Samstag, 9. Februar 2008

Wie kommt der Film in die Elektronik?

Wie kommt der Film in die Elektronik-Schachtel? Wo heute MP3-Player draufsteht, ist meist auch gleich noch Daumenkino drin: Die Taschenknirpse fürs mobile Hören zeigen in ihren Sichtfenstern neben Titellisten oder Urlaubsfotos immer öfter auch bewegte Videobilder. Von Wolfgang Tunze

Für buntes Unterhaltungsprogramm reichen bereits Kleinkaliber wie der iPod Nano; größere Geräte, gern auch als Medienplayer tituliert, taugen ohne weiteres für den Genuss kompletter Spielfilme mit angemessener Detaildarstellung. Das wirft die Frage auf: Wie kommt der Film denn überhaupt in die Elektronik-Schachteln? Auf welche Weise sich die Medienzwerge mit digitaler Musik befüllen lassen, weiß ja inzwischen jedes Schulkind: Man nehme die tönende Quelle, etwa eine CD, lasse sie von einer Gratis-Software, etwa dem Programm iTunes, in Dateien des Allerweltsformats MP3 eindampfen und kopiere das Resultat über den USB-Anschluss in den Player – fertig.

In der Videowelt geht die Sache nicht ganz so flott: Als Bildquellen kommen neben vielen verschiedenen Gerätschaften auch digitale Dateien in verwirrender Formatvielfalt in Frage. Und welche Digitalfasson die abspielfertige Videodatei am Ende annehmen soll, ist leider auch nicht mit einem einzigen Kürzel zu beantworten. Immerhin: Eine gewisse Klärung ist in Sicht. Denn neben Videoformaten aus dem Hause Microsoft kristallisiert sich vor allem ein Videostandard als das heraus, was man ein audiovisuelles Gegenstück zur MP3-Musik nennen könnte: das Digitalformat mit dem sperrigen Namen MPEG 4 AVC/H.264. Es ist ein Abkömmling der MPEG-Standardfamilie, jener Normen, die seit den neunziger Jahren in den digitalen Medien Karriere machen. Als MPEG-2 etwa kommen die Bildsignale des digitalen Fernsehens und der DVD ins Wohnzimmer. Unter dem Sammelnamen MPEG-4 treten seit einigen Jahren Video-Kompressionsstandards auf, die mit noch viel knapperen Datenraten auskommen und dennoch gute Bildqualität liefern. Die Variante AVC/H.264 ist die effizienteste und modernste einer größeren MPEG-4-Sippe. Deshalb verwenden die Fernsehsender sie auch, um HDTV-Programme für die Ausstrahlung aufzubereiten.

Zurück zu den Taschenspielern: Sämtliche iPods und natürlich auch das iPhone verstehen sich auf AVC/H.264, Podcasts im Internet entsprechen ebenfalls dieser Norm, die mobile Spielekonsole Playstation Portable kann Filme in AVC/H.264 abspielen, und die videotüchtigen Varianten der neuesten MP3-Player von Sony, nach alter Väter Sitte Walkman genannt, sind gleichermaßen AVC/H.264-tüchtig. Dass in Zukunft immer mehr mobile Unterhalter mit Medienkonserven in diesem Format zurechtkommen, ist zu erwarten.

Deshalb engen wir unsere Frage zunächst darauf ein: Wie kommen AVC/H.264-Videos in einen geeigneten Player? Die einfachste Antwort gibt Pinnacle: Der Spezialist für multimediale Computer-Peripherie hat ein brandneues Stück Hardware in der Größe und mit dem Charme einer Seifenschachtel im Programm, das auf der einen Seite über Cinch- und S-Videoanschlüsse analoge Bild- und Tonsignale entgegennimmt, auf der anderen Seite einem USB-Kabel Anschluss bietet, um die direkte Verbindung zu einem iPod oder zur Playstation Portable herzustellen. Ist das „Video Transfer" genannte Gerät richtig verkabelt, genügt ein Druck auf die Aufnahme-Taste „Rec", und die normgerechte Befüllung des Players beginnt. Zuvor kann man noch mit einer „Mode"-Taste die Bildqualität festlegen. Nach diesem Prinzip lassen sich nicht nur die mobilen Unterhalter, sondern auch USB-Sticks oder Festplatten medial betanken. Das Praktische daran: Man kommt ohne Rechner aus und muss sich um die Beschaffenheit des Quellmaterials keinerlei Gedanken machen. Ob DVD-Player, analoger oder digitaler Kamkorder, Fernseher oder VHS-Videorekorder: Einen analogen Videoausgang haben sie alle.

Was aber, wenn das Ausgangsmaterial bereits als Datei auf dem Rechner vorliegt? Dann gilt es, mit einer geeigneten Software die nötigen Konvertierungen vorzunehmen. Die sind leider extrem rechenintensiv und können Stunden dauern; der schnellste Computer ist deshalb gerade gut genug. Als Rohstoffe bieten sich Videos unzähliger Digitalformate an. Etwa DV-Dateien digitaler Kamkorder, VOB-Dateien selbstgebrannter DVDs oder MPEG-2-Dateien, die von einer Fernseh-Empfangskarte im PC aufgenommen wurden. Gelegentlich tummeln sich auch Videos aus dem Internet auf der Festplatte, die in Formaten mit den zungenbrecherischen Namen DivX oder XviD kodiert sind. Dahinter verbergen sich MPEG-4-Varianten, und meist stecken solche Videos, um die Komplikationen komplett zu machen, in speziellen Container-Formaten, die ihnen ihre Dateistruktur vorgeben. Das von Microsoft entwickelte AVI ist ein solches, zu erkennen an der gleichnamigen Datei-Endung. Und last, but not least verdient noch Windows Media Video Erwähnung, das spezielle Videoformat des Microsoft-Universums.

Es gibt zwei verschiedene Wege, sich mit all diesen Digitalvorlagen auseinanderzusetzen. Der eine ist dornig, erfordert gute Nerven, eine Menge Computer-Knowhow und Spaß am digitalen Basteln, der andere setzt auf Software-Werkzeuge, die mit möglichst geringem Aufwand möglichst passgenaue Ergebnisse liefern. Der Vorteil der Schweiß- und Tränen-Methode ist ihre Flexibilität: Auf diesem Wege lassen sich mit meist unentgeltlichen Software-Tools selbst komplizierte Datenumsetzungen bewerkstelligen. Sogar Bildbeschneidungen oder -drehungen sind machbar. Ohne hier alle Finessen aufdröseln zu können, klären wir ein paar Grundsätzlichkeiten zur Vorgehensweise.

Damit ein Computer, egal ob PC oder Mac, Videodateien konvertieren kann, muss er erst einmal in der Lage sein, das Ausgangsmaterial zu entziffern. Dazu braucht er bestimmte Codecs, das sind ins Betriebssystem eingelagerte Software-Stückchen, in denen die mathematischen Vorschriften zur Dekodierung und zur Neukodierung stecken. Weder Mac OS noch Windows bringen alle wichtigen Codecs von Haus aus mit; ohne zusätzliche Software scheitern sie zum Beispiel schon an ganz trivialen MPEG-2-Dateien, von Exoten wie XviD ganz zu schweigen. Zum Glück gibt es kostenlose und unkomplizierte Abhilfe, etwa eine umfassende Codec-Sammlung, die von der Konvertierungssoftware ffdshow automatisch in Windows-PCs installiert wird (http://sourceforge.net/projects/ffdshow); Mac-Alternativen gibt es ebenfalls auf den Websites des Sourceforge-Netzwerks.

So präpariert, kann der Rechner dann auch mit anderen Konvertierungsprogrammen zusammenarbeiten, etwa der ebenfalls unentgeltlichen Software MPEG Streamclip (http://www.squared5.com/). Ihr spezieller Vorzug: Sie kommt sogar mit MPEG-2-Dateien zurecht, die von einer Fernseh-Empfangskarte im MPEG-2-Transportstrom-Format aufgenommen wurden (Dateiendung: .ts). Vor der Konvertierung mit solchen Werkzeugen gilt es dann noch, das Zielformat genau zu definieren; dazu zählen nicht nur das Dateiformat, sondern auch die Pixelauflösung, die zum Abspielgerät passen muss, die Bildfrequenz und, falls gewünscht, eine maximale Datenrate.

Für alle, die sich solche Prozeduren nicht antun möchten, gibt es auch elegantere Wege. Heißt das Zielgerät iPod oder iPhone, dann empfiehlt sich beispielsweise Apples Software-Player Quicktime als Konvertierungswerkzeug. Das Programm gibt es gratis zum Herunterladen für Windows-Rechner und für Macs; damit es sich auch auf die aktive Video-Verarbeitung versteht, bedarf es allerdings einer 30,49 Euro kostenden Aufrüstung zum Quicktime Pro. Dann konfektioniert das Programm das Video mit einem einzigen Menüklick zum maßgeschneiderten Film für das jeweilige Gerät; außerdem taugt es als einfaches Schnittwerkzeug, und wenn es soll, stellt es auch Videos in etlichen anderen Formaten her – je nachdem, welche Codecs der Rechner in seinem Betriebssystem vorfindet.

Und wenn der Player nun weder von Apple noch von Sony stammt, sondern beispielsweise von Trekstor oder Philips und wenn er mit AVC/H.264 nichts anfangen kann, sondern nach AVI-Dateien oder nach Filmen im Windows-Media-Video-Format verlangt? Dann hilft entweder die zum Gerät mitgelieferte Software oder, falls die mit exotischem Ausgangsmaterial ihre liebe Not hat, ein PC-Programm, das wie ein Schweizer Taschenmesser alle Konvertierungsaufgaben souverän löst: die Software „Filme für unterwegs 2" von Magix (http://www.magix.de/). Dieses Werkzeug will einfach nur wissen, wie der Player der Wahl heißt; alle nötigen Konvertierungseinstellungen nimmt es dann automatisch vor. Mehr als 100 Geräte umfasst die aktuelle Datenbank des Generalkonverters, darunter sogar Mobiltelefone, die sich im Nebenjob auch auf die Video-Wiedergabe verstehen. Eine eingebaute Schnitteinrichtung samt Überblend-Funktionen gehört ebenfalls zur Ausrüstung, ebenso ein automatischer Werbeblock-Killer. Ganz so einfach wie die MP3-Erstellung klappt die Produktion mobiler Videos zwar auch mit diesem Hilfsmittel noch nicht, ein Hexenwerk ist sie aber auch nicht mehr.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 05.02.2008 Seite T1

Buchstabensalat: Die wichtigsten digitalen Videoformate Die Anzeige dieses Bildes wird in Ihrem Browser möglicherweise nicht unterstützt.Die Anzeige dieses Bildes wird in Ihrem Browser möglicherweise nicht unterstützt.

MPEG-2 Videoformat des digitalen Fernsehens und der DVD. Mit etwa 5 Megabit je Sekunde erzielt MPEG-2 gute Qualität in beiden Medien.

VOB Video-Objekt, in MPEG-2 kodierte Video-Dateien der DVD. VOB ist ein sogenanntes Container-Format, das die Datenstruktur der MPEG-2-Inhalte definiert.

MPEG-4 Videoformat, das auf einer stärker wirkenden Kompression beruht. Schon 2 Megabit je Sekunde reichen für klare Bilder in voller Fernsehauflösung.

MPEG-4 AVC/H.264 Videoformat für HDTV, die HD-DVD, die Blu-ray Disc und viele Multimedia-Anwendungen, beruht auf extrem effizienter Kompression.

AAC Mit MP3 verwandtes Tonformat, das mit noch geringeren Datenraten hohe Qualität erzielt. In AAC sind auch die Tonspuren von AVC/H.264-Videos kodiert.

DV Videoformat digitaler Kassetten-Kamkorder. Jedes Bild wird separat kodiert, um Schnittfunktionen zu unterstützen.

AVI Von Microsoft definiertes Video-Containerformat, gibt Datenstrukturen vor und kann Videoinhalte unterschiedlicher Kodierungen enthalten.

Quicktime Von Apple entwickeltes Container-Format, modernere Alternative zu AVI. Kann Mediendaten in vielen verschiedenen Kodierungen enthalten.

DivX MPEG-4-Codec für PCs und Macs, Gratis-Download: http://www.divx.de/. Manche Mobilplayer (etwa der Creative Zen Vision W) spielen DivX-Dateien ab.

XviD MPEG-4-Codec für Windows und Linux. Entstand aus einer der Open- Source-Entwicklergemeinde zugänglichen DivX-Version.

WMV Windows Media Video, von Microsoft entwickeltes Videoformat der Windows-Plattform. Ähnlich MPEG-4.

Transport Stream Übertragungsformat des digitalen Fernsehens. Mobile Player können es nicht verarbeiten; Abhilfe schafft die Umwandlung mit speziellen Konvertern.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 05.02.2008 Seite T1

Der größte Regisseur der Welt filmt die berühmtesten Rocker in New York

Der größte Regisseur der Welt filmt die berühmtesten Rocker in New York: Martin Scorsese im Gespräch Meine Nächte mit Mick „Warum besorgen wir uns nicht die besten Kameraleute und machen uns einen Riesenspaß“, fragte Martin Scorsese die Rolling Stones. Daraus wurde „Shine a Light“. Außerdem erzählt er, warum der diesjährige Ehrenbärträger Francesco Rosi für ihn einer der wichtigsten Filmemacher überhaupt ist.

Mr. Scorsese, Ihre Musikdokumentation „Shine a Light“ eröffnet die Berlinale. Warum wollten Sie ausgerechnet einen Film über die Rolling Stones machen?

Ich liebe Dokumentationen. Das hält mich frisch, glaube ich. Die Rolling Stones sind die meistdokumentierte Rockgruppe der Geschichte. Sie haben schon alles gemacht, wirklich alles, auch vor der Kamera. Was sie aber eigentlich tun und was sie auch tun sollten, ist aufzutreten. Darum wollte ich die beste Performance bekommen, die wir kriegen können. Ich arbeitete damals mit Mick Jagger an einem Projekt über die Geschichte der Musikbranche. Wir haben uns über verschiedene Formen von Auftritten unterhalten – und ich habe ihm gesagt: Ich muss einfach einen Performance-Film von euch machen. Mick schlug das nächste Konzert vor, das sie sowieso geplant hatten, in Rio de Janeiro. Eine Million Leute im Stadion vor der Bühne – phantastisch! Aber dann habe ich mir diese Gigantomanie durch den Kopf gehen lassen und dachte: Warum machen wir nicht etwas Intimeres? Einen kleineren Ort wie das „Beacon Theatre“ in New York, besorgen uns die besten Kameramänner der Welt, überwacht und gelenkt vom Kameramann Robert Richardson – und machen ein spezielles Konzert über zwei Nächte. Die Stones haben zugestimmt. Und so landeten wir bei einem Konzert-Film.

Es war ein großer Spaß, diesen Film zu machen. Auch einfach ihn anzugucken: es ist ein Zwei-Stunden-Film, es gibt vielleicht einen zehnminütigen Abschnitt am Beginn, das ist eine Art Dokumentation mit Zitaten hintereinander. Aber sonst ist es kein klassischer Dokumentarfilm – es ist ein Konzert.

Ähnlich wie „The Last Waltz“?

Nein, die Geschichte ist anders. Die Geschichte ist der Auftritt. Ihre Gesichter sind die Geschichte. Die Beziehungen, die sie untereinander auf der Bühne haben. Wie sie einander ansehen. Nur ein kleines bisschen Dokumentarmaterial ihrer Auftritte über die Jahrzehnte.

In „The Last Waltz“ schneiden Sie nie zum Publikum, wie man das in den meisten Musikfilmen sieht, um die Begeisterung der Zuhörer zu transportieren.

Ja, das ist die „Woodstock“-Methode. Michael Wadleighs Film über das legendäre Konzert dauert drei Stunden, davon sieht man eineinhalb Stunden das Publikum. In diesem Fall waren diese dokumentarischen Passagen sehr wichtig. Wussten Sie, dass ich damals bei „Woodstock“ mitgearbeitet habe, auch am Schnitt? Das war eine extrem außergewöhnliche Erfahrung.

In „The Last Waltz“ habe ich mich mehr an Bert Sterns „Jazz on a Summer’s Day“ orientiert über das Newport Jazz Festival von 1958. Das ist für mich der beste Musikfilm, der je gemacht wurde. Was mich daran so beeindruckt hat: Die Kamera hält das Bild und bleibt drauf. So vermittelt sich eine ganz andere Spannung. Diesen Ansatz – das Gegenteil von „Woodstock“, der auch in den Konzertszenen sehr oft schneidet und verschiedene Perspektiven einnimmt – haben wir auch auf „Shine a Light“ übertragen.

Wie war die Arbeit mit den Stones?

Man muss bereit sein. Ich hatte gerade den Film „The Departed“ fertiggestellt, ich weiß, ehrlich gesagt, gar nicht, ob ich die allerletzte komplette Fassung überhaupt noch gesehen habe, weil ich so viel mit dem neuen Film zu tun hatte. Denn die Stones waren auf Tour und hatten nur eine begrenzte Menge Zeit. Die sind dann in bestimmten Städten nur ein paar Stunden zusammen. Meine ganze Energie ging darein, das alles fertigzubekommen.

Sie arbeiten schon an dem nächsten Musikfilm: über George Harrison.

Auch das ist wieder etwas Neues. Mich interessiert hier ein Mensch, der mit sich selbst gekämpft hat, der seinen inneren Frieden gesucht hat. Er hat meditiert – ich habe da selbst wenig Ahnung von, aber dieses Spirituelle interessiert mich. Harrison hatte eine dunklere Seite, das merkt man, wenn man ihm zuhört. Das ist eine großartige Story – wenn ich sie finde! Wir haben ganz viel Material. Das wird einige Jahre dauern.

Auch für Ihre eigenen Filme ist Musik sehr wichtig. Können Sie etwas über Ihren Umgang mit Musik verraten?

Ich verwende die Musik, die ich fortwährend höre. Musik begleitet mich mein Leben lang. Musik schafft in mir eine Atmosphäre, eine bestimmte Stimmung, die sehr leicht in filmische Bilder übersetzbar ist. Wenn ich an einem Film arbeite, wähle ich Musik aus und höre sie immer wieder. Normalerweise ziehe ich mich zunächst für fünf, sechs Tage zurück, in ein Hotelzimmer zum Beispiel, und verbringe Zeit allein mit dem Script und mit verschiedener Musik. Ich probiere dann aus, was passiert, welche Musik welche Bilder inspiriert. Ich zeichne dann Bilder. Manchmal nehme ich dann auch Musik zum Drehort mit, damit die Kamerabewegungen mit der Musik korrespondieren.

Unterschiedliche Musik inspiriert unterschiedliche Ideen. In gewissem Sinn arbeite ich mit Schauspielern ähnlich. Ich habe keine Ahnung von Schauspielstilen und -schulen. Jeder ist aus meiner Sicht anders. Ich versuche für die Schauspieler eine Atmosphäre zu schaffen, die Freiheit schafft, einen Raum kreiert. Das bedeutet nicht, dass sie dann machen können, was sie wollen. Es ist ein evolutionärer Prozess, und da hilft mir die Musik sehr.

Vor einem Jahr haben Sie endlich einen Regie-Oscar bekommen, für „The Departed“, also ausgerechnet für das Remake eines Hongkong-Thrillers. Es war ja höchste Zeit. Was waren die Folgen? Hat der Gewinn Ihre eigene Einstellung zu Ihrer Arbeit verändert?

Der Oscar war schön. Es geht nicht darum, ob er früh oder spät kommt, wichtig ist, dass man ihn irgendwann bekommt. Ich wollte immer den Oscar, das stimmt. Als ich für „Taxi Driver“ noch nicht einmal nominiert war, war ich schwer enttäuscht. Im Rückblick aber kann ich sagen, dass es mir gutgetan hat, denn ich habe es zunehmend aufgegeben, mich auf die Preise zu konzentrieren. Ich konzentriere mich auf meine Arbeit. Mitte der neunziger Jahre begannen andere Leute zu bemerken, dass ich noch immer keinen Oscar hatte. Sie schrieben darüber, das war schmeichelhaft. Aber dann wurde es zu viel, und alles wurde politisch.

Wie es dazu kam, dass ich den Oscar nun gerade für „The Departed“ bekam, weiß ich nicht. Ich hatte keinen Werbefeldzug geführt. Der Film forderte mich derart auf einem Gebiet, von dem ich dachte, etwas zu verstehen, ich hatte wirklich andere Dinge im Kopf. Vielleicht war es eine Frage des Timings.

Zu „The Departed“: Sie sagen, es sei ein Remake. Ich sehe es als eine andere Version. Aber vielleicht ist das eine Frage der Semantik. Die meisten amerikanischen Western sind in diesem Sinne Remakes von anderen Western.

Was ist Ihnen als Regisseur im Laufe Ihrer Karriere am schwersten gefallen?

Züge und Boote sind das Allerschwerste. Denn ein Boot bewegt sich und bewegt sich und bewegt sich. Züge sind groß, und wenn sie einmal vorbeigefahren sind und man das Ganze wiederholen möchte, muss man sie den ganzen Weg wieder zurückschaffen. Letzteres weiß ich seit meinem ersten Film „Boxcar Bertha“, eine Art Exploitation-Film, den ich für das Studio von Roger Corman gedreht habe. Grundsätzlich habe ich damals eines von Corman gelernt: Man soll immer die schwierigsten Szenen als Erstes drehen. Dann hat man es hinter sich. Richtige Exploitation-Filme macht man ja heute gar nicht mehr. Aber die Produktionstechniken des Exploitation-Films haben mir für alle meine späteren Filme sehr genutzt.

Was ist der wichtigste Arbeitsschritt?

Der Schnitt. Das Schneiden ist am aufregendsten, das macht mir am meisten Spaß. Ich hatte in meinen Anfangsjahren einige Schwierigkeiten mit dem amerikanischen Schnittsystem. Es gab in Hollywood zwar großartige Cutter, aber die haben die Regisseure aus dem Schneideraum geworfen und allein gearbeitet. Das war nichts für mich. „Mean Streets“ habe ich dann eigentlich selber geschnitten. Meine Freunde Jay Cocks und Brian De Palma haben mir geholfen, Steven Spielberg auch ein bisschen. Aber einen Credit habe ich dafür natürlich wegen der Gewerkschaftsvorschriften nicht bekommen dürfen. Ich habe beim Schneiden viel experimentiert. Damals war das noch möglich, da konnte man an einer einzigen Szene vier Monate lang schneiden, wenn man wollte.

Die Filme, die ich mache, werden ein Teil von mir. Es ist ungemein intensiv, und wenn ich den Film schneide, wird es noch schlimmer: Immer wieder sieht man hochgradig emotionale Szenen, ich sehe dies und jenes und will beides unbedingt im Film haben und muss es dann doch draußen lassen – an so etwas leide ich sehr. Zugleich spürt man, dass man lebt.

Haben Sie je selbst den „Final Cut“, das Recht aufs letzte Wort beim Schnitt?

Eine schwierige Frage. Ich glaube nicht an die Idee der verschiedenen Versionen eines Films. Ich finde die Idee des „Director’s Cut“ etwas absurd. Der Film, den wir sehen, sollte der „Director’s Cut“ sein. Oder die Studios schneiden ungefragt zwanzig Minuten gegen den Willen des Regisseurs raus, wie das bei Peckinpahs „Pat Garrett und Billy the Kid“ passiert ist. Ein Meisterwerk. Da war die Verlängerung eigentlich eine Restaurierung und angemessen. Aber heute schleift sich durch die DVD ein Verfahren ein, dass es auf jeder DVD alle möglichen Szenen gibt, die man eigentlich gar nicht sehen sollte, weil sie aus guten Gründen herausgeschnitten wurden. Wenn der Regisseur wollte, dass das im Film drin ist, hätte er dafür kämpfen sollen. Und wenn er damit scheitert, ist er eben gescheitert.

Sie beschäftigen sich im Rahmen der von Ihnen gegründeten „World Cinema Foundation“ viel mit Restaurationen anderer Filme. Aber was ist mit Ihren eigenen Werken? Immer wieder hört man von jener sagenhaften Fünf-Stunden-Schnittversion von „New York, New York“, die angeblich nur Brian De Palma zu sehen bekam.

Ja, Brian De Palma, aber Sam Fuller und ein ganzer Haufen anderer waren auch da. Das war der „First Cut“, die allererste Schnittversion, mehr nicht. Sie würden nicht den First Cut aller möglichen Filme sehen wollen, glauben Sie mir, das kann ganz schön langweilig sein. Das ist wie ein roher Marmorblock, in dem der Film versteckt liegt. Den musste man erst finden. Ich hatte eine Ahnung davon, habe aber in diesem Fall nie den Weg gefunden, von dem ich dachte, dass ich ihn finden würde, und den Film in diesem Fall nicht aus der Rohfassung herausgeschnitten. Vielleicht wäre der erste Schnitt am Ende die bessere Version gewesen. Aber damals gab es die technischen Voraussetzungen nicht, um ihn zu konservieren. Die Fassung wurde zerstört.

Ich hatte eine wunderbare zehnminütige Schlussszene, eine Art Musicalstück, eine Hommage an Gene Kelly, die die Leute bei Testvorführungen immer mochten. Aber ich habe sie rausgeschnitten, um dem Studio zu beweisen, dass ich nicht stur war. Wahrscheinlich war ich damals ein bisschen stur. Das war ein großes Opfer, aber auch ein bisschen dumm von mir. Denn das war das Happy End des Films, das hat dem Charakter des Films einfach entsprochen. Alles in „New York, New York“, die Farben, der Ton, deuteten auf ein Happy End hin. So habe ich aus dem Film sein Herz herausgeschnitten. Das wurde dann die Verleih-Version. Der Film hat an der Kasse auch einigermaßen funktioniert. Aber er startete damals am gleichen Wochenende wie „Star Wars“. Aus, fertig, vergessen – nein, nicht vergessen: gegessen.

Das Rendezvous mit den Teufeln Martin Scorseses Rolling-Stones-Dokumentation „Shine a Light“ hat sich gegen große Konkurrenz zu bewähren

Martin Scorseses „Shine a Light“, der heute Abend die Berlinale eröffnet, lässt sich auf einen großen Wettstreit ein. Nicht im Festival-Wettbewerb – er läuft dort außer Konkurrenz –, aber im Vergleich mit den anderen Dokumentationen, die es sonst noch über die Rolling Stones gibt. Angesichts von 46 Jahren Band-Geschichte kann man sich deren Zahl ausmalen, aber darunter finden sich mindestens zwei Perlen: „Gimme Shelter“ von den Brüdern Maysles und Charlotte Zwerin sowie „One Plus One“ von Jean-Luc Godard.

Beide entstanden am Ende der sechziger Jahre, in der produktivsten Zeit der Stones und zugleich ihrer schwierigsten Phase. Zwischen beiden Dokumentationen liegt der Tod des Gründungsgitarristen Brian Jones, der die Band gerade verlassen hatte, als er im Juli 1969 in seinem Swimmingpool ertrank. Sein Nachfolger, Mick Taylor, war schon ausgesucht, und zwei Tage später, am 5. Juli, gaben die Stones im Londoner Hyde Park das erste der drei großen Rock-Gratiskonzerte des Jahres 1969 (das zweite sollte Woodstock werden, das dritte Altamont). Darüber haben Jo Durden-Smith und Leslie Woodhead die leider viel zu kurze Dokumentation „The Stones in the Park“ gedreht, in der man noch einmal die Unschuld jener Zeit vorgeführt bekommt, obwohl das Konzert in einer fast viertelstundenlangen Version von „Sympathy for the Devil“ gipfelte.

Dieses Lied ist der geheime Kern aller bedeutenden Rolling-Stones-Dokumentationen. Im Hyde Park ließen drei tapsige Roadies dazu aus Pappkartons einige Tausende Schmetterlinge frei, die dann über die Bühne irrten. Das war schon der Höhepunkt der Bühnenshow. Auf dreihunderttausend Zuhörer wird das Publikum geschätzt, und die vorderen Reihen standen direkt vor der vielleicht halbmeterhohen Bühne. Was für ein Unterschied zum stockwerkhohen Bühnenrand auf der bislang letzten Tournee der Stones, die seit vergangenem Jahr auf der Vierfach-DVD „The Biggest Bang“ dokumentiert ist. Da sind die Musiker unerreichbar, und hinter ihnen türmt sich eine mietshausgroße Kulisse, die auf dem Höhepunkt der Show, natürlich zu „Sympathy for the Devil“, zu explodieren scheint. Schmetterlinge müssten hier das Ausmaß von Adlern haben, um noch gesehen zu werden. Als nach einem der Konzerte doch einmal einige Fans auf die Bühne gelangen, sieht man dem Gitarristen Ron Wood den Schreck darüber an.

Es ist, fast vierzig Jahre später, immer noch der Schreck von Altamont am 6. Dezember 1969, obwohl Wood da noch gar nicht dabei war. Die Hells Angels, die sich dort als Sicherheitsdienst gerierten, waren auch schon im Hyde Park aktiv gewesen, martialisch mit Hakenkreuzen und Nieten drapiert, aber vollkommen friedlich. In Kalifornien prügelten sie aufs Publikum ein und erstachen einen Schwarzen, der mit einer Pistole herumfuchtelte. Selbst die Bühne hatten sie erobert: Es gibt eine faszinierende Aufnahme in „Gimme Shelter“, dem Film, der die letzten zehn Tage der damaligen Amerika-Tournee dokumentiert, in der man vorne angeschnitten Mick Jagger tanzen sieht, doch die Kamera fokussiert auf einen Hells Angel, der dem Sänger dabei vollkommen unbewegt zusieht – gebündelte Gewalt.

„Gimme Shelter“ lebt vom Wissen um das, was in Altamont geschah. Die Szenen, in denen sich die Stones selbst die Aufnahmen ansehen und die eigene Hilflosigkeit kaum ertragen können, gehören zum ewigen Bilderschatz des Kinos – und zu seinen eindrucksvollsten Selbstanklagen. Denn ohne die Dokumentation hätte das berüchtigte Konzert wohl gar nicht stattgefunden. Man wollte Woodstock übertreffen, wie Woodstock Hyde Park übertroffen hatte, und dazu gehörte ein ordentlicher Konzertfilm. „Gimme Shelter“ aber wurde viel mehr: der bislang beste Film über die Rolling Stones.

Den strebte Jean-Luc Godard gar nicht an. Ihm war es ein Jahr zuvor egal gewesen, ob nun die Beatles oder die Rolling Stones zusagen würden, aber ohne eine Band dieser Kategorie hätte er sich nicht bereit erklärt, 1968 seinen ersten britischen Film zu drehen: „One Plus One“. Beide Gruppen waren damals im Studio. Die Beatles nahmen das „Weiße Album“ auf, doch das taten sie so eigenbrötlerisch und voneinander isoliert, dass sich der Toningenieur noch heute mit Grausen daran erinnert (F.A.Z. vom 14. Dezember 2007). Godard aber, dem ein Filmessay über den Gegensatz zwischen Erschaffen und Zerstören vorschwebte, zwischen der Entstehung eines Kunstwerks und dem Zusammenbruch der Gesellschaft, brauchte eine kreative Künstlertruppe. Das waren die Rolling Stones allemal. Sie waren dabei, das Album „Beggars Banquet“ aufzunehmen, und sie entwickelten ihre Ideen dazu im Studio weiter.

Das Paradestück auf „Beggars Banquet“ ist „Sympathy for the Devil“ – nach Meinung von Eddie Vedder, dem Kopf von Pearl Jam, der beste Rocksong, der jemals geschrieben wurde. Dem trägt der instinktsichere Godard Rechnung: Der halbe Film widmet sich allein den Aufnahmesessions zu diesem Lied, und es ist faszinierend zuzuhören, wie aus einem beinahe schleppenden Blues das aufgeheizte polyrhythmische Kunstwerk wird, das heute jeder kennt. Den Bruch markiert ein Schnitt fast genau in der Mitte des Films – als Ausweis der unabbildbaren Genialität. Plötzlich ist die Orgel nicht mehr da, und stattdessen geben Congas den Ton an; selbst Mick Jagger hat jetzt eine kleine Handtrommel zwischen den Knien.

„One Plus One“ ist ein Unikum: einerseits die subtilste Dokumentation über das, was den Rang der Stones ausmacht (ihre Improvisationsfreude und unerschöpfliche Kenntnis von Rock und Blues), und zugleich ein cineastischer Molotowcocktail, denn die andere Hälfte des Films ist eine in Bilder gefasste politische Improvisation über sämtliche drängenden revolutionären Fragen. Und 1968 drängte da so einiges; Godard verlor über sein politisches Engagement für die Studenten oder die Black Panthers die Stones beinahe aus dem Auge. Schon die erste Einstellung rückt nicht die Band, sondern das kunstvoll ausgestattete Studio in den Mittelpunkt: mittels pastellen eingefärbter Trennwände ist eine Art Barackenstadt eingebaut, und immer wieder umkreist die Kamera diesen faszinierend verwinkelten Ort – in jener Bewegung, mit der am Ende auch der Kamerakran umtanzt wird, der die Leiche einer am Strand erschossenen Revolutionärin in den Himmel hebt.

Damit wollte Godard den Film abrupt enden lassen, doch der englische Produzent Michael Pearson fror das Bild ein, legte die endgültige Fassung von „Sympathy for the Devil“ als Tonspur darüber und strich gleich auch noch den Filmtitel „One Plus One“. Fortan hieß auch Godards Werk „Sympathy for the Devil“. Der Regisseur war empört und ohrfeigte bei der Premiere Pearson öffentlich.

Die Stones waren ihrerseits mit Godard unzufrieden, und künftig suchten sie sich ihre Dokumentaristen sorgfältig aus. Martin Scorsese kann sich also einiges darauf einbilden, die Zusage für „Shine a Light“ bekommen zu haben. Aber er hatte seine eigenen Bedingungen: Das angebotene Mammutkonzert vor anderthalb Millionen Besuchern an der Copacabana lehnte er ab (dieser Abend findet sich nun auf „The Biggest Bang“), stattdessen filmte er die Band im kleinen Konzertsaal „Beacon Theatre“ – einer Bühne, wie die Stones sie zur Einstimmung auf ihre Tourneen lieben. Der Berlinale-Palast dürfte heute Abend etlichen Zuschauern mehr Platz bieten – und der Platz davor noch vielen zusätzlich. Sie freuen sich auf die Stones und auf Scorsese und auf einen Film, der es schwer haben wird gegen seine Vorläufer. Möge der liebe Gott Scorsese erleuchtet haben. Andreas Platthaus


„Sympathy for the Devil“ gibt es bei Warner auf DVD, „The Biggest Bang“ bei Universal Music und „Gimme Shelter“ in der Criterion Collection.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 07.02.2008 Seite B2

Vermächtnis einer Generation Bis auf weiteres ist Martin Scorseses „Last Waltz“ als Musikfilm nicht zu schlagen

Thanksgiving 1976. The Band, bestehend aus Rick Danko, Levon Helm, Garth Hudson, Richard Manuel und Robbie Robertson, gibt ihr Abschiedskonzert im Winterland in San Francisco. Ein paar Freunde aus gemeinsamen Zeiten on the road, die nun zu Ende gehen, werden eingeladen, und Bill Graham, dem das Winterland gehört und der als Konzertveranstalter auftritt, gibt erst einmal für fünftausend Leute ein traditionelles Truthahnessen. Dann wird getanzt, und zwar Walzer. Schließlich heißt das Konzert „The Last Waltz“, und Robbie Robertson hatte sich die Mühe gemacht, eigens einen solchen zu komponieren. Die Stimmung ist schon mitreißend, als das Konzert anfängt. Und dann singen und spielen mit The Band über mehr als sieben Stunden unter anderen: Ronnie Hawkins, Eric Clapton und Muddy Waters, Joni Mitchell, Van Morrison, Neil Diamond und Neil Young, Dr. John, Paul Butterfield und Bob Dylan und am Ende Ringo Starr. Und weil zwar das Publikum vorher nicht wusste, dass es bei einem einmaligen, einem Jahrhundertkonzert dabei sein würde, The Band aber sehr wohl, wird das Ganze filmisch dokumentiert. In der Planung war zuerst von einer Videoaufzeichnung die Rede, dann von 16-mm-Kameras, schließlich von Martin Scorsese, der auf 35-mm drehen wollte und das mit fünf Kameras dann auch tat.

Der Film, der daraus wurde, gilt seit seiner Uraufführung 1978 als bester Musikfilm aller Zeiten, und es könnte gut sein, dass es dabei bleibt. Auf alle Fälle ist er ein auch heute noch derart bewegendes Zeugnis des Sounds und der Gesichter einer Generation, in denen Träume, Drogen, Gemeinsamkeit, Protest, Witz, Sex und Trauer musikalisch und physiognomisch zusammenfließen, dass es einen lachen macht und weinen und vor die Leinwand bannt in dem Wunsch, es würde nie zu Ende gehen.

Dabei war gerade das, der Wunsch nach dem Ende eines Lebens in den Konzertsälen, den Arenen und Kaschemmen, den Clubs und Kneipen und Open-Air-Bühnen und auf den Straßen zwischen ihnen, der Grund für dieses Abschiedskonzert. „Sechzehn Jahre auf Tour“, sagt der unfassbar gut und jung aussehende Robbie Robertson im Film zu Scorsese, „das ist so viel, dass allein die Zahl anfängt, dir einen Schrecken einzujagen. Zwanzig Jahre – darüber könnte ich nicht einmal nachdenken.“ Sie hatten genug, sie hatten, im Gegensatz zu vielen anderen, überlebt, sie wollten ihr Glück nicht länger herausfordern. Sie gingen ab. (Es gab eine Reunion in den achtziger Jahren, aber das war nicht dasselbe, und Robbie Robertson war sowieso nicht dabei.)

Martin Scorsese hatte eigentlich keine Zeit, dieses Konzert zu filmen, er war noch mit „New York, New York“ zugange, aber er wusste, dies ist einmalig, und er wollte ein Teil davon sein. Und er hat sich auf diesen Film genauso vorbereitet wie auf einen Spielfilm. Er hat sich die Texte der Songs geben lassen und die Reihenfolge der Künstler, und er hat ein detailliertes Storyboard gezeichnet, mit Kamerapositionen und Lichtwechseln; er hat den Production Designer Boris Leven engagiert, der auf die Bühne des Winterland die Kulissen von „La Traviata“ aus dem San Francisco Opera House stellte und Kronleuchter darüberhängte, er hat den Kameramann Michael Chapman als DP geholt und ihm Vilmos Zsigmond und László Kovács zur Seite gestellt (außerdem waren noch David Myer und Niro Narita dabei), und Chapman hat ein wunderbares Licht geschaffen, das überhaupt nicht nach Rockkonzert aussieht. Und als das Konzert vorbei war, hat Scorsese noch ein paar Interviews mit The Band im Shangri-La geführt, dem Büro und Wohnzimmer der Band, und drei Songs im MGM-Studio aufgenommen, wo sich die Kamera frei bewegen konnte und ein wenig Nebel über die Bühne zieht, während The Band mit den Staples den wunderbaren Gospel „The Weight“ singt und noch einmal ein ganz neuer Ton anklingt, schwarz und außerweltlich.

Scorsese, der am Anfang sagt, er wisse nicht, wie er mit Musikern sprechen solle, weil er nicht verstehe, was sie tun, weiß am Ende genau, worum es ihnen geht. Und er hat mit diesem Film etwas geschafft, was in kaum einem anderen Musikfilm vorher oder nachher gelang: nämlich die Textur dieser Musik in Bilder und Bewegung zu bannen und uns den Respekt spüren zu lassen, der unter den Künstlern herrschte, und zwar auch zwischen Filmemacher und Musikern, und die Lust, dabei zu sein. In Scorsese, sagt Robertson einmal, steckt ein verhinderter Musiker – und in ihm selbst, das spürte er, als er Scorsese bei der Arbeit zusah, ein verhinderter Filmemacher.

In Memphis, erklärt Levon Helm in einer der zauberhaftesten Interviewpassagen, kommt alles zusammen, Bluegrass und Country, Rhythm and Blues, Hillbilly, Folk Music, und vermischt sich. Wie nennt man das dann?, fragt Scorsese. Helm lächelt ihn an. Rock ’n’ Roll, sagt er, und Scorsese lacht. Da wusste er vielleicht noch nicht, dass er gerade den Rock ’n’ Roll-Film drehte, an dem sich seitdem jeder messen muss. 32 Jahre später auch er selbst. Verena Lueken


Die DVD von „The Last Waltz“ gibt es bei MGM und erscheint im März in einer Neu-Edition.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 07.02.2008 Seite B2

Mittwoch, 9. Januar 2008

FOCUS Online: DVD-Nachfolger - Warner-Zuschlag für Blu-ray-Format

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DVD-Nachfolger - Warner-Zuschlag für Blu-ray-Format

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Sonntag, 6. Januar 2008

Die-50er Jahre

Vor dem Sturm

Von Professor Dr. Elisabeth Noelle

Es gehört zu den eigenartigsten Verzerrungen des Geschichtsbildes, dass die fünfziger Jahre in Westdeutschland heute oft als „reaktionär“, „spießig“ oder gar als Zeit des Stillstands beschrieben werden. Als ruhig mögen die Gründerjahre der Bundesrepublik Deutschland vielleicht vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen des darauffolgenden Jahrzehnts erscheinen, doch auch das nur bei äußerst oberflächlicher Betrachtung. Für diejenigen, die sie erlebt haben, waren die Adenauer-Jahre eine außerordentlich aufregende Zeit, geprägt von einer rasant fortschreitenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dynamik und von nicht weniger aufregenden innen- und außenpolitischen Entwicklungen und entsprechend hitzigen öffentlichen Auseinandersetzungen.

Innerhalb dieser in ihrer Dramatik nicht zu unterschätzenden Phase der westdeutschen Geschichte erscheint das Jahr 1958 ein wenig wie eine Atempause. Nicht, dass es an großen weltpolitischen Ereignissen und innenpolitischen Streitthemen gefehlt hätte. 1958 traten die im Jahr zuvor geschlossenen Römischen Verträge in Kraft, und die EWG-Kommission unter Walter Hallstein nahm ihre Arbeit auf; in Frankreich scheiterte die Vierte Republik, und General de Gaulle übernahm die Macht; in Rom wurde Papst Johannes XXIII. Nachfolger des verstorbenen Pius XII.; die Vereinigten Staaten und Großbritannien versuchten mit Militärinterventionen im Libanon und in Jordanien die Lage im auch damals schon unruhigen Nahen Osten zu stabilisieren; und am Ende des Jahres, im November, forderte der russische Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow die Westmächte ultimativ auf, die Westsektoren Berlins zu verlassen.

Die innenpolitische Diskussion des Jahres 1958 war von der Auseinandersetzung über die Frage geprägt, ob auf deutschem Boden Atomwaffen stationiert oder gar die Bundeswehr selbst mit Atomwaffen ausgerüstet werden sollte. Bei der außerordentlich scharf geführten Bundestagsdebatte über dieses Thema handelte sich ein junger SPD-Abgeordneter aus Hamburg, der bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal in Erscheinung trat, den Spitznamen „Schmidt Schnauze“ ein.

An Streitthemen war also kein Mangel, dennoch ist der Grundklang des Jahres 1958 der der Beruhigung. Die politischen Grundsatzfragen, um die in den vorangegangenen Jahren erbittert gerungen worden war, waren entschieden: die Westbindung der Bundesrepublik Deutschland, der Aufbau der Bundeswehr, den Adenauer gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit durchgesetzt hatte, die Einbindung der Bundesrepublik in einen westeuropäischen Wirtschaftsverbund. Adenauer war mit seinem historischen Wahlsieg von 1957 glänzend bestätigt worden. Die SPD, die zunächst Westbindung und Wiederbewaffnung vehement bekämpft hatte, begann sich mit diesen neuen Konstanten der westdeutschen Politik zu arrangieren. Im kommenden Jahr 1959 sollten die Sozialdemokraten das Godesberger Programm verabschieden.

Adenauer stand 1958 auf dem Höhepunkt seiner Macht. In den vorangegangenen Jahren war es ihm geglückt, den Widerwillen der Bevölkerung gegen die Wiederbewaffnung durch politische Erfolge zu überwinden, die den Deutschen geradezu fabelhaft erschienen. Der Besuch in Moskau 1955, der die Rückkehr der letzten ehemaligen Wehrmachtssoldaten aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft ermöglichte, und der Beitritt des Saarlandes zur Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1957 wurden ihm als große Verdienste zugeschrieben. Hinzu kam, dass sich nicht nur die Lage der Wirtschaft stetig verbesserte, sondern dass auch die ärmeren Bevölkerungsschichten von dem Wirtschaftswunder profitierten. Nach der Rentenreform des Jahres 1957 wurden die Renten nicht mehr auf der Grundlage der eingezahlten Beiträge berechnet, sondern nach Maßgabe der Entwicklung der Wirtschaft. Die Folge war, dass sich das Einkommen vieler Rentner spürbar verbesserte.

Als das Allensbacher Institut kurz vor der Bundestagswahl am 15. September 1957 seine erste Wahlprognose in dieser Zeitung veröffentlichte und einen Stimmenanteil der CDU/CSU von 50 Prozent voraussagte, erreichten mich empörte Anrufe: Ob ich denn nicht wüsste, dass noch nie in der deutschen Geschichte eine Partei die absolute Mehrheit erhalten habe. Doch, das wusste ich: Aber die Zahlen waren nun einmal, wie sie waren. Auch die Redaktion glaubte uns wohl nicht recht. „Noch eine Prognose“ lautete herablassend die Schlagzeile. Schließlich erhielten die Unionsparteien 50,3 Prozent der Stimmen.

Das Einverständnis mit Adenauer erreichte 1958 Werte, die danach nicht mehr übertroffen werden sollten. Auf die Frage „Sind Sie im Großen und Ganzen mit der Politik Adenauers einverstanden oder nicht einverstanden?“ antworteten im November 1958 53 Prozent der Befragten „Einverstanden“. Nur 22 Prozent, also weit weniger, als die Oppositionsparteien Anhänger hatten, sagten, sie seien nicht einverstanden. 1958 war auch das Jahr, in dem sich bei der Bevölkerung die Erkenntnis von der historischen Größe Adenauers durchsetzte. Seit Januar 1950 hatten wir in den Allensbacher Bevölkerungsumfragen regelmäßig die Frage gestellt: „Welcher große Deutsche hat Ihrer Ansicht nach am meisten für Deutschland geleistet?“ Über mehr als fünf Jahre hinweg stand bei dieser Frage Bismarck mit großem Abstand vor allen anderen genannten Namen an erster Stelle. Doch in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts begann sich dies zu ändern. Im Oktober 1958 zog Adenauer an Bismarck vorbei. 26 Prozent nannten nun den Bundes-, 23 Prozent den früheren Reichskanzler. Fünf Jahre später sollte das Verhältnis 40 zu 16 zugunsten von Adenauer betragen.

Man kann das Jahr 1958 als einen Wendepunkt im Verhältnis zwischen Adenauer und der westdeutschen Bevölkerung ansehen, denn je mehr sich die Ansicht durchsetzte, dass der Bundeskanzler eine Gestalt von historischer Bedeutung war, desto mehr wuchsen auch die Zweifel, ob er noch der Gegenwart gerecht werden könne. 1957 hatte noch die Mehrheit der Bevölkerung Äußerungen zurückgewiesen, wonach Adenauer angesichts seines hohen Alters einem jüngeren Politiker Platz machen sollte. Im Februar 1957 stimmten gerade 18 Prozent der Aussage zu, es gebe jüngere Politiker, die mehr leisten könnten als er. Doch schon zwei Jahre danach hatte sich das Klima spürbar verändert.

Als Adenauer im Frühjahr 1959 sagte, er wolle als Bundeskanzler zurücktreten und Bundespräsident werden, stimmte ihm die Mehrheit derer, die darüber eine Meinung hatten, zu. Als er wenige Wochen später ankündigte, doch im Amt bleiben zu wollen, war in den Reaktionen der Befragten die Enttäuschung unübersehbar. Auf die Frage „Spricht es Ihrer Meinung nach für oder gegen Adenauer, dass er seinen Entschluss geändert hat?“ antwortete eine relative Mehrheit von 46 Prozent: „Es spricht gegen ihn.“ Spätestens zu diesem Zeitpunkt hatte das Vertrauen der Bevölkerung in Adenauer seinen Höhepunkt überschritten. Er erreichte zwar auch weiterhin bis zum Ende seiner Amtszeit noch immer Zustimmungsraten, von denen die meisten seiner Nachfolger nur träumen konnten, doch ganz so ungetrübt wie gegen Ende des Jahres 1958 war das Verhältnis zwischen Bevölkerung und Kanzler nie mehr.

Noch in einer anderen Hinsicht markiert das Jahr 1958 einen politischen Wendepunkt, nämlich im Verhältnis zwischen Deutschen und Franzosen. Auf die Frage „Glauben Sie, dass Frankreich jetzt den guten Willen zur Zusammenarbeit mit uns hat?“ hatten im Juni 1953 noch 41 Prozent mit Nein und nur zwölf Prozent mit Ja geantwortet. Aber in den folgenden Jahren wuchs das Vertrauen in den westlichen Nachbarn kontinuierlich, scheinbar unbeeindruckt von den Rückschlägen auf dem Weg der europäischen Einigung, wie etwa der Ablehnung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) durch die französische Nationalversammlung im Jahr 1954.

1958 überwog nun zum ersten Mal deutlich der Anteil derjenigen, die Frankreich trauten. 36 Prozent sagten im November, sie glaubten, dass Frankreich gewillt sei, mit Deutschland gut zusammenzuarbeiten; nur noch 16 Prozent widersprachen ausdrücklich. Der Aufbau eines soliden Vertrauens in den früheren Kriegsgegner in so kurzer Zeit gehört wahrscheinlich zu den größten politischen Leistungen des zwanzigsten Jahrhunderts.

Der Alltag der westdeutschen Bevölkerung im Jahr 1958 war trotz eines aus heutiger Sicht bescheidenen Wohlstandsniveaus von dem Gefühl des stetigen Aufstiegs geprägt. Die im Archiv des Allensbacher Instituts dokumentierten Umfragen zeigen, wie sehr sich die Lebensbedingungen der Menschen verbesserten, wobei die Einzelheiten oft aufschlussreicher sind als die Daten zu großen gesellschaftlichen Themen. Im Sommer 1958 besaßen 19 Prozent der Bevölkerung eine Waschmaschine, vier von fünf Maschinen waren in den Jahren nach 1953 angeschafft worden. Die Hälfte der Bevölkerung hatte sich angewöhnt, täglich Bohnenkaffee zu trinken, ein Luxus, der noch wenige Jahre zuvor den meisten unvorstellbar erschien. Dementsprechend stieg der Anteil derer an der Bevölkerung, die zumindest gelegentlich Dosenmilch verwendeten, seit 1950 von 50 auf 76 Prozent.

36 Prozent der Westdeutschen hatten im Jahr 1957 eine Urlaubsreise unternommen, wobei etwas mehr als die Hälfte, 54 Prozent, mit der Eisenbahn unterwegs war, aber immerhin schon jeder Vierte mit dem privaten Auto. Die Urlaubsziele lagen noch überwiegend im Inland: 69 Prozent berichteten von einer Reise innerhalb Westdeutschlands, wobei Oberbayern mit zwölf Prozent und der Schwarzwald mit elf Prozent der Nennungen an der Spitze standen. Jeden Vierten zog es ins Ausland; Italien nahm mit zehn Prozent die Spitzenstellung ein, gefolgt von Österreich mit sieben Prozent.

In den Wohnzimmern bahnte sich eine Revolution an. Noch war das Kino das wichtigste Unterhaltungsmedium. 51 Prozent der Westdeutschen sagten im Winter 1957/58, dass sie mindestens einmal im Monat das Kino besuchten. Ein Jahr später waren es nur noch 42 Prozent. Zwölf Prozent besaßen im Juli 1958 ein Fernsehgerät, ein Jahr später sollten es bereits fast doppelt so viele sein. Die Auswirkungen dieser Entwicklung auf das Freizeit- und Informationsverhalten der Bevölkerung lassen sich kaum überschätzen. Noch sagten rund zwei Drittel der Befragten, dass sie auf die Wochenschau vor Beginn des eigentlichen Kinofilms Wert legten, doch nahezu alle Fernsehteilnehmer gaben im Juni 1958 zu Protokoll, dass sie mindestens „zwei- bis dreimal in der Woche“ die Tagesschau anschauten. Es waren noch sieben Jahre bis zur ersten Bundestagswahl, deren Ergebnis von Fernsehbildern wesentlich beeinflusst werden sollte.

Den Menschen war damals durchaus bewusst, wie außergewöhnlich diese Entwicklung war, nur ein Jahrzehnt nach den Hungersnöten der Nachkriegszeit. Auf die Frage „Sehen Sie dem kommenden Jahr mit Hoffnungen oder Befürchtungen entgegen?“ antworteten im Dezember 1958 53 Prozent „Mit Hoffnungen“. Im Dezember 2006 gaben 49 Prozent dieselbe Antwort, ein Wert, der vor Jahresfrist als Kennzeichen von außerordentlichem Optimismus gedeutet wurde. Und die Frage „Wann in diesem Jahrhundert ist es nach Ihrem Gefühl Deutschland am besten gegangen?“ beantworteten im Juni 1959 42 Prozent mit „In der Gegenwart, heute“. Nur noch 28 Prozent verwiesen auf die „gute alte Zeit“ vor 1914, 18 Prozent auf die Scheinblüte Deutschlands in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft.

Im Jahr 1951 sahen die Antworten ganz anders aus. Damals hatten 45 Prozent gesagt, in der Zeit vor 1914 sei es Deutschland am besten gegangen, fast ebenso viele, 42 Prozent, entschieden sich für die Jahre zwischen 1933 und 1939. Aus diesen Zahlen lässt sich erahnen, wie wichtig die fünfziger Jahre für die Verankerung der Demokratie in Westdeutschland und wie erfolgreich sie in dieser Hinsicht auch waren. Der Kontrast zur heutigen Situation in den östlichen Bundesländern ist auffällig.

Man kann sagen, dass im Jahr 1958 die erste Phase der Bewältigung der unmittelbaren Kriegsfolgen abgeschlossen war. Seit Gründung des Allensbacher Instituts hatten wir in nahezu alle unsere Fragebogen als Routineermittlung die Frage „Sind Sie Flüchtling?“ aufgenommen. Die Aufgabe, annähernd neun Millionen Menschen, die aus den ehemaligen Ostgebieten geflohen oder vertrieben worden waren, in die westdeutsche Gesellschaft zu integrieren, war eine der größten Anforderungen an die Politik der frühen fünfziger Jahre. Sie wurde so erfolgreich bewältigt, dass sich die Vertriebenen schon am Ende des ersten Nachkriegsjahrzehnts in ihren Meinungen und Verhaltensweisen kaum noch von der einheimischen Bevölkerung unterschieden. Damit wurde auch die Frage, ob ein Befragter Vertriebener war oder nicht, für die Analysen unserer Umfragen immer nebensächlicher. Von 1959 an verschwand sie aus unseren Fragebogen – sie wurde irgendwann einfach vergessen.

Auch bei der Bewältigung und Aufarbeitung der nationalsozialistischen Ideologie hatte es beträchtliche Fortschritte gegeben. Es wird heute oft behauptet, dass es in den fünfziger Jahren keine gesellschaftliche Auseinandersetzung über dieses Thema gegeben habe, doch das stimmt so nicht, wenn es auch in dieser Hinsicht sicherlich viele Defizite gab. Betrachtet man heute die Allensbacher Fragebogen aus dieser Zeit, dann ist man erstaunt über die Vielzahl von Fragen, die sich mit diesem Thema beschäftigen, etwa mit der Frage, was mit Kriegsverbrechern geschehen solle, ob ehemalige Nationalsozialisten viel Einfluss in Westdeutschland hätten, wie man mit ehemaligen Parteimitgliedern umgehen solle. Es gibt Fragen über die Ursachen des Reichstagsbrands, die Kriegsschuld, über den 20. Juli 1944 und zum Thema Antisemitismus. Viele der Antworten erscheinen aus heutiger Sicht unverständlich, doch die Entwicklung, die sich in den fünfziger Jahren vollzog, ist bemerkenswert. Im Oktober 1951 war nur ein knappes Drittel der westdeutschen Bevölkerung der Ansicht, dass Deutschland am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs schuld sei, eine relative Mehrheit von 42 Prozent meinte, dass andere Staaten mindestens ebenso sehr Schuld trügen. Acht Jahre später waren davon noch 21 Prozent übrig geblieben.

Auch die oft geäußerte These, dass in den fünfziger Jahren kaum über das Dritte Reich gesprochen worden sei, führt zumindest teilweise in die Irre. Die junge Generation, die ihren Eltern bohrende Fragen hätte stellen können, wuchs erst heran, und den Älteren standen die Ereignisse ganz lebendig vor Augen. Wer im Jahr 1958 dreißig Jahre alt war, hatte die Diktatur der Nationalsozialisten von Beginn an erlebt. Die Erinnerung war allgegenwärtig, auch im Alltag.

Im Jahr 1958 weihte das Allensbacher Institut gerade seinen ersten Erweiterungsbau ein. Der wirtschaftliche Aufschwung hatte nach einigen schweren Jahren am Anfang des Jahrzehnts auch uns erreicht, so dass das Bauernhaus aus dem siebzehnten Jahrhundert, in dem wir seit 1951 arbeiteten, zu klein geworden war. Geplant worden war der Anbau von Herbert Werner, unserem glänzenden Cheforganisator seit 1948, der seine Fähigkeiten unter anderem als Wehrmachtsoffizier in Finnland erworben hatte. Als nun unser Anbau, dem Zeitgeschmack entsprechend, architektonisch sehr schlicht geriet, witzelte Erich Peter Neumann, mit dem ich das Institut aufgebaut hatte: „Der Herbert Werner kann nur Bunker bauen.“

Im Rückblick betrachtet erscheint das Jahr 1958 als ein ruhiges Jahr, doch die Beben, die die Gesellschaft im kommenden Jahrzehnt erschüttern sollten, kündigten sich an. Die junge Generation begann sich in ihren Wertvorstellungen und in der Alltagskultur von der älteren Generation zu entfernen. Die ersten Vorboten dieser Entwicklung zeigten sich in scheinbar nebensächlichen Details: Die Wohnzimmer veränderten sich. Seit 1955 legte das Allensbacher Institut seinen Befragten regelmäßig ein Bildblatt vor, auf dem vier Wohnzimmer abgebildet waren, zwei im traditionellen bürgerlichen Stil, zwei aus damaliger Sicht radikal moderne, von der Formensprache des Bauhauses geprägte. Dazu wurde die Frage gestellt: „Welches dieser Zimmer gefällt Ihnen am besten, ich meine, für welches würden Sie sich entscheiden, wenn Sie in einem davon wohnen sollten?“ Noch 1955 entschieden sich 59 Prozent für die traditionelle, 38 Prozent für die moderne Wohnzimmereinrichtung. Doch schon 1958 sprachen sich 50 Prozent für die Bauhaus-Variante aus, nur noch 48 Prozent für die bürgerliche. Solche Entwicklungen sind nicht alltäglich, und sie sind auch nicht unwichtig.

Nirgends wird an den Weisen der Musik gerüttelt“, schrieb Platon, „ohne dass die wichtigsten Gesetze des Staates mit erschüttert werden.“ Und im Jahr 1958 wurde an den Weisen der Musik gerüttelt. Der Rock ’n’ Roll begeisterte die Jugendlichen. Zwei Jahre vorher, 1956, war in den Allensbacher Fragebogen zum ersten Mal der Begriff „Halbstarke“ erschienen, im November 1958 mussten Bill Haley und seine „Kometen“ ein Konzert im Berliner Sportpalast abbrechen, weil das Publikum eine Saalschlacht anzettelte. Verständnislos und voller Abscheu blickten die Älteren auf die sich entwickelnde Jugendkultur und die mit ihr einhergehende demonstrative Abkehr von traditionellen Sitten und Gebräuchen.

Sie spürten wahrscheinlich, dass das, was sich dort abzeichnete, nicht einfach ein Wechsel der Mode war, sondern der Beginn einer Kulturrevolution, die zehn Jahre später das seit mindestens zwei Jahrhunderten überlieferte bürgerliche Wertesystem erschüttern sollte. Die Auswirkungen sollten praktisch alle wesentlichen Lebensbereiche berühren – von der Frage, wie man seine Kinder erziehe, über die politische Orientierung und das grundsätzliche Verhältnis der Generationen zueinander bis zur Rolle der Frauen in der Gesellschaft und zu den Sexualnormen.

Es ist kein Zufall, dass sich diese gesellschaftlichen Konflikte entwickelten, sobald die erste nach dem Krieg geborene Generation erwachsen wurde – eine Generation, die unter vollkommen anderen politischen und sozialen Bedingungen aufgewachsen war als ihre Eltern.

Später zeigten sich im Ansatz ähnliche, wenn auch bei weitem nicht so stark ausgeprägte Generationskonflikte Anfang der neunziger Jahre in Spanien und in der jüngsten Zeit in den östlichen Bundesländern, jeweils eineinhalb Jahrzehnte nach dem Ende einer Diktatur. Im Jahr 1958 ahnten wohl nur wenige, welche Dimensionen der gesellschaftliche Wertewandel annehmen sollte, der sich am Horizont abzeichnete. Insofern war die Zeit vor fünfzig Jahren eine Zeit der relativen Ruhe vor dem Sturm.

Die Verfasserin ist Gründerin des Instituts für Demoskopie Allensbach.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 02.01.2008 Seite 7

Dienstag, 1. Januar 2008

Köhler-Interview-12-07

Im Gespräch: Bundespräsident Köhler

Zur Freiheit gehört Ungleichheit“

30. Dezember 2007 Mindestlohn, Managergehälter, Parteiendemokratie und Populismus: In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zieht der Bundespräsident eine politische Bilanz des Jahres 2007. Köhler äußert sich unzufrieden über die deutsche Reformpolitik und fordert von den Parteien „mehr Reformehrgeiz“. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müsse sich Deutschland noch stärker „ins Zeug legen“. Das Gespräch mit dem Bundespräsidenten führten Berthold Kohler und Günter Bannas.

Herr Bundespräsident, war 2007 ein gutes Jahr für Deutschland?

Deutschland ist ein gutes Land, und es lässt sich gut darin leben. Mit der Wirtschaft ging es weiter aufwärts, die Arbeitslosigkeit nahm deutlich ab. Unser Land hat seinen außenpolitischen Ruf gefestigt. Wir sind insgesamt vorangekommen.

Sind Sie mit der Reformbilanz des zurückliegenden Jahres zufrieden?

Der Schwabe in mir ist nie ganz zufrieden, und der Ökonom weiß: Der Aufstieg Asiens hat erst begonnen, und auch andere Schwellenländer drängen vorwärts. Deutschland muss sich für seine Wettbewerbsfähigkeit noch stärker ins Zeug legen. Am Konjunkturhimmel ziehen Wolken auf. Deshalb wünschte ich mir mehr Reformehrgeiz. Wir sind in dem Prozess, uns auf die Chancen und Risiken der Globalisierung einzustellen, noch nicht weit genug gekommen, und auch nicht bei der Frage, wie wir auf den Rückgang und die Alterung unserer Bevölkerung reagieren. Wir investieren – materiell und immateriell – immer noch zu wenig in die Zukunft unseres Landes. Einem Schritt oder zweien voran folgt leider oft auch wieder ein Schritt zurück.

Vor gut einem Jahr begann die Debatte über eine Verlängerung der Auszahlung des Arbeitslosengeldes I an ältere Arbeitslose. Sie haben damals vor einem Paradigmenwechsel gewarnt. Jetzt wird der Paradigmenwechsel vollzogen.

Offensichtlich, und ich habe meine Zweifel, ob diese Maßnahme wirklich zu mehr sozialer Gerechtigkeit führt. Eher trägt sie wohl dazu bei, die Beschäftigungsschwelle des Wachstums wieder anzuheben, das heißt, es zu erschweren, aus Wachstum mehr Beschäftigung zu machen. Der nachhaltige Abbau der Sockelarbeitslosigkeit wird dadurch nicht leichter. Dabei haben wir mit derzeit 3,4 Millionen Menschen doch noch viel zu viele Arbeitslose, die meisten von ihnen Langzeitarbeitslose und Menschen mit geringer Qualifizierung. Ihre Lage ist in meinen Augen der wichtigste Ausdruck von sozialer Ungerechtigkeit und eine der Hauptursachen für Kinderarmut.

Das Wort „Reform“ scheint zu einem Unwort geworden zu sein. Die Koalitionsparteien scheuen es wie der Teufel das Weihwasser. Woran liegt das?

Wir haben ein Problem mit dem Erklären, warum Reformen notwendig sind. Und wir haben ein Problem mit dem Aushaltenkönnen, bis Reformen wirken. Da kommt es auf politisches Stehvermögen und gute Kommunikation an. Mir ist bewusst, dass dies leichter gesagt als getan ist. Doch das Interesse des Landes steht über partei- oder machtpolitischen Interessen. Mit der erfreulichen Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt im Rücken gab es die Chance, den Bürgern einen positiven Zusammenhang zwischen Reformen und ihrer Wirkung zu vermitteln.

Setzt sich in der Politik der Populismus durch?

Es geht mehr um die Frage, wie sich strukturelle politische Lösungsansätze, die einen langen Atem verlangen, gegenüber kurzfristigem Denken durchsetzen können. Wir können die Bürger ruhig ernst nehmen. Ich schätze ihren gesunden Menschenverstand hoch ein. Meine Erfahrung ist: Die Leute wollen mitdenken, und wenn sie richtig angesprochen werden, dann machen sie mit. Auf politischen Mut kommt es aber auch immer an.

Kürzlich haben Sie gefordert, das Steuersystem müsse einfacher und transparenter werden. Sie haben dies auch als eine Herausforderung an das demokratische System bezeichnet. Mit solchen Vorschlägen sind der ehemalige Unions-Fraktionsvorsitzende Merz und der frühere Verfassungsrichter Kirchhof aber schon in der CDU gescheitert.

Die Demokratie lebt davon, dass die Bürger ihre Grundregeln verstehen, verinnerlichen und bejahen. Die Komplexität des Steuer- und Abgabensystems kann einen Grad erreichen, der dem zuwiderläuft. Und wenn die Bürger ein Bewusstsein entwickeln, für ihren Beitrag keine angemessene Gegenleistung zu erhalten, dann geht Vertrauen in die Demokratie verloren. Ein einfaches, für die Bürger durchschaubares Steuer- und Sozialsystem wäre in meinen Augen eine Stärkung von Demokratie und Staat.

Der politische Diskurs wird derzeit dominiert von Forderungen nach Umverteilung und sozialer Gerechtigkeit. Vorstöße, die mehr Eigenverantwortung, mehr Freiheit gar verlangen, sind sehr selten geworden. Ist die Gleichheit der oberste Wert der Deutschen?

Ich glaube, es war Willy Brandt, der gesagt hat: Freiheit ist nicht alles, aber ohne Freiheit ist alles nichts. Freiheit ist für mich die wichtigste Quelle für Kreativität. Und wir stehen vor der Aufgabe, all unsere Kreativität zu mobilisieren, um auch in Zukunft die Nase vorn zu haben. In einem demokratischen, freiheitlichen Staat sollen die Menschen die Chance haben, sich und ihre Talente zu entfalten. Es ist die Leistung der Menschen, die den Staat zusammenhält, und nicht die Leistung des Staates, die Menschen zusammenzuhalten. Wir sollten uns nicht vormachen, dass Glück sich als Sozialleistung organisieren lässt. Aber es ist auch wahr, dass um die richtige Balance zwischen Freiheit und Gleichheit schon immer gerungen worden ist. Da gibt es keine letzte Wahrheit, das ist ein Prozess, geprägt von der Entwicklung der Gesellschaft und den Herausforderungen des internationalen Wandels. Derzeit erleben wir, wie die Verteilung der Einkommen und Vermögen sich auseinanderentwickelt. Vergleichsweise wenige erfreuen sich enormer Einkommenszuwächse, während die Einkommen der breiten Mittelschicht in Deutschland stagnieren oder real teilweise sogar sinken. Doch die Menschen in der Mitte der Gesellschaft erbringen den Löwenanteil dessen, was verteilt wird. Ihre Anstrengung, das eigene Leben in die Hand zu nehmen, mit allen Risiken und Unwägbarkeiten, verdient Anerkennung, Respekt und Förderung durch den Staat. Es ist wichtig, dass sie erleben: Ihr Beitrag lohnt sich auch für sie selber. Und bei allem Werben der Politik um die Mitte: Die Steuer- und Beitragszahler merken am Geldbeutel, wie handfest die Unterstützung für sie wirklich ist. Mich überrascht es nicht, wenn Fragen nach der sozialen Gerechtigkeit aufgeworfen werden. Dabei stören mich weniger die Managergehälter für sich genommen. Mehr Sorgen bereitet mir die zunehmende Verunsicherung der Mittelschicht.

Wer bestimmt, was sozial gerecht ist?

Es gibt immer wieder ganz oben und ganz unten auf der Einkommensskala Fälle, da weiß jeder: Das ist jetzt aber ungerecht. Im Übrigen hat unser Gerechtigkeitsempfinden viel mit dem Blick auf andere zu tun. Da kommt so lange keine Unruhe auf, wie das Gefühl vorherrscht, dass sich eigene Anstrengung lohnt und dass jeder die gleiche Chance hat, die eigene Leistungsfähigkeit zu entwickeln. Der Schlüssel hierfür ist Bildung. Gleiche Bildungschancen sind die wichtigste Form sozialer Gerechtigkeit. Hier hapert es in Deutschland, und alle wissen es. Die Durchlässigkeit unseres Bildungssystems und damit auch unseres Sozialsystems hat abgenommen. Arbeiterkinder haben es um ein Vielfaches schwerer, aufs Gymnasium und später auf die Universität zu kommen. Noch schlechter steht es um die Kinder von Zugewanderten. Das ist ein unakzeptabler Zustand. Die Vitalität und Stabilität der Demokratie – auch der Wirtschaft – hängen letztlich eminent von der Durchlässigkeit der Gesellschaft ab. Wir brauchen Eliten. Aber sie dürfen sich nicht nur aus sich selber rekrutieren. Aufsteigen zu können ist viel wichtiger als die Frage, wer wie viel verdient. Für mich ist es ein zentraler Prüfstein für unsere Zukunftsfähigkeit, ob die nachhaltige Verbesserung unseres Bildungswesens gelingt. Kein Talent in Deutschland darf vernachlässigt werden.

Angesichts der auseinandergehenden Einkommens- und Vermögensentwicklung wird schon von einer Legitimationskrise der Marktwirtschaft gesprochen. Sehen Sie das auch so?

Ich rate dazu, diese Frage weder zu dramatisieren noch zu ignorieren. Ungleichheit gehört zur Freiheit, zur menschlichen Natur und zu jeder offenen Gesellschaft. Sie ist eine dynamische Kraft. Die Frage ist: Wie viel Ungleichheit stärkt die schöpferischen Kräfte, und ab wann gefährdet Ungleichheit den Zusammenhalt zu Lasten aller? Meine Meinung ist: Die Gesellschaft wird nicht durch Nivellierung der Einkommen, sondern durch Chancengerechtigkeit zusammengehalten. Und natürlich auch durch die Einsicht der oberen Einkommensschichten, sich als Teil der Gesellschaft insgesamt zu verstehen. Deshalb erwarte ich von ihnen Einfühlungsvermögen, und Führen durch Vorbild. Da rede ich nicht nur von den Managern.

Brauchen wir einen Mindestlohn?

Mindestlöhne gibt es auch anderswo, und bislang ist das Abendland nicht untergegangen. Aber es gibt Risiken, denn ein Mindestlohn, der von den Arbeitgebern im Wettbewerb nicht gezahlt werden kann, vernichtet Arbeitsplätze. Das Problem besteht doch darin: Wenn Arbeit überall auf der Welt in gewünschter Qualität geleistet werden kann, dann lässt sich ihr Preis immer weniger innerhalb von Landesgrenzen bestimmen. Diesen Druck erfahren vor allem Menschen, denen nur einfache Tätigkeiten gelingen. Sollen sie zur Arbeitslosigkeit verurteilt sein, weil ihre Arbeitskraft zu teuer ist und deshalb nicht nachgefragt wird? Sollen sie zu Löhnen arbeiten müssen, von denen sich nicht leben und nicht sterben lässt? Hier liegt ein Spannungsfeld, dem sich Staat und Tarifparteien stellen müssen. Wie schaffen wir es, Hilfe zu organisieren, die wirksam bei den Menschen ankommt, zugleich aber die Probleme auf dem Arbeitsmarkt nicht noch verschärft? Ob die Vereinbarung zum Post-Mindestlohn eine rundum gelungene Antwort auf diese Fragen ist, weiß ich nicht. Andererseits sehe ich durchaus, dass es eine der Kernaufgaben des modernen Sozialstaates ist, seinen Bürgern ein Leben frei von Not zu ermöglichen. Deshalb sage ich: Wenn ein Arbeitseinkommen nicht reicht, um das Auskommen zu sichern, muss der Staat etwas dazugeben.

Immer öfter ertönt der Ruf, der Staat solle eingreifen. Den Leuten wird das Rauchen in Gaststätten verboten, ausländischen Staatsfonds sollen die Investitionsmöglichkeiten in Deutschland erschwert werden.

Wir leben in einer Zeit weltweit tiefgreifenden Wandels. Das stärkt das Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit. Für den Staat wird es dadurch schwerer, sich auf die notwendige Prioritätenbildung zu konzentrieren, und umgekehrt wird ihm eine Lösungskapazität zugeordnet, die er in der Wirklichkeit der Globalisierung nicht hat. Die Frage, wie viel Staat brauchen und wollen wir wirklich, ist in Deutschland noch nicht substantiell diskutiert worden. Diese Diskussion brauchen wir aber, wenn wir die Herausforderung der Globalisierung bestehen wollen. Ich glaube, wir machen einen grundlegenden Fehler, wenn wir die Eigenverantwortung der Menschen zu gering schätzen und auch ihren Willen und ihre Fähigkeit, Probleme selbst zu lösen.

Sollte der Staat den Bürgern ein Grundeinkommen zahlen?

Fördern und Fordern müssen zusammenbleiben. Ich halte es deshalb nicht für richtig, ein Grundeinkommen ohne Bedingungen zu garantieren. Der Staat hat ja auch nicht die Verfügungsgewalt über die Arbeitsplätze. Nach meiner Vorstellung geht es um einen Staat, der seinen Bürgern so viel Freiheit gibt wie möglich, aber auch so viel Sicherheit wie nötig. Das ist ein Staat, der sich auf seine Kernaufgaben konzentriert – sozialen Ausgleich, Bildung und Kultur, innere und äußere Sicherheit.

Über Innenminister Schäuble haben Sie in diesem Jahr gesagt, er verunsichere mit seinen Vorschlägen zur Verbesserung der inneren Sicherheit im Stakkato-Rhythmus die Bürger.

Ich habe großen Respekt vor der Arbeit von Wolfgang Schäuble, der in Zeiten des Terrorismus für die innere Sicherheit zuständig ist. Die Bedrohungslage hat sich zweifelsohne verschärft. Und der technische Fortschritt verschafft den Feinden unserer Gesellschaftsordnung neue Kommunikationsmittel. Terroristen kennen keine Regeln. Ihnen ist jedes Mittel recht. Heißt das, der demokratische Staat muss sich auf die Ebene der Terroristen begeben, um sie wirksam bekämpfen zu können? Schauen Sie: Amerika ist und bleibt für mich der Hort der Freiheit in der Welt, und doch scheint mir, unseren amerikanischen Freunden ist im Kampf gegen den Terrorismus etwas Wichtiges von sich selbst verloren gegangen. Da brauchen sie unsere Unterstützung und unser Verständnis dafür, wie tief sie der 11. September getroffen hat, und wir sollten beides einbringen; nicht nur, weil wir in der westlichen Wertegemeinschaft aneinander gebunden sind, sondern auch aus Freundschaft. Gerade die Ursprünge dieser Freundschaft und unsere vorangegangene schlimme Geschichte und ihre Aufarbeitung sind es doch, die uns sensibel machen gegen Willkür und Regellosigkeit.

In den siebziger und achtziger Jahren ist die Debatte über das Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit schärfer geführt worden als heute.

Damals ging es vor allem um den RAF-Terrorismus, und ich erinnere mich an den einen oder anderen Vorschlag, der weit über das Ziel hinausging. Der Rechtsstaat hat diese Bewährungsprobe bestanden. Daran sollten wir uns erinnern.

Aus Ihren Äußerungen spricht die Sorge, dass es beim Kampf gegen den Terrorismus zu Grenzüberschreitungen kommen könnte. An wem ist es, sie zu verhindern?

An uns allen. Und eine große Koalition aus beiden Volksparteien hat die große Chance, beim Thema „Innere Sicherheit“ mit einer Stimme zu sprechen. Gerade in diesem Bereich muss es um die Sache gehen. Die Grenze dessen, was wir einsetzen wollen, zieht unumstößlich Artikel 1 des Grundgesetzes, der auch auf Terroristen angewendet werden muss: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Brauchen wir Kinderrechte im Grundgesetz?

Wir brauchen Achtsamkeit für Kinder vor allem in den Herzen und Köpfen der Erwachsenen. Wollen wir weiter hinnehmen, dass hinter irgendeiner verschlossenen Wohnungstür in Deutschland ein Kind hungern oder in anderer Weise Not leiden muss? Manchmal ist ein aufmerksamer Mitmensch entscheidender als ein Verfassungstext.

Sie stammen aus einer Familie, die aus eigener Erfahrung weiß, was Flucht und Vertreibung bedeuten. Wie müsste Ihrer Auffassung nach das sogenannte „sichtbare Zeichen“ in Berlin aussehen, das sich die Bundesregierung vorgenommen hat?

Zunächst einmal: Ich sehe mich nicht als Vertriebenen. Vertrieben wurden die polnischen Menschen, in deren Haus meine Eltern damals eingewiesen wurden. Das sichtbare Zeichen in Berlin sollte die Ursachen von Flucht und Vertreibung gleichermaßen wie die Leiden der Menschen verdeutlichen. Und es sollte einen Beitrag zur Versöhnung zwischen den Völkern leisten. Ich finde die Idee gut, das Projekt in ein europäisches Netzwerk der Erinnerung an Flucht und Vertreibung einzubringen.

Was halten Sie vom polnischen Vorschlag, ein Museum des Zweiten Weltkrieges in Danzig zu errichten?

Deutschland sollte sich einer offenen Diskussion darüber nicht versperren. Zwischen den Vorhaben sehe ich keinen grundsätzlichen Gegensatz. Sie könnten wichtige Teile des europäischen Netzwerks sein.

Die Initiative zum Gedenken an die Vertreibung ging in Deutschland von Erika Steinbach aus, der Präsidentin des Bundes der Vertriebenen. In Polen gilt sie als Persona non grata. Hat Polen in ihrem Fall ein Vetorecht ?

Ich setze darauf, dass beide Seiten eine gute Lösung finden können. Die polnische Seite wird aber sicher Verständnis dafür haben, dass über deutsche Personalfragen in Deutschland entschieden wird.

Sie sind für die Beteiligung der Vertriebenen an diesem Projekt?

Ja. Es gibt für mich keinen überzeugenden Grund, die Vertriebenenverbände von diesem Projekt auszuschließen. Ihr Sachverstand sollte hilfreich sein.

Ihre Amtszeit endet im Sommer 2009, kurz vor der Bundestagswahl. Wann werden Sie bekanntgeben, ob Sie wieder antreten?

Ich habe gesagt, etwa ein Jahr vor Ablauf meiner Amtszeit.

Ihr Vorschlag, über eine Direktwahl späterer Bundespräsidenten nachzudenken, sorgte in Berlin für erheblichen Wellengang. Halten Sie an dieser Idee fest?

Mein Thema ist: Wie können wir es schaffen, die Bürger insgesamt stärker am politischen Prozess zu beteiligen? Die Gründungslogik der Republik hat, wie Sie wissen, ein politisches System geschaffen, in dem die Wähler bei den Spitzenämtern auf Bundesebene nicht unmittelbar über Personen abstimmen können. Die Gründer der Republik hatten ein gesundes Misstrauen gegenüber der demokratischen Standfestigkeit der Deutschen. Die Frage ist, ob dieses institutionalisierte Misstrauen heute noch angebracht ist. Ob hier in Zukunft Änderungsbedarf besteht, soll offen diskutiert werden. Der Bundespräsident soll für alle Menschen in Deutschland sprechen. Dann sollte es nicht undenkbar sein, dass er von den Deutschen auch direkt gewählt wird. Oder wollen wir uns einreden lassen, wir hätten keinen Grund zur Zuversicht in die Stabilität der Demokratie in Deutschland?

Wer sollte uns das einreden? Die Parteien?

Sie sehen doch, die Zahl der Menschen, die sich parteipolitisch engagieren, nimmt ab, und die Zahl der Menschen, die sich jenseits von politischen Parteien zivilgesellschaftlich engagieren, nimmt zu. Solche Signale nehme ich auf, und ich nehme sie ernst.

Das heißt, Sie treten für mehr plebiszitäre Elemente ein?

Ich bin aufgeschlossen für eine Diskussion über mehr Elemente direkter Demokratie. Und den etablierten Parteien kann es nicht schaden, mehr mit den Bürgern zu reden und ihnen genauer zuzuhören. Es gibt Gegenden, in denen extremistische Parteien in den Ruf geraten sind, die einzigen zu sein, die sich wirklich um die Bürger kümmern. Darin sehe ich eine dringende Aufforderung an die demokratischen Parteien. Sie müssen den Bürgern deutlich machen, dass sie ihre Anliegen ernst nehmen. Und die Bürger sehe ich in der Pflicht, ihre Erfahrung und ihr Wissen stärker an die Politik heranzutragen. Ich bin überzeugt, dass es Aufgabe der Parteien ist, in unserem Verfassungsgefüge zur demokratischen Willensbildung beizutragen. Aber die Diskussionen in Berlin haben mit der Wirklichkeit der Menschen zuweilen recht wenig zu tun.

Also gibt es das „Raumschiff Berlin“?

Darin steckt ein Körnchen Wahrheit. Ich bin dafür, den Bürgern im Land mit Aufmerksamkeit zu begegnen. Das haben sie verdient. Und ich sage voraus: Die Parteien profitieren davon in ihrer wichtigen, verantwortungsvollen Arbeit.

Das Gespräch mit dem Bundespräsidenten führten Berthold Kohler und Günter Bannas.



Text: F.A.Z.