Anhänger der "klassischen" Familie propagieren die Vorteile häuslicher Erziehung / Von Uta Rasche
BERLIN, im Juli
Die Befürworter eines "klassischen" Familienbildes haben es derzeit schwer. Seit sich die Familienpolitik der CDU von der der SPD kaum mehr unterscheidet, gilt als hoffnungslos altmodisch, wer behauptet, Familie sei da, wo "Mutter, Vater und Kinder zusammenleben", und nicht nur da, "wo Kinder sind". Das "Institut für Demographie, Allgemeinwohl und Familie e.V." (IDAF), eine seit vier Jahren bestehende Organisation für den Schutz der – klassischen – Familie, tut dies trotzdem. Den familienpolitischen Entscheidungen der großen Koalition in dieser Legislaturperiode, die dem Wunsch vieler junger Frauen nach einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf wie auch Erfordernissen der Wirtschaft und der erodierenden Sozialsysteme entsprechen, hält sie die Frage nach dem Wohl des Kindes entgegen.
Die Auswirkungen früher Fremdbetreuung, die Bedeutung einer sensiblen Interaktion mit den Eltern für die Entwicklung des kindlichen Gehirns – über diese Themen wollte das IDAF mit Bundestagsabgeordneten kürzlich während eines Symposions diskutieren. Von 350 angeschriebenen Parlamentariern schickten zwei eine Absage, die anderen antworteten nicht. Die angefragten Bundesminister für Familie und Wirtschaft schickten nicht einmal Grußworte. Dank einer treuen Anhängerschaft und großzügiger Spender fand die Tagung dennoch statt. Zu den Geldgebern zählten die Schweizer "Stiftung Humanum" um den Trierer Dominikanerpater Wolfgang Ockenfels, der "Deutsche Familienverband" (früher: Bund der Kinderreichen), eine Steuerberatungsgesellschaft, die Berliner Rennbahn "Hoppegarten", der Nordrhein-Westfälische Handwerkstag und andere.
Mit der rot-grünen Bundesregierung haben ökonomische und demographische Argumente in die Familienpolitik Einzug gehalten. Neuerdings bedient sich auch das IDAF wirtschaftlicher Argumente: Deutschland als rohstoffarmes Land brauche die besten Köpfe, seine Leistungsfähigkeit hänge ab von der Innovationskraft künftiger Eliten. Nur Kinder mit einer engen Bindung an die Eltern in den ersten Lebensjahren, so die These, die der IDAF-Geschäftsführer Jürgen Liminski zur Grundlage des Symposions machte, seien später fähig zu exzellenten Leistungen. Bindung gehe der Bildung voraus, sie sei die Grundlage für Ausdauer, Empathie, Verantwortungsgefühl und Sozialkompetenz. Der Nachweis jedoch, dass Kinder, die überwiegend zu Hause betreut worden seien , als Erwachsene innovativer und kreativer seien als andere, ist bisher nicht seriös zu führen. Studien über den Berufserfolg von Kindern, die als Ein- oder Zweijährige bereits im Kindergarten waren, gibt es noch nicht. Eine Bertelsmann-Studie bescheinigte diesen Kindern eine etwas größere Wahrscheinlichkeit des Übertritts auf ein Gymnasium – was aber auch an der meist akademischen Bildung ihrer Eltern liegen kann. Die amerikanische NICHD-Studie (National Investigation on Children Health and Development) stellte eine leicht erhöhte Aggressivität von früheren Krippenkindern während der Vorpubertät fest. Die anfangs festzustellenden kognitiven und sprachlichen Vorteile seien nach einigen Jahren von den familienbetreuten Kindern aufgeholt worden.
Ungeachtet dieser Meinungsverschiedenheiten um den Weg zum "erfolgreicheren" Kind machte der Hannoveraner Kinderpsychologe Wolfgang Bergmann deutlich, wie wichtig für das Kleinkind der feinfühlige Umgang der Eltern mit ihm sei: "Das Kind will den Eltern etwas bedeuten, es lockt sie, es will sich in ihnen spiegeln. Denn es spürt: Ich bin der, als der ich angeschaut werde." Identität und Selbstsicherheit entstünden aus der engen Bindung an die Mutter. Doch jedes Baby müsse lernen, dass die enge Symbiose mit der Mutter, die es gewohnt gewesen sei, vorbei sei: "Selbst die liebevollste Mutter kommt für das weinende Kind immer ein bisschen zu spät." Er verzichtete darauf, im Glaubenskrieg der Krippengegner und Krippenbefürworter eindeutig Stellung zu beziehen. Doch er wies darauf hin, dass Bindungsstörungen in der frühen Kindheit die Entstehung von ADHS bei Jungen und Autoaggression bei Mädchen begünstigen könnten.
Stuart Shanker, Sprachtheoretiker an der York University in Toronto, berichtete von einer kanadischen Studie, nach der 53 Prozent der Erstklässler Verhaltensprobleme, Entwicklungsstörungen oder seelische Belastungen aufweisen. Die kanadische Regierung bat ihn und den Washingtoner Kinderpsychiater Stanley Greenspan um Präventionsempfehlungen. Die beiden hatten zuvor die Bedeutung der elterlichen Zuwendung für die Gehirnentwicklung erforscht: Der emotionale Austausch zwischen Mutter und Baby forme das Gehirn; erwiderte Gefühle bildeten die Voraussetzungen menschlichen Denkens, förderten Sprache und Intelligenz. Überlieferte Fürsorgepraktiken dürften sich daher nicht zum Negativen verändern, mahnte Shanker in dem Bericht an die Regierung. Durch die Interaktion mit den Eltern lerne das Kind Selbstregulation. Erst sie ermögliche es ihm, sich zu konzentrieren, eine Enttäuschung zu überwinden, durchzuhalten.
Über die geringeren schulischen und universitären Leistungen von Kindern, die in Kibbuzim überwiegend kollektiv erzogen wurden, berichtete anhand von Studien die israelische Psychotherapeutin Carmelite Avraham-Krehwinkel. Der amerikanische Psychologe Patrick Fagan, Senior Fellow am Family Research Center in Washington, lobte die Erfolge der wachsenden Homeschool-Bewegung in den Vereinigten Staaten: Zu Hause unterrichtete Kinder erreichten bei den College-Aufnahmeprüfungen überdurchschnittliche Ergebnisse. Zugleich zeichneten sie sich durch Selbstvertrauen und eine disziplinierte Arbeitshaltung aus, seien kommunikativ und teamfähig. Dass Homeschooling hierzulande verboten ist, hat gleichwohl gute Gründe. In Deutschland ist die Schulpflicht eine Errungenschaft der Reformation. Die Homeschooling-Befürworter, die auf der Tagung ebenfalls vertreten waren, denken zumeist nicht darüber nach, dass auch fromme Muslime ihre Töchter gern aus der Schule nähmen – um sie den Blicken der Mitschüler und liberalen Einflüssen zu entziehen. Im Sinne einer umfassenden Integrationspolitik ist das nicht. Den Impuls des IDAF, um der angeblich besseren Bildungsgrundlagen willen Kinder mehr Zeit innerhalb ihrer Familien verbringen zu lassen, nahmen die anwesenden Wirtschaftsrepräsentanten nur verhalten auf. Klaus Kinkel, Vorsitzender der Telekom-Stiftung, plädierte aufgrund der Bildungsarmut in manchen Familien im Gegenteil sogar für mehr Ganztagskindergärten und Ganztagsschulen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15.07.2009 Seite 10