Sonntag, 13. Dezember 2009

Ein Fall fürs Katasteramt


 

Das Werk wird mit der Zeit immer geheimnisvoller, das Material aber immer überraschungsärmer, weil man das meiste schon kennt: Neil Youngs "Archives".

Das hat uns noch gefehlt, wir mussten aber auch lange darauf warten: Seit den achtziger Jahren geisterte das Schlagwort "Archiv" durch die Neil-Young-Philologie. Der Meister selbst, so hieß es immer wieder, warte nur noch auf den richtigen Zeitpunkt, es zu öffnen. Dass es einen richtigen Zeitpunkt nie geben würde, wusste Neil Young selbst wohl am besten; denn der nostalgische Aspekt, der mit der Sache unweigerlich verbunden war, würde sich mit seiner Technikfaszination nicht ins Gleichgewicht setzen lassen. Die Dialektik aus Traditionspflege und Neuerungsanspruch bestimmte, ähnlich wie bei Bob Dylan, seine Karriere seit dem kommerziellen Höhepunkt mit dem Album "Harvest" (1972). Young ist, anders als Dylan, jemand, der sich über die technische Qualität seiner Musik viel Gedanken macht (obwohl man das nicht immer hört) – der wohl penibelste Editionsphilologe im Rock, dessen Skrupel die Herausgabe dessen, was in seinem mutmaßlich sehr umfangreichen Archiv lag, immer wieder verzögerten. Man wusste zuletzt gar nicht mehr, ob es überhaupt noch dazu kommen würde oder ob das Ganze nicht doch bloß ein PR-Gag war, der ihn, zusätzlich zu seinen regulären und immer noch höchst regelmäßigen Plattenveröffentlichungen, im Gespräch hielt.

Jetzt, wo "Neil Young Archives Vol. I" vorliegt – zehn DVDs beziehungsweise Blu-ray-Discs und acht CDs –, ist festzuhalten, dass man sich von der Sache mehr versprochen hatte, was natürlich auch daran liegt, dass so viel davon gesprochen wurde und man so lange darauf gewartet hat. Unter den insgesamt 128 Songs finden sich 43 bisher unveröffentlichte; viele davon sind aber solche, die es in anderer und zum Teil besserer Fassung seit langem gibt. Wirklich neue Lieder gibt es also nur wenige, und sie finden sich vor allem auf der ersten DVD/CD zur ganz frühen Karrierephase der Jahre 1963 bis 1965, als Young noch in Kanada war und in der Kapelle The Squires Gitarre spielte, aber wenig sang, weil er seiner Stimme noch nicht recht traute und auf der Bühne gelegentlich sogar ausgelacht wurde.

Von diesen Liedern sind, außer der Urfassung von "Nowadays Clancy Can't Even Sing", das dann auf die erste Buffalo-Springfield-Platte kam, eigentlich nur "Runaround Babe", "The Ballad of Peggy Grover", "The Rent is Always Due" und "Extra Extra" erwähnenswert, weil sie die Originalität, Eigenwilligkeit und die melancholische Schärfe schon spüren lassen, die Neil Young später so auszeichneten. Der zum Teil rein instrumentale Rest zeigt nur, wie sehr die Squires unter dem Einfluss des klassischen Beat, mehr aber noch im übermächtigen Schatten Hank Marvins standen, des damals wie ein Gott verehrten Gitarristen der Shadows.

Aus dieser Zeit gibt es keine Filmaufnahmen; dazu war das Interesse, das Youngs erste richtige Band zu wecken vermochte, zu gering. Das ändert sich mit der Gründung von Buffalo Springfield, der ersten, aber nur kurzlebigen Supergruppe des Countryrock, der außerdem Stephen Stills und Richie Furay angehörten, eine der aufregendsten Livebands von Los Angeles, was etwas heißen will, weil dort zur selben Zeit auch die Doors aufspielten, in deren Nachbarschaft Buffalo Springfield denn auch oft auftauchten. Die in technicolorkompatiblen Farben festgehaltenen Bühnenauftritte wurden ausgelagert auf die DVD mit Youngs erstem Film "Journey Through The Past", der 1973 als Zeugnis eines ersten künstlerischen Innehaltens, einer ersten Selbstbetrachtung ins Kino kam und seither nur selten zu sehen war.

Dort also sehen wir die einander schon in Hassliebe verbundenen Flügelmänner, den Texaner Stills mit Cowboyhut und Young in indianischer Fransenjacke, die Klassiker "For What It's Worth" und "Mr. Soul" zum Besten geben. Im übrigen merkt man hier, dass es damals doch die richtige Entscheidung war, dass Young auch bei seinen eigenen Liedern Furay meistens den Gesang überließ; seine nachmals so fesselnde Stimme hatte sich noch nicht gefunden.

Darüber hinaus bringt der Springfield-Abschnitt 1966 bis 1968 kaum etwas Neues, ebenso wie die DVD/CD zur ersten Solozeit, in der aus der Raupe allerdings ein bunt schillernder Schmetterling wurde, der sich zunächst in dem von Hippies schon stark frequentierten Topanga Canyon nahe Hollywood niedergelassen hatte und später weiter nach Nordkalifornien zog, wo er auf seiner Broken-Arrow-Farm endgültig sesshaft wurde. Die Topanga-Zeit warf wichtiges Material ab, bis einschließlich "After The Gold Rush". Eine Offenbarung ist der mit Crazy Horse eingespielte harte Stomper "Dance Dance Dance", der nie auf Platte kam und nun zeigt, wie unterschätzt Youngs Countryfeeling die ganze Zeit über war. Und ein psychedelisch-surreales Akustik-Epos wie "The Last Trip to Tulsa" vom noch etwas unzureichend produzierten Debüt "Neil Young" oder die Gitarrenduelle seiner damals im Handstreich verpflichteten Begleitband Crazy Horse auf dem harten, staubtrockenen Album "Everybody Knows This Is Nowhere" sind immer wieder imponierend und erregend; aber um archivalische Funde handelt es sich hier nicht.

Unter den drei Livedokumenten war nur Youngs Auftritt vom Februar 1969 im Riverboat in seiner Heimatstadt Toronto bisher unzugänglich; die Konzerte vom März 1970 im New Yorker Fillmore East (krachend, aber für Crazy-Horse-Verhältnisse erstaunlich präzise) und vom Januar 1971 in der Massey Hall in Toronto (solo mit akustischer Gitarre) gibt es schon länger auf Vinyl und CD. Wir kennen also schon den abwechselnd hochempfindlich-gereizten und zugänglich plaudernden, linkisch-scheuen, aber vom Bewusstsein seiner, wie die "New York Times" dann später feststellen sollte, nur noch mit Dylan zu vergleichenden Songschreiber- und Performerqualitäten unverkennbar schon getragenen Künstler. Interessant aber, dass er seinen Standarddank ans Publikum ("Thank you very much, I really appreaciate that"), den er bis heute murmelt und bei dem man sich fragt, ob er nicht doch ironisch gemeint ist, schon sehr früh im Repertoire hatte. Aber nur beim Massey-Hall-Konzert sehen wir auch wirklich Filmaufnahmen, deren Qualität freilich zu wünschen übriglässt: Nicht sehr deutlich, manchmal nur schemenhaft bekommen wir eine faszinierend düstere, hochgewachsene Erscheinung zu sehen, die außer einer akustischen Gitarre oder einem Klavier nichts brauchte und ihrer Ausdruckskraft vollauf vertrauen konnte.

1963 bis 1972: Auch wenn Young sich in dieser Zeit enorm entwickelt hat, so ist in diesem Archivteil der musikalisch homogenste Abschnitt in seiner Karriere enthalten; es gibt noch keinen Bruch. Erst nach dem auf den letzten beiden DVDs/CDs dokumentierten Reifezustand, nach "Harvest", kam etwas wirklich Neues: die sogenannte doom trilogy mit "Time Fades Away", "On The Beach" und "Tonight's The Night". Dass Young mit diesen Alben, die heute mit zu seinen bedeutendsten zählen, das maßgeblich aus "Harvest" resultierende Image eines in goldgelbe Farben getauchten Vollendeten des Folkrock mutwillig zerstörte, muss heute niemanden mehr irritieren; aber dass diese Richtungsänderung durch den Tod zweier Clan-Mitglieder, des Crazy-Horse-Gitarristen Danny Whitten und des Roadies Bruce Berry, mitverursacht wurde – Young leistet mit den Post-"Harvest"-Platten ja auch Trauerarbeit –, erfahren wir nicht mehr und wird wohl auch auf den weiteren drei geplanten Archivteilen, deren Erscheinungstermine noch offen sind, ausgeblendet werden.

Alles andere widerspräche auch Youngs Auffassung, dass zwar die Öffentlichkeit ein Recht darauf hat, einen Künstler in jeder Phase und Form, auch in vermeintlich schlechteren, aus nächster Nähe zu betrachten, alles von ihm zur Kenntnis zu nehmen; dass aber die Musik dabei absolut für sich zu sprechen hat. Nur einmal gewährt er Einblick in seine Kunstauffassung, die sich erstaunlicherweise als religiös erweist: "God respects me when I work, but he loves me when I sing."

So akribisch also diese bereits sehr gewaltige Werkphase aufbereitet ist, so strikt werden biographische Einzelheiten ausgespart, die man ja auch in Form der Interviews, welche Young damals durchaus gegeben hat, hätte mitteilen können. Auf diese Weise wird das geheime Prinzip dieses Archivabschnitts deutlich: Während das Werk als solches mit der Zeit immer tiefer, geheimnisvoller, abgründiger wird, wird das gebotene Material immer überraschungsärmer, weil man das meiste eben schon kennt; nur aus der ganz frühen, musikalisch selbst den Biographen kaum bekannten Zeit gibt es Entdeckungen zu machen, die musikalisch indes nicht allzu hochwertig sind.

Ein Wort zum technischen Aspekt dieser mit dickem multimedialem Anstrich daherkommenden Sammlung: Sie blufft auch. Die Scheiben und das Booklet, die man dem unhandlichen, brettharten Karton umständlich entnimmt, sollen die Musik offensichtlich nach dem Internetprinzip erschließen: Man klickt an, was man gerade sehen oder hören will. Auf den Zeitleisten sind die wichtigsten Daten in einer nicht auf Anhieb einsichtigen Form vermerkt. Man hat Zugang zu den Songtexten mit der markanten, altvertrauten Handschrift, allerdings auch zu altmodischen Hängeregistraturen, als wäre Neil Young ein Fall für das Katasteramt. Das in weiches Kunstleder eingebundene Begleitbuch verdankt seinen Umfang nicht nur den zum Teil rührenden Fotos, sondern auch den ausführlichen diskographischen Angaben zu jedem einzelnen Song.

Was die Musik als solche betrifft, so starren wir die meiste Zeit über auf sich drehende Plattenspieler mit dem Originalvinyl oder Tonbänder; sonst ist, wie gesagt, nicht viel zu sehen. Das am Anfang jeder DVD pompös eingeblendete Logo "Shakey Pictures" (nach Youngs Filmkünstlernamen Bernard Shakey) verspricht mehr, als es halten kann – groß Regie führen musste hier niemand. Sagen wir es so: etwas viel tara, etwas wenig netto. Umso dankbarer ist man für die in der Tat wunderschönen Filmaufnahmen in der Hügellandschaft Kaliforniens, die einen Musiker in seltener Unbefangenheit zeigen, halb Hippie, halb verzogenes Superstarfrüchtchen, wie Karl Bruckmaier ihn einmal nannte.

Als grundsätzliche, auch für andere Werkausgaben mit diesem historisch-kritischen Anspruch geltende Erkenntnis bleibt, dass es in aller Regel schon seine Richtigkeit damit hat, wie die Platten damals erschienen sind. Das Bedauern über einst notgedrungen weggelassenes Material hält sich in Grenzen; und das, was regulär erschien, ließ sich, wie die Alternativfassungen zeigen, in der Regel kaum noch verbessern. Wirklich Neues, das die Sache und den Preis von in diesem Fall 249,99 Euro für die Blu-ray-Discs, 219,99 für die DVDs und 129,99 für die CDs auch lohnt, wird nur wenig zutage gefördert. Der Aufwand, der dazu betrieben wurde, läuft ein wenig ins Leere; man hat den Eindruck, dass die gewaltigen Speicherkapazitäten dieser Medien zu einem Vollständigkeitswahn in der Veröffentlichungspraxis verleiten, der der Musik nicht immer guttut.

Muss man das Archiv also haben? Fanatiker werden hier kaum zögern. Der etwas gelassenere Neil-Young-Freund, der nicht alles wissen muss, ist zufrieden, dass er den Kram nun endlich hat, aber auch ernüchtert.      EDO REENTS


 

Neil Young, Archives 1963–1972. Wahlweise 10 DVDs, 10 Blu-ray-Discs oder 8 CDs. Reprise Records (Warner)

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 08.08.2009 Seite 36