Freitag, 3. April 2015

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Sonntag, 13. Dezember 2009

Obamas gemischte Bilanz

Fremde Federn: Robert B. Goldmann

Wenn auch die Umfragezahlen leicht gefallen sind, bleibt Präsident Obama beliebt, und das gilt nicht nur für Amerika, sondern auch für das Ausland. In linksliberalen Kreisen Amerikas wäre es geradezu Majestätsbeleidigung, sich negativ über ihn zu äußern.

Nach den acht Bush-Jahren hat Obama zugunsten Amerikas viel erreicht. Sein Charisma ist unbestreitbar, seine Familie bereichert diese Ausstrahlung, und auf seinen Reisen hat der Präsident die Interessen der Vereinigten Staaten verteidigt, ohne dabei provozierend zu wirken. Aber es hapert an konkreten Ergebnissen, sei es im Blick auf das iranische Nuklearprogramm oder im Nahostkonflikt: Hier hat Obama Israel deutlich gemacht, was er fordert; von den Palästinensern und arabischen Ländern, die hilfreich sein könnten, hat er dagegen wenig verlangt.

In Russland gab es ein freundliches Gespräch mit Präsident Medwedjew, aber die Unterredung mit Ministerpräsident Putin verlief gespannt. In Italien hat sich die G8 in der Klimapolitik auf bescheidene Richtlinien geeinigt, ist aber in Wirtschaftsdingen nicht weitergekommen. In Ghana verurteilte der Präsident mit klaren Worten Korruption und Diktatur in Afrika.

Was Bush zu viel und zu oft tat – die Demokratie zu preisen und sie Ländern mit anderer politischer Kultur dringend zu empfehlen –, tat Obama zu wenig. Klare Äußerungen fehlten nicht nur gegenüber der Verzögerungstaktik Teherans, sondern auch zur brutalen Niederschlagung der Demonstrationen in den Städten Irans gegen das Ergebnis der Präsidentenwahl.

Innenpolitisch kommt die Regierung nur schwer voran. Die vielen Milliarden des Konjunkturpakets zeigen nach fünf Monaten enttäuschende Ergebnisse. Die von Obama als höchste Priorität geplante Reform des Gesundheitswesens wird bescheidener ausfallen, als es der Präsident geplant hatte. Die Arbeitslosigkeit steigt unerbittlich, Washington ist jetzt Hauptaktionär von General Motors, und die Börsenkurse dümpeln dahin. Beunruhigend ist der steigende Schuldenberg, der weitgehend von China finanziert wird.

Obama hat erstklassige Mitarbeiter und Berater, und er selbst strahlt Zuversicht aus. Aber man fragt sich, ob er nicht mehr erreichen könnte, wenn er nicht alle Probleme gleichzeitig in Angriff nähme.

Schließlich sollte sich Obama Gedanken über die eine Woche lang fast ununterbrochene Beschäftigung der Medien mit Michael Jackson machen. Es ist an der Zeit, dass er gegen die Infantilisierung dieser Gesellschaft das Wort ergreift. Es ist ein Missverhältnis, dass endlos über den "König des Pop" berichtet wird, während über den Einsatz amerikanischer Soldaten in Afghanistan kaum öffentlich diskutiert wird. Der einflussreichste Präsident seit Franklin Roosevelt hat auch die Pflicht, dieser Generation zu erklären, dass sie sich auf lange Zeit schwerwiegenden Herausforderungen stellen muss. Ohne Ernst und Verantwortung geht das nicht.


 

Der Autor ist freier Journalist und lebt in New York.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.07.2009 Seite 8

Wo heute Lärm ist, war einst Magie

Das Theater kann der selige Schlupfwinkel der Kindheit sein oder das traurigste Gewerbe. Bei Michael Kehlmann, meinem Vater, war es ein Hort des Erzählens – bis das Erzählen aus der Mode kam. "Die Lichtprobe": Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele Von Daniel Kehlmann

Das bürgerliche Leben", sagte Max Reinhardt in einer Rede an der Columbia University, "ist eng begrenzt und arm an Gefühlsinhalten. Es hat aus seiner Armut lauter Tugenden gemacht, zwischen denen es sich schlecht und recht durchzwängt." Im Ungenügen also an dem einen Dasein, das uns gegeben ist, an der Mangelhaftigkeit unserer Gefühle, der Begrenztheit der Wege, die uns offen stehen, sah der Mitgründer dieser Festspiele die Wurzel unserer Faszination für das Theater. "Wir alle tragen die Möglichkeit zu allen Leidenschaften, zu allen Schicksalen, zu allen Lebensformen in uns." Wo aber das Theater die Berührung mit der existentiellen Wahrhaftigkeit verliere, bleibe leeres Spiel und, schlimmer noch, blanke Langeweile. "Das Theater kann, von allen guten Geistern verlassen, das traurigste Gewerbe, die armseligste Prostitution sein."

Ich hörte diese Rede zum ersten Mal als Kind auf einer Langspielplatte meines Vaters. Das mit dem traurigsten Gewerbe verstand ich nicht ganz, schon weil ich nicht so recht wusste, was das Wort Prostitution bedeutet, das über die Armut des bürgerlichen Lebens aber verstand ich sehr wohl: Natürlich sehnte ich mich nach anderen Möglichkeiten und danach, mehr als ein Leben zu führen, alle Kinder tun das, werden sie erwachsen, verdrängen sie es, es sei denn, sie werden Schauspieler oder sie schreiben. Wenn Reinhardt das Theater "den seligsten Schlupfwinkel derer" nennt, "die ihre Kindheit heimlich in die Tasche gesteckt und sich damit auf und davon gemacht haben", so fand ich genau diesen Schlupfwinkel in den Büchern, im Erfinden, in der kontrollierten Flucht in die Phantasie, die jeder Roman bietet. Vom Theater aber hielt ich mich lieber fern.

Das hatte mit meinem Elternhaus zu tun. Mein Vater war Regisseur, und das Theater gehörte nun einmal zu seiner Welt, zum Bereich seiner Zuständigkeit, dem ich als Sohn, der etwas Eigenes sein und tun wollte, lieber nicht zu nahe kam. Gerade als einer, der unter Schauspielern aufgewachsen ist, jenen stets angenehmen und doch so verzweifelt des Zuspruchs bedürftigen Menschen, hatte ich schon früh das Gefühl, dass es gut für mich wäre, mein Leben in anderem Umfeld zu verbringen.

An meinem ersten und größten Theatererlebnis waren allerdings gar keine Schauspieler beteiligt. Ich war vier Jahre alt, mein Vater probte im Wiener Theater an der Josefstadt, meine Mutter und ich waren aus München gekommen, ihn zu besuchen. Eines Morgens nahm er mich mit zur Beleuchtungsprobe. Ich sehe noch den leeren Zuschauerraum vor mir, die leere Bühne bei offenem Vorhang. Mein Vater rief etwas nach oben, und plötzlich begann sich ein riesiger Kristallluster – mir jedenfalls kam er riesig vor – aufleuchtend aus der Dunkelheit herabzusenken. Der gewaltige Raum wurde hell. Mein Vater rief wieder etwas, der Luster stieg auf, die Schatten wurden länger, und schließlich war der Luster im Schwarz der Decke verschwunden. Ich wusste natürlich nicht, dass sich das allabendlich ereignete; ich glaubte wirklich, es wäre nur für mich und zum ersten Mal geschehen. Ich war erschrocken und glücklich. Keine Theateraufführung kam je an diesen Vormittag heran.

In den nächsten Jahren sah ich viele Inszenierungen meines Vaters, die meisten als Fernsehaufzeichnungen, nurmehr wenige auf der Bühne, bis sein Leben Ende der achtziger Jahre eine traurige Wendung nahm: Lange Zeit war er einer der erfolgreichen Regisseure des deutschsprachigen Fernsehens und Theaters gewesen – übrigens arbeitete er auch bei den Salzburger Festspielen –, nun aber, mit verblüffender Geschwindigkeit, geriet er aus der Mode und in Vergessenheit.

Von seinem Vater zu lernen ist ja immer eine zweischneidige Sache. Man möchte doch eigenständig sein, instinktiv lehnt man Lektionen des Elternhauses ab und sucht seine Lehrer so fern davon wie möglich. Als mich vor kurzem ein Germanist darauf hinwies, dass die Hauptfigur meines ersten Romans vaterlos ist, ein Mann ohne Herkunft und Abstammung, so verblüffte es mich selbst, wie sehr man das, was ich damals für spielerische Erfindung hielt, als Absichtserklärung des beginnenden Autors lesen kann: niemandem verpflichtet und von keinem überschattet sein, von nirgendwo herkommen. Aber in Wirklichkeit ist es bekanntlich nie so, und Stunden, ja Tage würden nicht ausreichen, um auch nur einen Teil der Schuld zu umreißen, die ich Michael Kehlmann nicht nur als Mensch – das ist selbstverständlich und braucht hier nicht erklärt zu werden –, sondern als Künstler, als Gestalter, als Erzähler in Bildern und Szenen, zurückzuzahlen hätte, gehörte es nicht zum Wesen solcher Schulden, dass sie nicht zurückgezahlt werden können. Dadurch etwa, dass ich ihm zuhören durfte, wenn er seine Drehbücher der Verfilmungen Joseph Roths ins Tonbandgerät diktierte, lernte ich, dass Erzählen weniger eine Frage des Inhaltes als der Atmosphäre ist, eher Haltung als Handwerk, eher Stimme als Technik. Ich lernte von ihm den Wert des Humors, den Wert der Gelassenheit, vor allem auch den Wert des Zorns. Über seine Inszenierungen dachte er wochenlang nach und formte alles noch vor der ersten Leseprobe in seinem Kopf: Er wusste, wie ein Stück aussehen sollte, unter seiner Leitung wurde nicht diskutiert, dafür, so meinte er, habe man ihn ja engagiert. Kunst bestehe aus großen, kleinen und winzigen Entscheidungen, Aberhunderten davon, jeden einzelnen Tag, und man selbst wisse nie, ob man das Richtige tue, man könne nur darauf hoffen und müsse konsequent bleiben; immer an sich zu zweifeln sei ebenso wichtig, wie diese Zweifel dann während der Arbeit mit sich allein abzumachen.

Vor allem aber sah er im Regisseur einen Diener des Autors. Jawohl, einen Diener – so sagte er, und an dieser Auffassung lag es, dass er auf den deutschsprachigen Bühnen in den letzten zwei Jahrzehnten seines Lebens, trotz zunächst noch guter Gesundheit, nicht mehr arbeiten durfte. In einem Bereich, wo es keinen schlimmeren Vorwurf gibt als das Wort altmodisch, galt er plötzlich als ebendies, und wohl auch deswegen war ich zunehmend entschlossen, mich vom Theater fernzuhalten und lieber Bücher zu schreiben. Was immer einem Romancier zustößt, so dachte ich und denke es immer noch, es kann ihn doch keiner daran hindern, seine Arbeit zu tun. Schlimmstenfalls bleiben seine Werke ungedruckt, aber schreiben darf er sie doch, und niemand hält ihn davon ab, auf eine gewogenere Zukunft zu hoffen. Der Regisseur aber, der sich herrschenden Dogmen verschließt, hat diese Chance nicht. Als mein Vater durch den Wandel der Umstände seine Arbeit nicht mehr ausüben konnte, senkte sich allmählich die Krankheit des Vergessens auf ihn herab, bis ihn ganz zuletzt die Demenz vom Bewusstsein der Enttäuschungen befreite.

Ich bin also, ich leugne es nicht, voreingenommen, aber andere sind es nicht. Spricht man mit Russen, mit Polen, mit Engländern oder Skandinaviern, die deutschsprachige Lande besuchen und hier ins Theater gehen, so sind sie oft ziemlich verwirrt. Was das denn solle, fragen sie, was denn hier los sei, warum das denn auf den Bühnen alles immer so ähnlich aussehe, ständig Videowände und Spaghetti-Essen, warum sei immer irgendwer mit irgendwas beschmiert, wozu all das Gezucke und routiniert hysterische Geschrei? Bitte verzeihen Sie die Klischees, doch es sind nicht meine, sondern genau jene, die uns die deutschen Theater vorspielen, formelhaft treu, Abend für Abend, Woche für Woche, in Stadt und Land. Ob das, so die Frage der Besucher, denn staatlich vorgeschrieben sei?

Was soll man darauf antworten? Aus rein familiären Gründen – weil ich erlebt habe, dass einer, der es anders machen wollte, es gar nicht mehr machen konnte – und weil es mich außerdem jedesmal mit Melancholie erfüllt, im Ausland grandiose Stücke lebender Dramatiker zu sehen, die bei uns praktisch unaufführbar sind, weil ihre Autoren keine verfremdenden Inszenierungen gestatten, antworte ich diesen Verwunderten dann nicht, dass es nun einmal so sein müsse, dass sie keine Ahnung hätten, wie schlimm verstaubt das Theater in ihren Heimatstädten sei, und wir eben mal wieder einen Sonderweg gefunden hätten, zu speziell und verschlungen, um von anderen Völkern verstanden zu werden. Sondern ich sage in etwa Folgendes:

Bei uns ist etwas Absonderliches geschehen. Irgendwie ist es in den vergangenen Jahrzehnten dahin gekommen, dass die Frage, ob man Schiller in historischen Kostümen oder besser mit den inzwischen schon altbewährten Zutaten der sogenannten Aktualisierung aufführen solle, zur am stärksten mit Ideologie befrachteten Frage überhaupt geworden ist. Eher ist es möglich, unwidersprochen den reinsten Wahnwitz zu behaupten, als leise und schüchtern auszusprechen, dass die historisch akkurate Inszenierung eines         Fortsetzung auf Seite 25

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.07.2009 Seite 23


 


 

Fortsetzung der Rede von Daniel Kehlmann von Seite 23 Wo heute Lärm ist . . .

Theaterstücks einfach nur eine ästhetische Entscheidung ist, nicht besser und nicht schlechter als die Verfremdung, auf keinen Fall aber ein per se reaktionäres Unterfangen. Als vor vier Jahren der Satiriker Joachim Lottmann im "Spiegel" einen spöttischen Artikel über deutsche Regiegebräuche veröffentlichte, ging eine Empörungswelle durch die Redaktionen, als schriebe man das Jahr 1910 und einer hätte Kaiser Wilhelm gekränkt.

Es hat wohl mit der folgenreichsten Allianz der vergangenen Jahrzehnte zu tun: dem Bündnis zwischen Kitsch und Avantgarde. Nach wie vor und allezeit schätzt der Philister das Althergebrachte, aber mittlerweile muss sich dieses Althergebrachte auf eine strikt formelhafte Weise als neu geben. Denn wer ein Reihenhaus bewohnen, christlich- oder ökologisch-konservative Parteien wählen und seine Kinder auf Privatschulen schicken will und es dennoch für zwingend notwendig hält, sich als aufgeschlossener Bohemien ohne Vorurteil zu fühlen - was bleibt ihm denn als das Theater? In einer Kultur, in der niemand mehr Marx liest und kontroverse Diskussionen sich eigentlich nur noch um Sport drehen, ist das Regietheater zur letzten verbliebenen Schrumpfform linker Weltanschauung degeneriert.

Wie alt die Fragestellung und auch die Praxis ist, zeigt sich auch darin, dass der scharfsinnigste Text darüber aus dem Jahr 1926 stammt: Karl Kraus' furioser Aufsatz "Mein Vorurteil gegen Piscator". Der große Regisseur Erwin Piscator hatte in Berlin eine, das Wort war damals neu, "aktualisierte" Inszenierung von Schillers "Räubern" auf die Bühne gebracht, was Kraus dazu veranlasste, grundsätzlich zu werden. In Wahrheit, so Kraus, sei Aktualisieren das Gegenteil dessen, was die Presse darunter verstehe, nämlich die behutsame Wiederherstellung dessen, was wir nicht mehr von der Vergangenheit wüssten, was uns unwiderruflich von ihr trenne. ",Aktuell'", schrieb er, "ist die Überwindung des Zeitwiderstands, die Wegräumung des Überzugs, den das Geräusch des Lebens dem Gehör und der Sprache angetan hat. Für aktuell aber halten die Zutreiber der Zeit den Triumph des Geräusches über das Gedicht, die Entstellung seiner Geistigkeit durch ein psychologisches Motiv, das der Journalbildung" – also der Bildung des Journalismus – "erschlossen ist."

Man muss Kraus hierin nicht folgen, man kann es auch ganz anders sehen, man darf selbstverständlich auch für die drastischste Verfremdung eintreten, aber man sollte sich deswegen nicht für einen fortschrittlichen Menschen halten. Kraus war kein Anhänger des großen Ausstattungstheaters, er trat für äußerste Reduktion ein; was ihm vorschwebte, war näher bei dem Minimalismus eines Peter Brook als bei Max Reinhardt. Ein anderer Minimalist, Samuel Beckett, verbot regelmäßig Aufführungen seiner Werke, die er als entstellend empfand und die von seinen akribischen Regieanweisungen abwichen – möchte man ihn darum rückständig nennen? Wer gegen das sogenannte Regietheater ist, muss beileibe nicht konservativ sein, aber gerade mancher tiefkonservative Mensch hält die teuren und konventionellen Spektakel des Regietheaters für unangreifbar. Ein teuflischer Kreis: Wo Regisseure die Stars sind, dort halten sich die Autoren zurück. Wo sich die Autoren zurückhalten, beanspruchen die Regisseure wiederum den Status eines Stars, dem kein Autor, lebend oder tot, dreinzureden habe: "Eigentlich sind wir die Urheber!", rufen sie, und in der Tat muss man es sich wohl recht angenehm vorstellen, ein genialischer Schöpfer zu sein, ohne dafür eigens Stücke verfassen zu müssen. Unterdessen aber bleibt der Großteil der interessierten Menschen, die einstmals Publikum gewesen wären, daheim, liest Romane, geht ins Kino, kauft DVD-Boxen mit den intelligentesten amerikanischen Serien und nimmt Theater nur noch als fernen Lärm wahr, als Anlass für wunderliche Artikel im Feuilleton, als Privatvergnügen einer kleinen Gruppe folgsamer Pilger, ohne Relevanz für Leben, Gesellschaft und Gegenwart. "Das traurigste Gewerbe", sagte Reinhardt – und nicht selten ist man versucht, ihm zuzustimmen, sich abzuwenden und einfach den Fernseher einzuschalten.

Aber ich wollte ja von Michael Kehlmann reden und davon, was ihm die Bühne und was er für sie bedeutete, wieso bin ich so abgeschweift? Vielleicht bin ich es gar nicht, ich habe von dem gesprochen, was er neben einigen Gleichgesinnten – ich nenne nur den großen, fast vergessenen Rudolf Noelte –, zu verhindern versuchte und was doch Gestalt annahm: ein Klima der Repression, in dem Abweichung geächtet ist. "Ich bin größenwahnsinnig", schrieb Karl Kraus, "ich weiß, daß meine Zeit nicht kommen wird." Auch für meinen Vater zeichnete sich ab, dass seine Zeit nicht mehr kommen würde, dass sie, wenn überhaupt, unwiderruflich hinter ihm lag – und doch passte er sich nicht an und arbeitete lieber gar nicht als unter Umständen, die ihm nicht die volle Freiheit gelassen hätten. Man kann das durchaus Größenwahn nennen. Früher oder später kommt vielleicht für jeden Künstler der Augenblick, da sein Weg und der Zeitgeschmack sich trennen. Häufig ist Beharren ein Zeichen der Verstocktheit, manchmal aber auch das einzig Richtige.

Und so denke ich oft an jenen Luster damals im leeren Theater. An die wundersamen Widersprüche denke ich, die jedesmal von neuem auf der Bühne zusammenfinden: Etwas, das jeden Abend passiert, passiert gerade in dem Moment zum ersten Mal und nie wieder genau so; es wird Gegenwart und ist doch pure Wiederholung; Figuren stehen vor uns und tun es doch nicht, so dass wir Zeugen sind bei einem Ereignis, das nicht wirklich geschieht, und zwar in einer Spontaneität, wie sie nur nach langem Proben möglich wird. Film ist magisch, Theater aber ist paradox. Und das bleibt es selbst in der albernsten Gestalt, und das wird es noch sein, wenn man sich so mancher hochsubventionierten Absurdität nur noch mit amüsiertem Lächeln erinnert. "Nicht Verstellung ist die Aufgabe des Schauspielers", so Reinhardt, "sondern Enthüllung." Die Wahrheit auszusprechen also über unsere von Konvention und Gewohnheit eingeschnürte Natur, die Wahrheit über das eine kurze Leben, das wir führen. Und über die unzähligen Leben, die wir darüber versäumen und denen wir nirgendwo anders begegnen als in unserer Phantasie und in der Kunst.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.07.2009 Seite 25


 

 

Nur der Wind trocknet die Wäsche gratis


 


 

Wäschetrockner ersparen das mühsame Auf- und Abhängen der Wäsche. Sie machen Handtücher und Unterwäsche ohne Weichspüler flauschig, gelten aber als Energiefresser, die der Umwelt schaden. Stimmt das? Von Georg Küffner

Wäschetrockner sind schädliche Energiefresser. Das ist schnell gesagt. Ohne sich je in die Niederungen der Thermodynamik eingearbeitet zu haben, und das wäre für ein fundiertes Urteil wichtig, tragen viele Zeitgenossen diese Meinung immer wieder vor. Und es kommt noch doller: Zu Beginn der neunziger Jahre war der Widerstand gegen diese oft als völlig unnötig eingestufte Technik (Wäsche trocknet ja von selbst) so groß, dass man die Geräte ganz verbieten wollte.

Dass es anders kam, liegt weniger an der Lobbymacht der Hersteller und mehr an den überzeugenden Fakten. Denn wie eine Studie des Öko-Instituts belegt, frisst die auf dem Gestell im Arbeitszimmer aufgehängte Wäsche nicht mehr und nicht weniger Energie als die einem Mittelklasse-Wäschetrockner anvertraute. Denn die beim Trocknen in der Wohnung anfallende Verdunstungskälte muss durch mehr Heizaufwand ausgeglichen werden, andernfalls würde die Raumtemperatur merklich sinken. Zudem muss man die Feuchtigkeit aus der Wäsche durch intensives Lüften aus dem Haus bringen, wenn man sich keinen Schimmel einfangen will. Auch dafür braucht man Heizwärme.

Damit steht fest: Wäschetrocknen kostet Geld. Und wenn man sie im Garten aufhängt, was nicht immer möglich ist, kostet sie zumindest Zeit und Aufwand. Daher greifen auch überzeugte Lufttrockner im Winter gern auf den Trockenapparat zurück. So ein Gerät ist in den Apartmenthäusern großer Städte unentbehrlich, da vielerorts das Wäschetrocknen auf dem Balkon verboten ist oder äußerst ungern gesehen wird. Außerdem werden sogenannte Trockenböden und professionell ausgestattete Waschküchen in Neubauten kaum noch installiert.

Nicht viel anders ist die Lage in den Vereinigten Staaten. Hier ist in einigen Gegenden das Maschinentrocknen als allein akzeptiertes Vorgehen in Gesetzen, Verordnungen und Mietverträgen festgeschrieben. Wäscheleinen seien hässlich und minderten den Wert einer Immobilie deutlich, wird argumentiert. Im Zuge eines wachsenden Ökobewusstseins sehen das immer mehr Amerikaner anders und beharren auf ihrem "right to dry". So hat sich, wie der "Boston Globe" schreibt, mit dem "Project Laundry List" (www.laundrylist.org) eine ernstzunehmende Bürgerbewegung etabliert, die dem Naturtrocknen und damit der Wäscheleine ein rundum positives Image verpassen will. Ein hehres Ziel, das nur zu erreichen ist, wenn anders als bisher in den einschlägigen Geschäften auch Wäscheleinen und -ständer zu kaufen sind. Mehrere Unternehmen bedienen mittlerweile diesen Markt: Etwa die Vermont Clothesline Company (www.smartdrying.com), die für 195 Dollar den Ständer "Summer Breeze" anbietet. Das sind zwei rustikale hölzerne T-Stützen, die man im Garten einbuddelt und dazwischen mehrere parallele Leinen spannt.

Doch bei aller Euphorie für das Lufttrocknen, für das Gros der Amerikaner ist und bleibt der Wäschetrockner im Haus unentbehrlich. Rund 88 Prozent aller Haushalte nutzen ihn und verantworten damit einen Anteil am privaten Stromverbrauch von 5,8 Prozent. Deutlich mehr Energie wird im Haushalt für das Kühlen von Speisen und Getränken benötigt. Das ist in Deutschland (mit einem Anteil für Kühl- und Gefriergeräte von 24 Prozent) nicht anders. Auch hier zählt der Wäschetrockner nicht zu den größten Stromverbrauchern, wobei sich, je nach Energieeffizienzklasse des Geräts und Nutzerverhalten, die Stromrechnung für das Wäschetrocknen jedoch durchaus auf 150 bis 200 Euro im Jahr addieren kann.

Wie nicht anders zu erwarten, ist dafür weniger der Antrieb für die Edelstahltrommel verantwortlich, die sich während des Trockenprozesses dreht und dabei die Wäsche verwirbelt, sondern die Heizung der Geräte. Sie muss die Hauptarbeit leisten, und zwar um somehr, je größer der Wasseranteil in der Schleuderwäsche ist. Damit verteuern vor allem schwache Schleuderleistungen das Maschinentrocknen: Nach einem 1000/min-Schleudergang stecken in fünf Kilogramm Frottierhandtüchern noch rund 3,5 Liter Wasser – eine ganze Menge. Läuft die Schleuder auf höheren Touren, reduzieren sich der Feuchteanteil und damit der Energiehunger des Trockners deutlich. So vermindert ein Schleudergang mit 1400 Touren den Stromverbrauch beim anschließenden Trocknen um rund 15 Prozent. Und wer es genau wissen will: Um einen Liter Wasser aus der Wäsche zu treiben (bei 23 Grad Raumtemperatur und einer Luftfeuchte von über 50 Prozent), werden exakt 0,97 kWh benötigt.

In Kenntnis dieser Zusammenhänge weisen die Trocknerhersteller stets auf die Wichtigkeit des kraftvollen Schleuderns hin, arbeiten aber weiter daran, den Energieverbrauch ihrer Geräte zu senken. Das wäre gar kein Hexenwerk, würde man nicht die Zusage machen, dass man die getrocknete Wäsche bereits nach zwei Stunden dem Gerät entnehmen könne. Längere Trocknungszeiten, verbunden mit niedrigeren Lufttemperaturen, würden den Strombedarf deutlich reduzieren. Die in Skandinavien weitverbreiteten Trockenkammern arbeiten nach diesem Prinzip. Man hängt die nasse Wäsche auf Kleiderbügeln hinein, ventiliert Luft zu und wartet.

Wer es schneller haben will, der wählt heute in der Regel zwischen einem Abluft- und einem Kondenstrockner, wobei der erstgenannte Typ nur zu betreiben ist, wenn man den zwingend notwendigen Abluftschlauch ins Freie leiten kann. Die energetische Bewertung dieser Geräte fällt schwer, denn sie holen die Prozessluft aus dem Raum und pusten sie nach draußen: Im Sommer wird so kostenlose Sonnenenergie genutzt, während man im Winter teure (Raum-)Heizenergie verbrät. Und ganz wichtig: Die zugefeuerte Energie wird an die Umgebung abgegeben und ist verloren.

Das ist beim Kondenstrockner anders. Hier werden rund 80 Prozent der eingesetzten Heizleistung als Wärme an den Raum abgegeben, so dass diese Geräte wie Heizöfen wirken. Die Aufstellräume müssen entsprechend groß dimensioniert sein. Trotz dieses Vorzugs liegt der Energieverbrauch durchschnittlich etwa 15 Prozent über dem eines Ablufttrockners. Richtig Freude an diesen Trocknern hat nur, wer sich ein gut gekapseltes und damit "luftdichtes" Gerät kauft. Denn nur das schafft es, mehr als 90 Prozent der in der Trommel aufgenommenen Feuchtigkeit zu kondensieren. Ältere und nicht all zu hochwertige Geräte kommen nicht auf diesen Wert. Sie entlassen einen Großteil der Feuchtigkeit zusammen mit der Warmluft in den Raum, was in dieser Kombination besonders an Sommertagen überaus störend sein kann.

Deutlich weniger Energie benötigen die seit wenigen Jahren angebotenen Wärmepumpentrockner, die mittlerweile alle Hersteller (bis auf Whirlpool) im Programm haben. Sie ziehen 40 bis 50 Prozent weniger Strom als Abluft- oder Kondenstrockner, sind dafür in der Anschaffung aber rund 200 Euro teurer als die besten klassischen Modelle. Für den höheren Preis ist jedoch nur zum Teil der größere apparative Aufwand verantwortlich. Entscheidend ist, dass man bei den Bauteilen nicht auf eigens für Wäschetrockner konzipierte Komponenten zurückgreifen kann, sondern sich – etwa beim Kompressor – mit Standardprodukten begnügen muss, die Abstriche bei der Optimierung notwendig machen. Und so funktionieren die Pumptrockner: Der heiße Teil der Wärmepumpe heizt die Zuluft auf, während der kalte Teil der Pumpe die Feuchtigkeit der Abluft kondensiert. Wärme und (Trocken-)Luft können so im Kreislauf geführt werden, was in dieser Kombination den Vorzug dieser Technik ausmacht.

Ähnlich günstige Energiebilanzen wie mit (elektrisch betriebenen) Wärmepumpengeräten lassen sich mit den in Deutschland weitgehend unbekannten Erdgastrocknern erreichen. Während in Nordamerika 20 Prozent aller Geräte ihre Trockenwärme aus einer Gasflamme beziehen, werden hierzulande gerade mal rund 400 Gasgeräte im Jahr verkauft. Und es gibt nur noch einen Anbieter. Nachdem Miele aus dem Markt für gasbetriebene Haushaltstrockner ausgestiegen ist und lediglich noch Gas-Gewerbemaschinen herstellt, können energiebewusste Haushälter zwischen zwei Modellen (zeit- und sensorgesteuert) des englischen Anbieters Crosslee wählen, die über die AG Gastechnik GmbH in Olbernhau vertrieben werden.

Der Grund für das günstige Abschneiden der Gastrockner ist schnell erklärt: Es werden die nicht unerheblichen Wandlungs- und Transportverluste der Stromproduktion vermieden. Der (Primär-) Energieverbrauch und auch der CO2-Ausstoß liegen dadurch um rund 50 Prozent unter denen konventioneller Elektrotrockner. Und das Aufstellen und Anschließen der Geräte sind einfacher als vielfach vermutet, gibt es doch längst Gassteckdosen, die sich so einfach wie Stromdosen bedienen lassen.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.09.2009 Seite T1


 

Trocknen mit Gas und (elektrisch betriebener) Wärmepumpe

Den Markt der Wäschetrockner dominieren die Abluft- und Kondensgeräte. Doch es gibt Alternativen. Vor allem in Nordamerika spielen gasbefeuerte Maschinen eine wichtige Rolle, haben sie doch den Vorteil, direkt auf einen Primärenergieträger zugreifen zu können. Wandlungs- und Transportverluste wie bei der Stromproduktion werden vermieden. Über genormte Gassteckdosen können die Geräte wie konventionelle Trockner "angeschlossen" werden. Energetisch mustergültig arbeiten auch Wärmepumpentrockner: Der heiße Teil der Wärmepumpe (Verflüssiger) heizt die Zuluft auf, während der kalte Teil (Verdampfer) die Feuchtigkeit der Abluft kondensiert. Wärme und (Trocken-) Luft werden im Kreislauf geführt, was den Vorzug dieser Technik ausmacht. (kff.)

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.09.2009 Seite T1

 

Eckensteher der Romantik


 

Zum Tode Willy DeVilles

Von Edo Reents

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Willy deVille 1953 - 2009

07. August 2009 Es mag auch an seinem Äußeren gelegen haben, dass Willy DeVille nicht von allen ernstgenommen wurde. Der zeitlebens strizzihaft-dürre Kerl war dem Dunstkreis des Punk entstiegen und spielte klassisch-modernen Rhythm&Blues. Mit seiner Band Mink DeVille verbreitete er ein Jahrzehnt lang Eckensteherromantik in der Tradtion des Drifters-Soul. Die Platten "Cabretta" (mit den Hits "Spanish Stroll" und "Cadillac Walk") sowie "Return To Magenta" atmeten eine Romantizität, die von dem bisweilen knochenharten Rock nicht etwa erdrückt wurde, sondern erst recht hervortrat.

In einem versierten, aber ständig wechselnden Bandensemble lebte sich Willy De Ville mit einer fast unverschämten Grandezza und Schmierigkeit aus, die seine stimmlichen Leistungen bisweilen in den Hintergrund drängten. Aber niemand kam ihm im weißen Lager gleich, wenn er auf Balladen wie "Guardian Angel" und vor allem "That World Outside" erst Luft holte und dann delikate Seufzer ausstieß. Auch im mittleren Tempo konnte kaum einer bei ihm mithalten. Nicht weniger überzeugend war er schließlich als schnörkelloser, fauchender Rocksänger.

Bis zuletzt bewies Willy DeVille jene Nehmerqualitäten

Und dies alles dank einer Stimme, die aggressiv und schneidend, zärtlich und einschmeichelnd, stolz und klagend sein konnte, aber des Guten nie zu viel tat. Diese Ökonomie, die Weigerung, gesangliches overacting zu betreiben, machte Willy DeVilles Einzigartigkeit aus. Hinzu kam das in seinem Fall absolut glaubwürdige, jede Warnung vor Lächerlichkeit in den Wind schlagende Posieren in Rollen, die man längst überholt glaubte oder die dem Publikum sonst nur noch in ironisch-travestierter Form zugemutet wurde. Willy DeVille war wirklich der schmachtende Liebhaber und Angeber mit hochtoupiertem Haar und Goldzahn.

Unter dem Ausbleiben von Massenakzeptanz litt Willy DeVille auch während seiner Solokarriere, in der er nach schwächerem Start auf den Alben "Loup Garou" (1995) und "A Horse Of A Different Color" (1999) wieder sein altes Format zeigte. Wer das Glück hatte, ihn in jener Zeit auf der Bühne zu erleben, wird einen so großspurigen wie dünnhäutigen, bis in die letzten Nerven hinein angespannten und quasi jederzeit zum Tigersprung bereiten Musiker voller Hingabe und Professionalität in Erinnerung haben.

Der ganz große Erfolg blieb trotzdem aus. Aber bis zuletzt bewies Willy DeVille jene Nehmerqualitäten, die er an seinem Filmvorbild Silvester Stallone immer so bewundert hat. In der Nacht zum vergangenen Freitag ist William Borsay, wie er eigentlich hieß, in einem New Yorker Krankenhaus im Alter von achtundfünfzig Jahren gestorben.

Text: FAZ.NET
Bildmaterial: Michael Kretzer

Ein Fall fürs Katasteramt


 

Das Werk wird mit der Zeit immer geheimnisvoller, das Material aber immer überraschungsärmer, weil man das meiste schon kennt: Neil Youngs "Archives".

Das hat uns noch gefehlt, wir mussten aber auch lange darauf warten: Seit den achtziger Jahren geisterte das Schlagwort "Archiv" durch die Neil-Young-Philologie. Der Meister selbst, so hieß es immer wieder, warte nur noch auf den richtigen Zeitpunkt, es zu öffnen. Dass es einen richtigen Zeitpunkt nie geben würde, wusste Neil Young selbst wohl am besten; denn der nostalgische Aspekt, der mit der Sache unweigerlich verbunden war, würde sich mit seiner Technikfaszination nicht ins Gleichgewicht setzen lassen. Die Dialektik aus Traditionspflege und Neuerungsanspruch bestimmte, ähnlich wie bei Bob Dylan, seine Karriere seit dem kommerziellen Höhepunkt mit dem Album "Harvest" (1972). Young ist, anders als Dylan, jemand, der sich über die technische Qualität seiner Musik viel Gedanken macht (obwohl man das nicht immer hört) – der wohl penibelste Editionsphilologe im Rock, dessen Skrupel die Herausgabe dessen, was in seinem mutmaßlich sehr umfangreichen Archiv lag, immer wieder verzögerten. Man wusste zuletzt gar nicht mehr, ob es überhaupt noch dazu kommen würde oder ob das Ganze nicht doch bloß ein PR-Gag war, der ihn, zusätzlich zu seinen regulären und immer noch höchst regelmäßigen Plattenveröffentlichungen, im Gespräch hielt.

Jetzt, wo "Neil Young Archives Vol. I" vorliegt – zehn DVDs beziehungsweise Blu-ray-Discs und acht CDs –, ist festzuhalten, dass man sich von der Sache mehr versprochen hatte, was natürlich auch daran liegt, dass so viel davon gesprochen wurde und man so lange darauf gewartet hat. Unter den insgesamt 128 Songs finden sich 43 bisher unveröffentlichte; viele davon sind aber solche, die es in anderer und zum Teil besserer Fassung seit langem gibt. Wirklich neue Lieder gibt es also nur wenige, und sie finden sich vor allem auf der ersten DVD/CD zur ganz frühen Karrierephase der Jahre 1963 bis 1965, als Young noch in Kanada war und in der Kapelle The Squires Gitarre spielte, aber wenig sang, weil er seiner Stimme noch nicht recht traute und auf der Bühne gelegentlich sogar ausgelacht wurde.

Von diesen Liedern sind, außer der Urfassung von "Nowadays Clancy Can't Even Sing", das dann auf die erste Buffalo-Springfield-Platte kam, eigentlich nur "Runaround Babe", "The Ballad of Peggy Grover", "The Rent is Always Due" und "Extra Extra" erwähnenswert, weil sie die Originalität, Eigenwilligkeit und die melancholische Schärfe schon spüren lassen, die Neil Young später so auszeichneten. Der zum Teil rein instrumentale Rest zeigt nur, wie sehr die Squires unter dem Einfluss des klassischen Beat, mehr aber noch im übermächtigen Schatten Hank Marvins standen, des damals wie ein Gott verehrten Gitarristen der Shadows.

Aus dieser Zeit gibt es keine Filmaufnahmen; dazu war das Interesse, das Youngs erste richtige Band zu wecken vermochte, zu gering. Das ändert sich mit der Gründung von Buffalo Springfield, der ersten, aber nur kurzlebigen Supergruppe des Countryrock, der außerdem Stephen Stills und Richie Furay angehörten, eine der aufregendsten Livebands von Los Angeles, was etwas heißen will, weil dort zur selben Zeit auch die Doors aufspielten, in deren Nachbarschaft Buffalo Springfield denn auch oft auftauchten. Die in technicolorkompatiblen Farben festgehaltenen Bühnenauftritte wurden ausgelagert auf die DVD mit Youngs erstem Film "Journey Through The Past", der 1973 als Zeugnis eines ersten künstlerischen Innehaltens, einer ersten Selbstbetrachtung ins Kino kam und seither nur selten zu sehen war.

Dort also sehen wir die einander schon in Hassliebe verbundenen Flügelmänner, den Texaner Stills mit Cowboyhut und Young in indianischer Fransenjacke, die Klassiker "For What It's Worth" und "Mr. Soul" zum Besten geben. Im übrigen merkt man hier, dass es damals doch die richtige Entscheidung war, dass Young auch bei seinen eigenen Liedern Furay meistens den Gesang überließ; seine nachmals so fesselnde Stimme hatte sich noch nicht gefunden.

Darüber hinaus bringt der Springfield-Abschnitt 1966 bis 1968 kaum etwas Neues, ebenso wie die DVD/CD zur ersten Solozeit, in der aus der Raupe allerdings ein bunt schillernder Schmetterling wurde, der sich zunächst in dem von Hippies schon stark frequentierten Topanga Canyon nahe Hollywood niedergelassen hatte und später weiter nach Nordkalifornien zog, wo er auf seiner Broken-Arrow-Farm endgültig sesshaft wurde. Die Topanga-Zeit warf wichtiges Material ab, bis einschließlich "After The Gold Rush". Eine Offenbarung ist der mit Crazy Horse eingespielte harte Stomper "Dance Dance Dance", der nie auf Platte kam und nun zeigt, wie unterschätzt Youngs Countryfeeling die ganze Zeit über war. Und ein psychedelisch-surreales Akustik-Epos wie "The Last Trip to Tulsa" vom noch etwas unzureichend produzierten Debüt "Neil Young" oder die Gitarrenduelle seiner damals im Handstreich verpflichteten Begleitband Crazy Horse auf dem harten, staubtrockenen Album "Everybody Knows This Is Nowhere" sind immer wieder imponierend und erregend; aber um archivalische Funde handelt es sich hier nicht.

Unter den drei Livedokumenten war nur Youngs Auftritt vom Februar 1969 im Riverboat in seiner Heimatstadt Toronto bisher unzugänglich; die Konzerte vom März 1970 im New Yorker Fillmore East (krachend, aber für Crazy-Horse-Verhältnisse erstaunlich präzise) und vom Januar 1971 in der Massey Hall in Toronto (solo mit akustischer Gitarre) gibt es schon länger auf Vinyl und CD. Wir kennen also schon den abwechselnd hochempfindlich-gereizten und zugänglich plaudernden, linkisch-scheuen, aber vom Bewusstsein seiner, wie die "New York Times" dann später feststellen sollte, nur noch mit Dylan zu vergleichenden Songschreiber- und Performerqualitäten unverkennbar schon getragenen Künstler. Interessant aber, dass er seinen Standarddank ans Publikum ("Thank you very much, I really appreaciate that"), den er bis heute murmelt und bei dem man sich fragt, ob er nicht doch ironisch gemeint ist, schon sehr früh im Repertoire hatte. Aber nur beim Massey-Hall-Konzert sehen wir auch wirklich Filmaufnahmen, deren Qualität freilich zu wünschen übriglässt: Nicht sehr deutlich, manchmal nur schemenhaft bekommen wir eine faszinierend düstere, hochgewachsene Erscheinung zu sehen, die außer einer akustischen Gitarre oder einem Klavier nichts brauchte und ihrer Ausdruckskraft vollauf vertrauen konnte.

1963 bis 1972: Auch wenn Young sich in dieser Zeit enorm entwickelt hat, so ist in diesem Archivteil der musikalisch homogenste Abschnitt in seiner Karriere enthalten; es gibt noch keinen Bruch. Erst nach dem auf den letzten beiden DVDs/CDs dokumentierten Reifezustand, nach "Harvest", kam etwas wirklich Neues: die sogenannte doom trilogy mit "Time Fades Away", "On The Beach" und "Tonight's The Night". Dass Young mit diesen Alben, die heute mit zu seinen bedeutendsten zählen, das maßgeblich aus "Harvest" resultierende Image eines in goldgelbe Farben getauchten Vollendeten des Folkrock mutwillig zerstörte, muss heute niemanden mehr irritieren; aber dass diese Richtungsänderung durch den Tod zweier Clan-Mitglieder, des Crazy-Horse-Gitarristen Danny Whitten und des Roadies Bruce Berry, mitverursacht wurde – Young leistet mit den Post-"Harvest"-Platten ja auch Trauerarbeit –, erfahren wir nicht mehr und wird wohl auch auf den weiteren drei geplanten Archivteilen, deren Erscheinungstermine noch offen sind, ausgeblendet werden.

Alles andere widerspräche auch Youngs Auffassung, dass zwar die Öffentlichkeit ein Recht darauf hat, einen Künstler in jeder Phase und Form, auch in vermeintlich schlechteren, aus nächster Nähe zu betrachten, alles von ihm zur Kenntnis zu nehmen; dass aber die Musik dabei absolut für sich zu sprechen hat. Nur einmal gewährt er Einblick in seine Kunstauffassung, die sich erstaunlicherweise als religiös erweist: "God respects me when I work, but he loves me when I sing."

So akribisch also diese bereits sehr gewaltige Werkphase aufbereitet ist, so strikt werden biographische Einzelheiten ausgespart, die man ja auch in Form der Interviews, welche Young damals durchaus gegeben hat, hätte mitteilen können. Auf diese Weise wird das geheime Prinzip dieses Archivabschnitts deutlich: Während das Werk als solches mit der Zeit immer tiefer, geheimnisvoller, abgründiger wird, wird das gebotene Material immer überraschungsärmer, weil man das meiste eben schon kennt; nur aus der ganz frühen, musikalisch selbst den Biographen kaum bekannten Zeit gibt es Entdeckungen zu machen, die musikalisch indes nicht allzu hochwertig sind.

Ein Wort zum technischen Aspekt dieser mit dickem multimedialem Anstrich daherkommenden Sammlung: Sie blufft auch. Die Scheiben und das Booklet, die man dem unhandlichen, brettharten Karton umständlich entnimmt, sollen die Musik offensichtlich nach dem Internetprinzip erschließen: Man klickt an, was man gerade sehen oder hören will. Auf den Zeitleisten sind die wichtigsten Daten in einer nicht auf Anhieb einsichtigen Form vermerkt. Man hat Zugang zu den Songtexten mit der markanten, altvertrauten Handschrift, allerdings auch zu altmodischen Hängeregistraturen, als wäre Neil Young ein Fall für das Katasteramt. Das in weiches Kunstleder eingebundene Begleitbuch verdankt seinen Umfang nicht nur den zum Teil rührenden Fotos, sondern auch den ausführlichen diskographischen Angaben zu jedem einzelnen Song.

Was die Musik als solche betrifft, so starren wir die meiste Zeit über auf sich drehende Plattenspieler mit dem Originalvinyl oder Tonbänder; sonst ist, wie gesagt, nicht viel zu sehen. Das am Anfang jeder DVD pompös eingeblendete Logo "Shakey Pictures" (nach Youngs Filmkünstlernamen Bernard Shakey) verspricht mehr, als es halten kann – groß Regie führen musste hier niemand. Sagen wir es so: etwas viel tara, etwas wenig netto. Umso dankbarer ist man für die in der Tat wunderschönen Filmaufnahmen in der Hügellandschaft Kaliforniens, die einen Musiker in seltener Unbefangenheit zeigen, halb Hippie, halb verzogenes Superstarfrüchtchen, wie Karl Bruckmaier ihn einmal nannte.

Als grundsätzliche, auch für andere Werkausgaben mit diesem historisch-kritischen Anspruch geltende Erkenntnis bleibt, dass es in aller Regel schon seine Richtigkeit damit hat, wie die Platten damals erschienen sind. Das Bedauern über einst notgedrungen weggelassenes Material hält sich in Grenzen; und das, was regulär erschien, ließ sich, wie die Alternativfassungen zeigen, in der Regel kaum noch verbessern. Wirklich Neues, das die Sache und den Preis von in diesem Fall 249,99 Euro für die Blu-ray-Discs, 219,99 für die DVDs und 129,99 für die CDs auch lohnt, wird nur wenig zutage gefördert. Der Aufwand, der dazu betrieben wurde, läuft ein wenig ins Leere; man hat den Eindruck, dass die gewaltigen Speicherkapazitäten dieser Medien zu einem Vollständigkeitswahn in der Veröffentlichungspraxis verleiten, der der Musik nicht immer guttut.

Muss man das Archiv also haben? Fanatiker werden hier kaum zögern. Der etwas gelassenere Neil-Young-Freund, der nicht alles wissen muss, ist zufrieden, dass er den Kram nun endlich hat, aber auch ernüchtert.      EDO REENTS


 

Neil Young, Archives 1963–1972. Wahlweise 10 DVDs, 10 Blu-ray-Discs oder 8 CDs. Reprise Records (Warner)

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 08.08.2009 Seite 36

Fernsehgeräte Der Fortschritt steckt in subtilen Technik-Details

Raffinierte neue Lichtquellen und virtuelle Bilder aus Bewegungsprognosen sollen den LCD-Bildschirmen ihre letzten Schwächen austreiben. Die Resultate sind auf den neuen Flachmännern oft deutlich sichtbar – sogar im Elektronik-Supermarkt. Von Wolfgang Tunze

Frank Bolten, Geschäftsführer von Sharp in Deutschland, gestaltete seine Pressekonferenz auf der Internationalen Funkausstellung IFA anno 2009 im Stil eines technischen Proseminars. Der geneigte Teilnehmer erlernte dort Begriffe wie Edge-Lit, Full LED Backlight, RGB-Hinterleuchtung und vieles mehr, und am Ende der Veranstaltung leuchtete selbst den Korrespondenten fachferner Publikationen der Sinn des ungewöhnlichen Vortrags ein: Wie soll man denn sonst erklären, weshalb es flache Fernseher für 1200 und solche für 12 000 Euro gibt – vom offenkundigen Differenzierungskriterium der Mattscheibengröße einmal abgesehen? An anderen Ständen sammelten die IFA-Besucher in Berlin gleich noch etliche weitere Technik-Formeln ein. Die Größe 200 Hertz etwa tat sich allenthalben als das populärste Gütesignal der Saison hervor.

Steckt hinter all diesen Begriffen mehr als nur Marketing-Geklingel? Und wenn ja: Was bedeuten sie im Detail – und wie viel Entscheidungshilfe bieten sie beim Kauf? Das Stichwort LED signalisiert einen Großtrend der Bildschirmtechnik: Statt spaghettidünner Leuchtstoffröhren – Fachleute nennen sie Kaltkathodenröhren – setzen die Hersteller in den höherwertigen Geräteklassen immer häufiger Leuchtdioden (LED) als Lichtquellen ein. Dass Bildschirme überhaupt solcher Strahler bedürfen, liegt an den Besonderheiten der LCD-Technik, die auf der Lichtventil-Funktion von Flüssigkristallen beruht: Flache Scheiben der Gattung LCD leuchten nicht selbst. Einem Dia ähnlich, brauchen sie zierliche Lampen, die sie von hinten durchleuchten und erst so brillante Bildeindrücke ermöglichen.

LED-Leuchtzellen helfen sogar, Umweltlasten zu verringern

Samsung hat seine Begeisterung für LED-Hinterleuchtungen gleich in einen neuen Terminus umgemünzt: LED-Fernseher nennt der Hersteller entsprechend ausgestattete Geräte seines Hauses fortan. Der als Signal für Innovationsfreude gedachte Begriff irritiert allerdings eher: Natürlich zählen auch diese Modelle zur Familie der LCD-Fernseher. Und ob König Kunde den LED-Lichtquellen am Ende wirklich fortschrittliche Aspekte abgewinnen kann, hängt ganz von der konkreten Art ihres Einsatzes ab. Ökowerbebotschaften sagen dem LED-Trend gern umweltfreundliche Nebenwirkungen nach. Tatsächlich enthalten Kaltkathodenröhren Quecksilber, das der Biosphäre erspart bleibt, wenn LEDs künftig die Mattscheibe erhellen. Aber da wir von sofort an, ebenfalls aus Ökogründen, immer mehr quecksilberhaltige Stromsparglühbirnen in unsere Lampen schrauben müssen, vermag uns dieses Argument nicht recht zu entzücken.

LEDs können aber helfen, Energie zu sparen und gleichzeitig die Bildqualität zu erhöhen, und zwar mit einem Local Dimming genannten Kunstgriff: Konventionelle Hinterleuchtungen strahlen stets mit voller Leistung; gibt das Motiv dunkle Passagen vor, müssen die LCD-Zellen dem Licht so gut wie möglich den Weg versperren. Das gelingt ihnen allerdings, eine Schwäche des Prinzips, stets nur annähernd. Folglich schaffen LCD-Schirme von Haus aus keine perfekten Schwarzwerte, der Kontrast bleibt begrenzt. Übernimmt ein Feld aus LED-Zellen die Leuchtaufgaben, kann die Elektronik überall dort die Lichtleistung herunterregeln, in denen der Bildinhalt Dunkelheit verlangt. Das vertieft den Kontrast deutlich und senkt die Stromrechnung spürbar.

Die Verwirklichung solcher Lösungen ist freilich kniffliger, als sich die grobe Funktionsbeschreibung anhört. Geräte mittlerer Preisklassen können das Hinterleuchtungsraster nicht annähernd so fein gestalten wie die LCD-Schirme Bildpunkte differenzieren. Typische vollflächige LED-Hinterleuchtungen setzen sich aus etwa 100 bis 200 Lichtsegmenten zusammen. Daraus erwächst das Risiko, dass sich die Grenzen der viereckigen Lichtzonen im Fernsehbild abzeichnen. Davor sollen Diffusorscheiben schützen, die zwischen LED-Hinterleuchtung und LCD-Panel sitzen. Sie verwischen die Grenzen der Segmente, und zusätzlich helfen elektronische Signalkorrekturen, das Bild an die nun eher wolkige Lichtverteilung anzupassen. Ob die Lichtzonen dennoch sichtbar werden, offenbart ein simpler Test im Elektronik-Supermarkt: Laufen die Fernseher der engeren Wahl mit voll aufgedrehtem Kontrast und großer Helligkeit, und liefert das Programm überdies noch kontrastreiche Szenen, trennt sich die Spreu vom Weizen.

Es gibt aber auch noch weit anspruchsvollere Arten, das Local-Dimming-Prinzip zu perfektionieren. So rüstet Sharp sein Flaggschiff-Modell LC-XS1E (Bildschirmdiagonale: stolze 165 Zentimeter) mit einer LED-Hinterleuchtung aus, die sich aus 1568 Lichtsegmenten zusammensetzt und damit einen Weltrekord markiert. Außerdem spendiert der Hersteller diesem Boliden statt der einfachen weißen LEDs Gruppen aus roten, grünen und blauen Exemplaren; Sony und Samsung gönnen ihren Spitzenmodellen ebenfalls das Mischlicht aus den drei Grundfarben, Fachkürzel: RGB. Der Vorteil: Diese Lichtquellen decken einen größeren Farbraum ab, können also sichtbar dazu beitragen, die Motive mit feineren, natürlicher wirkenden Farbnuancen auf die Bildfläche zu bringen. Allerdings ist diese Art von Fernsehspaß noch sündhaft teuer: Sharp will für sein Renommierstück rund 12 000 Euro; auch diese Größe liegt auf Rekordniveau.

LED-Hinterleuchtungen haben noch eine andere interessante Eigenschaft: Gruppieren sie sich nur am Rand des Bildschirms und verteilen ihr Licht mit Hilfe einer speziellen Folie, so helfen sie, Bautiefe zu sparen. Folglich gibt es immer mehr elegante Bildschirme, die kaum noch dicker sind als ein Zeigefinger. Der Nachteil dieser Edge-Lit genannten Seitenbestrahlung: Local Dimming funktioniert höchstens rudimentär, und die Helligkeit größerer Bildschirme nimmt zur Mitte hin ab. Für Geräte, die solche Risiken dank vollflächiger Hinterleuchtung umgehen, haben Marketing-Linguisten deshalb schon den Begriff Full LED Backlight erfunden.

Schnellere Einzelbild-Folgen sorgen für schärfere Konturen

Das andere große Technik-Thema der Fernsehsaison hat mit der scharfen Darstellung von Bewegungen zu tun. LCD-Fernseher neigen dazu, schnell bewegte Bilddetails zu verwischen – nicht etwa, weil sie zu träge wären, auf flinke Veränderungen des Bildinhalts zu reagieren. Diese ursprünglich LCD-typische Schwäche haben die Bildschirme heute weitgehend überwunden. Das Problem entsteht so: LCD-Fernseher lassen jedes Einzelbild so lange stehen, bis der Sender das nächste liefert. Unsere Wahrnehmung verarbeitet Ruhephase und abrupten Wechsel zu einem Glissando mit verwischten Konturen. Ein probates Mittel gegen diesen Effekt besteht darin, die Anzahl der Einzelbilder in jeder Sekunde zu erhöhen. Der Kunstgriff ist eigentlich alt: Schon Röhrengeräte verdoppelten die 50 vom Sender stammenden Bilder je Sekunde, also die Bildfrequenz von 50 Hertz, auf 100 Hertz. In der Analog-Ära ging es allerdings darum, das Flimmern heller Bildpartien in den Griff zu bekommen. 100-Hertz-Technik zählt heute auch zur Ausstattung der meisten größeren Flachbild-Fernseher, und ihr bildschärfender Einfluss ist nicht zu übersehen.

Schon im vorigen Jahr setzte Sony als erster Hersteller noch eins drauf, mit der Vervierfachung der Bildfrequenz auf 200 Hertz. Konkret: Zwischen jeweils zwei vom Sender gelieferte Einzelbilder fügt die Fernseher-Elektronik drei weitere, komplett neu errechnete ein. Wie gut diese Maßnahme wirkt, hängt ganz davon ab, wie präzise es der Elektronik gelingt, die Bewegungsrichtungen im Bild vorherzusagen und so den virtuellen Zwischenbildern bis in die kleinsten Details hinein möglichst fehlerfreie Konturen zu verpassen. Sony hat seine 200-Hertz-Elektronik übrigens, das sei als patriotische Fußnote gestattet, nicht im fernen Tokio, sondern in seinem Stuttgarter Forschungslabor entwickelt, und von da aus machte das Beispiel Schule: Zur IFA gab es schon mehr als 30 verschiedene 200-Hertz-Modelle aller großen Hersteller. Allerdings: Nicht überall, wo 200 Hertz draufsteht, sind auch wirklich 200 vollständige Bilder in jeder Sekunde drin. Toshiba und LG etwa wenden in einigen Modellen einen Kunstgriff an, der durchaus brauchbare Resultate zeitigt: Dunkelphasen zwischen den Einzelbildern, auf wechselnde horizontale Teilbereiche des Bildschirms verteilt, sparen Rechenleistung, sprich Kosten, und helfen unseren Sinnen ebenfalls, konturenscharfe Bewegtbilder zu sehen. Allerdings verringert diese Scanning Backlight genannte Lösung die Bildhelligkeit.

Insgesamt gilt: Der Unterschied zwischen der Original-Bildfolge von 50 Hertz und errechneten 100 Hertz ist deutlich sichtbar. Die Differenzen zwischen 100 und 200 Hertz dagegen fallen subtiler aus; gute 100-Hertz-Geräte können manchmal sogar klarere Bilder produzieren als weniger gute 200-Hertz-Versionen. Am besten lässt sich die Wirkung der wundersamen Bildvermehrung mit Test-DVDs (etwa von Burosch, www.burosch.de) ermitteln, die Laufschriften auf die Mattscheibe bringen. Gute Geräte zeigen den Text klar und ohne Doppelkonturen.

Und noch etwas lässt sich als Fazit festhalten: LCD-Fernseher mit noch höheren Bildfrequenzen sind kaum zu erwarten. Sie bringen keine subjektiven Verbesserungen mehr – und sie würden auch das Reaktionsvermögen der LCD-Schirme überfordern. Denn ein bisschen träge ist diese Gattung der Flachmänner immer noch, aber solange sie damit nicht die Trägheit unserer biologischen Bildverarbeitung überbietet, sei es ihr gestattet.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 06.10.2009 Seite T1