentlich tun und was sie auch tun sollten, ist aufzutreten. Darum wollte ich die beste Performance bekommen, die wir kriegen können. Ich arbeitete damals mit Mick Jagger an einem Projekt über die Geschichte der Musikbranche. Wir haben uns über verschiedene Formen von Auftritten unterhalten – und ich habe ihm gesagt: Ich muss einfach einen Performance-Film von euch machen. Mick schlug das nächste Konzert vor, das sie sowieso geplant hatten, in Rio de Janeiro. Eine Million Leute im Stadion vor der Bühne – phantastisch! Aber dann habe ich mir diese Gigantomanie durch den Kopf gehen lassen und dachte: Warum machen wir nicht etwas Intimeres? Einen kleineren Ort wie das „Beacon Theatre“ in New York, besorgen uns die besten Kameramänner der Welt, überwacht und gelenkt vom Kameramann Robert Richardson – und machen ein spezielles Konzert über zwei Nächte. Die Stones haben zugestimmt. Und so landeten wir bei einem Konzert-Film.

Es war ein großer Spaß, diesen Film zu machen. Auch einfach ihn anzugucken: es ist ein Zwei-Stunden-Film, es gibt vielleicht einen zehnminütigen Abschnitt am Beginn, das ist eine Art Dokumentation mit Zitaten hintereinander. Aber sonst ist es kein klassischer Dokumentarfilm – es ist ein Konzert.

Ähnlich wie „The Last Waltz“?

Nein, die Geschichte ist anders. Die Geschichte ist der Auftritt. Ihre Gesichter sind die Geschichte. Die Beziehungen, die sie untereinander auf der Bühne haben. Wie sie einander ansehen. Nur ein kleines bisschen Dokumentarmaterial ihrer Auftritte über die Jahrzehnte.

In „The Last Waltz“ schneiden Sie nie zum Publikum, wie man das in den meisten Musikfilmen sieht, um die Begeisterung der Zuhörer zu transportieren.

Ja, das ist die „Woodstock“-Methode. Michael Wadleighs Film über das legendäre Konzert dauert drei Stunden, davon sieht man eineinhalb Stunden das Publikum. In diesem Fall waren diese dokumentarischen Passagen sehr wichtig. Wussten Sie, dass ich damals bei „Woodstock“ mitgearbeitet habe, auch am Schnitt? Das war eine extrem außergewöhnliche Erfahrung.

In „The Last Waltz“ habe ich mich mehr an Bert Sterns „Jazz on a Summer’s Day“ orientiert über das Newport Jazz Festival von 1958. Das ist für mich der beste Musikfilm, der je gemacht wurde. Was mich daran so beeindruckt hat: Die Kamera hält das Bild und bleibt drauf. So vermittelt sich eine ganz andere Spannung. Diesen Ansatz – das Gegenteil von „Woodstock“, der auch in den Konzertszenen sehr oft schneidet und verschiedene Perspektiven einnimmt – haben wir auch auf „Shine a Light“ übertragen.

Wie war die Arbeit mit den Stones?

Man muss bereit sein. Ich hatte gerade den Film „The Departed“ fertiggestellt, ich weiß, ehrlich gesagt, gar nicht, ob ich die allerletzte komplette Fassung überhaupt noch gesehen habe, weil ich so viel mit dem neuen Film zu tun hatte. Denn die Stones waren auf Tour und hatten nur eine begrenzte Menge Zeit. Die sind dann in bestimmten Städten nur ein paar Stunden zusammen. Meine ganze Energie ging darein, das alles fertigzubekommen.

Sie arbeiten schon an dem nächsten Musikfilm: über George Harrison.

Auch das ist wieder etwas Neues. Mich interessiert hier ein Mensch, der mit sich selbst gekämpft hat, der seinen inneren Frieden gesucht hat. Er hat meditiert – ich habe da selbst wenig Ahnung von, aber dieses Spirituelle interessiert mich. Harrison hatte eine dunklere Seite, das merkt man, wenn man ihm zuhört. Das ist eine großartige Story – wenn ich sie finde! Wir haben ganz viel Material. Das wird einige Jahre dauern.

Auch für Ihre eigenen Filme ist Musik sehr wichtig. Können Sie etwas über Ihren Umgang mit Musik verraten?

Ich verwende die Musik, die ich fortwährend höre. Musik begleitet mich mein Leben lang. Musik schafft in mir eine Atmosphäre, eine bestimmte Stimmung, die sehr leicht in filmische Bilder übersetzbar ist. Wenn ich an einem Film arbeite, wähle ich Musik aus und höre sie immer wieder. Normalerweise ziehe ich mich zunächst für fünf, sechs Tage zurück, in ein Hotelzimmer zum Beispiel, und verbringe Zeit allein mit dem Script und mit verschiedener Musik. Ich probiere dann aus, was passiert, welche Musik welche Bilder inspiriert. Ich zeichne dann Bilder. Manchmal nehme ich dann auch Musik zum Drehort mit, damit die Kamerabewegungen mit der Musik korrespondieren.

Unterschiedliche Musik inspiriert unterschiedliche Ideen. In gewissem Sinn arbeite ich mit Schauspielern ähnlich. Ich habe keine Ahnung von Schauspielstilen und -schulen. Jeder ist aus meiner Sicht anders. Ich versuche für die Schauspieler eine Atmosphäre zu schaffen, die Freiheit schafft, einen Raum kreiert. Das bedeutet nicht, dass sie dann machen können, was sie wollen. Es ist ein evolutionärer Prozess, und da hilft mir die Musik sehr.

Vor einem Jahr haben Sie endlich einen Regie-Oscar bekommen, für „The Departed“, also ausgerechnet für das Remake eines Hongkong-Thrillers. Es war ja höchste Zeit. Was waren die Folgen? Hat der Gewinn Ihre eigene Einstellung zu Ihrer Arbeit verändert?

Der Oscar war schön. Es geht nicht darum, ob er früh oder spät kommt, wichtig ist, dass man ihn irgendwann bekommt. Ich wollte immer den Oscar, das stimmt. Als ich für „Taxi Driver“ noch nicht einmal nominiert war, war ich schwer enttäuscht. Im Rückblick aber kann ich sagen, dass es mir gutgetan hat, denn ich habe es zunehmend aufgegeben, mich auf die Preise zu konzentrieren. Ich konzentriere mich auf meine Arbeit. Mitte der neunziger Jahre begannen andere Leute zu bemerken, dass ich noch immer keinen Oscar hatte. Sie schrieben darüber, das war schmeichelhaft. Aber dann wurde es zu viel, und alles wurde politisch.

Wie es dazu kam, dass ich den Oscar nun gerade für „The Departed“ bekam, weiß ich nicht. Ich hatte keinen Werbefeldzug geführt. Der Film forderte mich derart auf einem Gebiet, von dem ich dachte, etwas zu verstehen, ich hatte wirklich andere Dinge im Kopf. Vielleicht war es eine Frage des Timings.

Zu „The Departed“: Sie sagen, es sei ein Remake. Ich sehe es als eine andere Version. Aber vielleicht ist das eine Frage der Semantik. Die meisten amerikanischen Western sind in diesem Sinne Remakes von anderen Western.

Was ist Ihnen als Regisseur im Laufe Ihrer Karriere am schwersten gefallen?

Züge und Boote sind das Allerschwerste. Denn ein Boot bewegt sich und bewegt sich und bewegt sich. Züge sind groß, und wenn sie einmal vorbeigefahren sind und man das Ganze wiederholen möchte, muss man sie den ganzen Weg wieder zurückschaffen. Letzteres weiß ich seit meinem ersten Film „Boxcar Bertha“, eine Art Exploitation-Film, den ich für das Studio von Roger Corman gedreht habe. Grundsätzlich habe ich damals eines von Corman gelernt: Man soll immer die schwierigsten Szenen als Erstes drehen. Dann hat man es hinter sich. Richtige Exploitation-Filme macht man ja heute gar nicht mehr. Aber die Produktionstechniken des Exploitation-Films haben mir für alle meine späteren Filme sehr genutzt.

Was ist der wichtigste Arbeitsschritt?

Der Schnitt. Das Schneiden ist am aufregendsten, das macht mir am meisten Spaß. Ich hatte in meinen Anfangsjahren einige Schwierigkeiten mit dem amerikanischen Schnittsystem. Es gab in Hollywood zwar großartige Cutter, aber die haben die Regisseure aus dem Schneideraum geworfen und allein gearbeitet. Das war nichts für mich. „Mean Streets“ habe ich dann eigentlich selber geschnitten. Meine Freunde Jay Cocks und Brian De Palma haben mir geholfen, Steven Spielberg auch ein bisschen. Aber einen Credit habe ich dafür natürlich wegen der Gewerkschaftsvorschriften nicht bekommen dürfen. Ich habe beim Schneiden viel experimentiert. Damals war das noch möglich, da konnte man an einer einzigen Szene vier Monate lang schneiden, wenn man wollte.

Die Filme, die ich mache, werden ein Teil von mir. Es ist ungemein intensiv, und wenn ich den Film schneide, wird es noch schlimmer: Immer wieder sieht man hochgradig emotionale Szenen, ich sehe dies und jenes und will beides unbedingt im Film haben und muss es dann doch draußen lassen – an so etwas leide ich sehr. Zugleich spürt man, dass man lebt.

Haben Sie je selbst den „Final Cut“, das Recht aufs letzte Wort beim Schnitt?

Eine schwierige Frage. Ich glaube nicht an die Idee der verschiedenen Versionen eines Films. Ich finde die Idee des „Director’s Cut“ etwas absurd. Der Film, den wir sehen, sollte der „Director’s Cut“ sein. Oder die Studios schneiden ungefragt zwanzig Minuten gegen den Willen des Regisseurs raus, wie das bei Peckinpahs „Pat Garrett und Billy the Kid“ passiert ist. Ein Meisterwerk. Da war die Verlängerung eigentlich eine Restaurierung und angemessen. Aber heute schleift sich durch die DVD ein Verfahren ein, dass es auf jeder DVD alle möglichen Szenen gibt, die man eigentlich gar nicht sehen sollte, weil sie aus guten Gründen herausgeschnitten wurden. Wenn der Regisseur wollte, dass das im Film drin ist, hätte er dafür kämpfen sollen. Und wenn er damit scheitert, ist er eben gescheitert.

Sie beschäftigen sich im Rahmen der von Ihnen gegründeten „World Cinema Foundation“ viel mit Restaurationen anderer Filme. Aber was ist mit Ihren eigenen Werken? Immer wieder hört man von jener sagenhaften Fünf-Stunden-Schnittversion von „New York, New York“, die angeblich nur Brian De Palma zu sehen bekam.

Ja, Brian De Palma, aber Sam Fuller und ein ganzer Haufen anderer waren auch da. Das war der „First Cut“, die allererste Schnittversion, mehr nicht. Sie würden nicht den First Cut aller möglichen Filme sehen wollen, glauben Sie mir, das kann ganz schön langweilig sein. Das ist wie ein roher Marmorblock, in dem der Film versteckt liegt. Den musste man erst finden. Ich hatte eine Ahnung davon, habe aber in diesem Fall nie den Weg gefunden, von dem ich dachte, dass ich ihn finden würde, und den Film in diesem Fall nicht aus der Rohfassung herausgeschnitten. Vielleicht wäre der erste Schnitt am Ende die bessere Version gewesen. Aber damals gab es die technischen Voraussetzungen nicht, um ihn zu konservieren. Die Fassung wurde zerstört.

Ich hatte eine wunderbare zehnminütige Schlussszene, eine Art Musicalstück, eine Hommage an Gene Kelly, die die Leute bei Testvorführungen immer mochten. Aber ich habe sie rausgeschnitten, um dem Studio zu beweisen, dass ich nicht stur war. Wahrscheinlich war ich damals ein bisschen stur. Das war ein großes Opfer, aber auch ein bisschen dumm von mir. Denn das war das Happy End des Films, das hat dem Charakter des Films einfach entsprochen. Alles in „New York, New York“, die Farben, der Ton, deuteten auf ein Happy End hin. So habe ich aus dem Film sein Herz herausgeschnitten. Das wurde dann die Verleih-Version. Der Film hat an der Kasse auch einigermaßen funktioniert. Aber er startete damals am gleichen Wochenende wie „Star Wars“. Aus, fertig, vergessen – nein, nicht vergessen: gegessen.

Das Rendezvous mit den Teufeln Martin Scorseses Rolling-Stones-Dokumentation „Shine a Light“ hat sich gegen große Konkurrenz zu bewähren

Martin Scorseses „Shine a Light“, der heute Abend die Berlinale eröffnet, lässt sich auf einen großen Wettstreit ein. Nicht im Festival-Wettbewerb – er läuft dort außer Konkurrenz –, aber im Vergleich mit den anderen Dokumentationen, die es sonst noch über die Rolling Stones gibt. Angesichts von 46 Jahren Band-Geschichte kann man sich deren Zahl ausmalen, aber darunter finden sich mindestens zwei Perlen: „Gimme Shelter“ von den Brüdern Maysles und Charlotte Zwerin sowie „One Plus One“ von Jean-Luc Godard.

Beide entstanden am Ende der sechziger Jahre, in der produktivsten Zeit der Stones und zugleich ihrer schwierigsten Phase. Zwischen beiden Dokumentationen liegt der Tod des Gründungsgitarristen Brian Jones, der die Band gerade verlassen hatte, als er im Juli 1969 in seinem Swimmingpool ertrank. Sein Nachfolger, Mick Taylor, war schon ausgesucht, und zwei Tage später, am 5. Juli, gaben die Stones im Londoner Hyde Park das erste der drei großen Rock-Gratiskonzerte des Jahres 1969 (das zweite sollte Woodstock werden, das dritte Altamont). Darüber haben Jo Durden-Smith und Leslie Woodhead die leider viel zu kurze Dokumentation „The Stones in the Park“ gedreht, in der man noch einmal die Unschuld jener Zeit vorgeführt bekommt, obwohl das Konzert in einer fast viertelstundenlangen Version von „Sympathy for the Devil“ gipfelte.

Dieses Lied ist der geheime Kern aller bedeutenden Rolling-Stones-Dokumentationen. Im Hyde Park ließen drei tapsige Roadies dazu aus Pappkartons einige Tausende Schmetterlinge frei, die dann über die Bühne irrten. Das war schon der Höhepunkt der Bühnenshow. Auf dreihunderttausend Zuhörer wird das Publikum geschätzt, und die vorderen Reihen standen direkt vor der vielleicht halbmeterhohen Bühne. Was für ein Unterschied zum stockwerkhohen Bühnenrand auf der bislang letzten Tournee der Stones, die seit vergangenem Jahr auf der Vierfach-DVD „The Biggest Bang“ dokumentiert ist. Da sind die Musiker unerreichbar, und hinter ihnen türmt sich eine mietshausgroße Kulisse, die auf dem Höhepunkt der Show, natürlich zu „Sympathy for the Devil“, zu explodieren scheint. Schmetterlinge müssten hier das Ausmaß von Adlern haben, um noch gesehen zu werden. Als nach einem der Konzerte doch einmal einige Fans auf die Bühne gelangen, sieht man dem Gitarristen Ron Wood den Schreck darüber an.

Es ist, fast vierzig Jahre später, immer noch der Schreck von Altamont am 6. Dezember 1969, obwohl Wood da noch gar nicht dabei war. Die Hells Angels, die sich dort als Sicherheitsdienst gerierten, waren auch schon im Hyde Park aktiv gewesen, martialisch mit Hakenkreuzen und Nieten drapiert, aber vollkommen friedlich. In Kalifornien prügelten sie aufs Publikum ein und erstachen einen Schwarzen, der mit einer Pistole herumfuchtelte. Selbst die Bühne hatten sie erobert: Es gibt eine faszinierende Aufnahme in „Gimme Shelter“, dem Film, der die letzten zehn Tage der damaligen Amerika-Tournee dokumentiert, in der man vorne angeschnitten Mick Jagger tanzen sieht, doch die Kamera fokussiert auf einen Hells Angel, der dem Sänger dabei vollkommen unbewegt zusieht – gebündelte Gewalt.

„Gimme Shelter“ lebt vom Wissen um das, was in Altamont geschah. Die Szenen, in denen sich die Stones selbst die Aufnahmen ansehen und die eigene Hilflosigkeit kaum ertragen können, gehören zum ewigen Bilderschatz des Kinos – und zu seinen eindrucksvollsten Selbstanklagen. Denn ohne die Dokumentation hätte das berüchtigte Konzert wohl gar nicht stattgefunden. Man wollte Woodstock übertreffen, wie Woodstock Hyde Park übertroffen hatte, und dazu gehörte ein ordentlicher Konzertfilm. „Gimme Shelter“ aber wurde viel mehr: der bislang beste Film über die Rolling Stones.

Den strebte Jean-Luc Godard gar nicht an. Ihm war es ein Jahr zuvor egal gewesen, ob nun die Beatles oder die Rolling Stones zusagen würden, aber ohne eine Band dieser Kategorie hätte er sich nicht bereit erklärt, 1968 seinen ersten britischen Film zu drehen: „One Plus One“. Beide Gruppen waren damals im Studio. Die Beatles nahmen das „Weiße Album“ auf, doch das taten sie so eigenbrötlerisch und voneinander isoliert, dass sich der Toningenieur noch heute mit Grausen daran erinnert (F.A.Z. vom 14. Dezember 2007). Godard aber, dem ein Filmessay über den Gegensatz zwischen Erschaffen und Zerstören vorschwebte, zwischen der Entstehung eines Kunstwerks und dem Zusammenbruch der Gesellschaft, brauchte eine kreative Künstlertruppe. Das waren die Rolling Stones allemal. Sie waren dabei, das Album „Beggars Banquet“ aufzunehmen, und sie entwickelten ihre Ideen dazu im Studio weiter.

Das Paradestück auf „Beggars Banquet“ ist „Sympathy for the Devil“ – nach Meinung von Eddie Vedder, dem Kopf von Pearl Jam, der beste Rocksong, der jemals geschrieben wurde. Dem trägt der instinktsichere Godard Rechnung: Der halbe Film widmet sich allein den Aufnahmesessions zu diesem Lied, und es ist faszinierend zuzuhören, wie aus einem beinahe schleppenden Blues das aufgeheizte polyrhythmische Kunstwerk wird, das heute jeder kennt. Den Bruch markiert ein Schnitt fast genau in der Mitte des Films – als Ausweis der unabbildbaren Genialität. Plötzlich ist die Orgel nicht mehr da, und stattdessen geben Congas den Ton an; selbst Mick Jagger hat jetzt eine kleine Handtrommel zwischen den Knien.

„One Plus One“ ist ein Unikum: einerseits die subtilste Dokumentation über das, was den Rang der Stones ausmacht (ihre Improvisationsfreude und unerschöpfliche Kenntnis von Rock und Blues), und zugleich ein cineastischer Molotowcocktail, denn die andere Hälfte des Films ist eine in Bilder gefasste politische Improvisation über sämtliche drängenden revolutionären Fragen. Und 1968 drängte da so einiges; Godard verlor über sein politisches Engagement für die Studenten oder die Black Panthers die Stones beinahe aus dem Auge. Schon die erste Einstellung rückt nicht die Band, sondern das kunstvoll ausgestattete Studio in den Mittelpunkt: mittels pastellen eingefärbter Trennwände ist eine Art Barackenstadt eingebaut, und immer wieder umkreist die Kamera diesen faszinierend verwinkelten Ort – in jener Bewegung, mit der am Ende auch der Kamerakran umtanzt wird, der die Leiche einer am Strand erschossenen Revolutionärin in den Himmel hebt.

Damit wollte Godard den Film abrupt enden lassen, doch der englische Produzent Michael Pearson fror das Bild ein, legte die endgültige Fassung von „Sympathy for the Devil“ als Tonspur darüber und strich gleich auch noch den Filmtitel „One Plus One“. Fortan hieß auch Godards Werk „Sympathy for the Devil“. Der Regisseur war empört und ohrfeigte bei der Premiere Pearson öffentlich.

Die Stones waren ihrerseits mit Godard unzufrieden, und künftig suchten sie sich ihre Dokumentaristen sorgfältig aus. Martin Scorsese kann sich also einiges darauf einbilden, die Zusage für „Shine a Light“ bekommen zu haben. Aber er hatte seine eigenen Bedingungen: Das angebotene Mammutkonzert vor anderthalb Millionen Besuchern an der Copacabana lehnte er ab (dieser Abend findet sich nun auf „The Biggest Bang“), stattdessen filmte er die Band im kleinen Konzertsaal „Beacon Theatre“ – einer Bühne, wie die Stones sie zur Einstimmung auf ihre Tourneen lieben. Der Berlinale-Palast dürfte heute Abend etlichen Zuschauern mehr Platz bieten – und der Platz davor noch vielen zusätzlich. Sie freuen sich auf die Stones und auf Scorsese und auf einen Film, der es schwer haben wird gegen seine Vorläufer. Möge der liebe Gott Scorsese erleuchtet haben. Andreas Platthaus


„Sympathy for the Devil“ gibt es bei Warner auf DVD, „The Biggest Bang“ bei Universal Music und „Gimme Shelter“ in der Criterion Collection.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 07.02.2008 Seite B2

Vermächtnis einer Generation Bis auf weiteres ist Martin Scorseses „Last Waltz“ als Musikfilm nicht zu schlagen

Thanksgiving 1976. The Band, bestehend aus Rick Danko, Levon Helm, Garth Hudson, Richard Manuel und Robbie Robertson, gibt ihr Abschiedskonzert im Winterland in San Francisco. Ein paar Freunde aus gemeinsamen Zeiten on the road, die nun zu Ende gehen, werden eingeladen, und Bill Graham, dem das Winterland gehört und der als Konzertveranstalter auftritt, gibt erst einmal für fünftausend Leute ein traditionelles Truthahnessen. Dann wird getanzt, und zwar Walzer. Schließlich heißt das Konzert „The Last Waltz“, und Robbie Robertson hatte sich die Mühe gemacht, eigens einen solchen zu komponieren. Die Stimmung ist schon mitreißend, als das Konzert anfängt. Und dann singen und spielen mit The Band über mehr als sieben Stunden unter anderen: Ronnie Hawkins, Eric Clapton und Muddy Waters, Joni Mitchell, Van Morrison, Neil Diamond und Neil Young, Dr. John, Paul Butterfield und Bob Dylan und am Ende Ringo Starr. Und weil zwar das Publikum vorher nicht wusste, dass es bei einem einmaligen, einem Jahrhundertkonzert dabei sein würde, The Band aber sehr wohl, wird das Ganze filmisch dokumentiert. In der Planung war zuerst von einer Videoaufzeichnung die Rede, dann von 16-mm-Kameras, schließlich von Martin Scorsese, der auf 35-mm drehen wollte und das mit fünf Kameras dann auch tat.

Der Film, der daraus wurde, gilt seit seiner Uraufführung 1978 als bester Musikfilm aller Zeiten, und es könnte gut sein, dass es dabei bleibt. Auf alle Fälle ist er ein auch heute noch derart bewegendes Zeugnis des Sounds und der Gesichter einer Generation, in denen Träume, Drogen, Gemeinsamkeit, Protest, Witz, Sex und Trauer musikalisch und physiognomisch zusammenfließen, dass es einen lachen macht und weinen und vor die Leinwand bannt in dem Wunsch, es würde nie zu Ende gehen.

Dabei war gerade das, der Wunsch nach dem Ende eines Lebens in den Konzertsälen, den Arenen und Kaschemmen, den Clubs und Kneipen und Open-Air-Bühnen und auf den Straßen zwischen ihnen, der Grund für dieses Abschiedskonzert. „Sechzehn Jahre auf Tour“, sagt der unfassbar gut und jung aussehende Robbie Robertson im Film zu Scorsese, „das ist so viel, dass allein die Zahl anfängt, dir einen Schrecken einzujagen. Zwanzig Jahre – darüber könnte ich nicht einmal nachdenken.“ Sie hatten genug, sie hatten, im Gegensatz zu vielen anderen, überlebt, sie wollten ihr Glück nicht länger herausfordern. Sie gingen ab. (Es gab eine Reunion in den achtziger Jahren, aber das war nicht dasselbe, und Robbie Robertson war sowieso nicht dabei.)

Martin Scorsese hatte eigentlich keine Zeit, dieses Konzert zu filmen, er war noch mit „New York, New York“ zugange, aber er wusste, dies ist einmalig, und er wollte ein Teil davon sein. Und er hat sich auf diesen Film genauso vorbereitet wie auf einen Spielfilm. Er hat sich die Texte der Songs geben lassen und die Reihenfolge der Künstler, und er hat ein detailliertes Storyboard gezeichnet, mit Kamerapositionen und Lichtwechseln; er hat den Production Designer Boris Leven engagiert, der auf die Bühne des Winterland die Kulissen von „La Traviata“ aus dem San Francisco Opera House stellte und Kronleuchter darüberhängte, er hat den Kameramann Michael Chapman als DP geholt und ihm Vilmos Zsigmond und László Kovács zur Seite gestellt (außerdem waren noch David Myer und Niro Narita dabei), und Chapman hat ein wunderbares Licht geschaffen, das überhaupt nicht nach Rockkonzert aussieht. Und als das Konzert vorbei war, hat Scorsese noch ein paar Interviews mit The Band im Shangri-La geführt, dem Büro und Wohnzimmer der Band, und drei Songs im MGM-Studio aufgenommen, wo sich die Kamera frei bewegen konnte und ein wenig Nebel über die Bühne zieht, während The Band mit den Staples den wunderbaren Gospel „The Weight“ singt und noch einmal ein ganz neuer Ton anklingt, schwarz und außerweltlich.

Scorsese, der am Anfang sagt, er wisse nicht, wie er mit Musikern sprechen solle, weil er nicht verstehe, was sie tun, weiß am Ende genau, worum es ihnen geht. Und er hat mit diesem Film etwas geschafft, was in kaum einem anderen Musikfilm vorher oder nachher gelang: nämlich die Textur dieser Musik in Bilder und Bewegung zu bannen und uns den Respekt spüren zu lassen, der unter den Künstlern herrschte, und zwar auch zwischen Filmemacher und Musikern, und die Lust, dabei zu sein. In Scorsese, sagt Robertson einmal, steckt ein verhinderter Musiker – und in ihm selbst, das spürte er, als er Scorsese bei der Arbeit zusah, ein verhinderter Filmemacher.

In Memphis, erklärt Levon Helm in einer der zauberhaftesten Interviewpassagen, kommt alles zusammen, Bluegrass und Country, Rhythm and Blues, Hillbilly, Folk Music, und vermischt sich. Wie nennt man das dann?, fragt Scorsese. Helm lächelt ihn an. Rock ’n’ Roll, sagt er, und Scorsese lacht. Da wusste er vielleicht noch nicht, dass er gerade den Rock ’n’ Roll-Film drehte, an dem sich seitdem jeder messen muss. 32 Jahre später auch er selbst. Verena Lueken


Die DVD von „The Last Waltz“ gibt es bei MGM und erscheint im März in einer Neu-Edition.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 07.02.2008 Seite B2