Sonntag, 26. Juli 2009

Was heißt: Dialog der Religionen?

Von Karl Kardinal Lehmann

Auch wenn es eine besondere Sorge der Religionen um den Erhalt der Schöpfung, um Frieden unter den Völkern, um Recht und Gerechtigkeit gibt, wäre es eine Verkürzung, wenn der Dialog so konzipiert würde, dass er die religiösen Fragen ausklammert und nur politisch und sozial relevante oder nur ethisch orientierte Themen in Angriff nimmt. Dialog ist auf das Finden und das Anerkennen von Wahrheit ausgerichtet.

Der Begriff Religion kann irritieren. Er kann leicht vortäuschen, man könne die oft verwirrende und widersprüchliche Vielfalt der Religionen gleichsam in einer Definition ausreichend zusammenfassen. Ursprünglich bezog sich der Begriff Religion auf den Vollzug religiöser Überzeugungen, auf eine bestimmte Praxis und auch auf die Sorge um die Bewahrung des überkommenen Glaubens. In der Neuzeit wurde der Religionsbegriff erheblich ausgeweitet und dadurch immer abstrakter und universaler – selbst Aberglauben und Satanskulte zählten als Religion. Dadurch wurde der Religionsbegriff immer inhaltsleerer und weniger brauchbar für die Beschreibung der gelebten Religion.

In gewisser Weise ist dieser Prozess freilich unvermeidlich, wenn man überhaupt Wert legt auf eine minimale Erfassung der Einheit religiöser Überzeugungen mitten in der Vielfalt der religiösen Vollzüge. So hat der Vorschlag, auf den Religionsbegriff ganz zu verzichten, schon aus wissenschaftsorganisatorischen Gründen keine Akzeptanz gefunden. Gewiss ist das Moment der Orientierung zur Bestimmung von Religion in dem Sinne festzuhalten, dass Religion zur Führung des eigenen Lebens, besonders in den Widersprüchen der Lebensverhältnisse und in den Schicksalsschlägen der menschlichen Existenz, zur Bewältigung dieser Situationen beitragen will, und zwar in allen Dimensionen des Menschen (Geist, Seele, Leib).

Freilich sucht der Mensch gerade in Grenzsituationen eine Antwort, die ihm "von außen" hilft. Religion soll einen Sinn gewähren, wo sonst nur noch Elend, Chaos und Verzweiflung herrschen würden. Die Instanz, die hier hilfreich sein kann und soll, gerät manchmal in die Nähe von Magie, die Macht gewinnt über die widrigen Umstände. Sie wird aber auch in einigen Religionen bezeichnet mit dem "Absoluten", mit dem "Heiligen", mit dem "Göttlichen" oder eben auch mit dem vieldeutigen Wort "Gott". Das Wort Transzendenz, das unter Umständen in Stufen über das empirisch Erfahrbare hinausreicht, beschreibt diesen Prozess.

Ein zureichender Begriff von Religion muss auch die Rituale und die Mythen einbeziehen. Gerade in ihnen zeigt sich einerseits, dass die Religion vor allem über die Symbole zur Primärwelt des Menschen gehört, dass sich anderseits aber in ihnen etwas zeigt, was sich nicht in diesen begrenzten vergänglichen Gestalten erschöpft. Mircea Eliade hat dafür den Leitbegriff der Hierophanie geprägt: Das Unendliche, Ewige und Göttliche bekundet sich und zeigt sich im Umkreis von Natur, Geschichte und Kultur. Dafür gibt es auch in der religionswissenschaftlichen Erhellung des Phänomens die Begriffe der Epiphanie oder der Erleuchtung. Schließlich entsteht an dieser Stelle das Wortfeld der Offenbarung. Dabei gibt es zugleich eine Einheit und eine Differenz: In dem Begegnenden erscheint das Heilige, wobei bei aller Differenz beides zur Erfahrung kommt.

Diese unleugbar große Variabilität des Phänomens Religion kann zu einer doppelten Verhaltensweise führen. Man schließt sich ganz in die eigene Identität ein und interessiert sich sehr wenig für das Verhältnis zu anderen Religionen. Wenn es überhaupt eine Relation gibt, so meist Verwerfung. Damit verbindet sich leicht die Gefahr eines selbstgenügsamen Fundamentalismus und möglicherweise auch eines Fanatismus. Das Ergebnis ist oft ein sehr militantes Verhältnis zu anderen Religionen. Es kann aber auch sein, dass man auf der anderen Seite die Vielfalt so interpretiert, dass die Vielheit der Religionen als Brechung erscheint, die die verschiedenen gesellschaftlichen, historischen und kulturellen Bedingtheiten jeder Religion spiegelt. Deswegen ist die Vielfalt oft relativ gleichgültig im Sinne einer Indifferenz, die nicht mehr näher beachtet wird. Eine solche Mentalität kann viele Arten des Verhaltens ausbilden, angefangen von grundlegendem Desinteresse an anderen Religionen bis zu grenzenloser Toleranz allen religiösen Ausdrucksformen gegenüber. Je differenzierter das Spektrum von Religion und Religiosität erfasst wird, umso mehr droht die Gefahr solcher grundsätzlicher Haltungen.

Diese Gefahr ist nicht eine theoretische. Die Mobilität unserer Welt führt dazu, dass man das Andere und Fremde unwillkürlich wahrnehmen muss, weil es uns ziemlich nahe auf den Leib rückt. Man kann heute fremden Religionen weniger ausweichen. Dies steigert sich noch, wenn man auf die Globalisierung blickt, die in den Augen nicht weniger eine neue, letztlich unfriedliche Epoche der Religionsgeschichte eröffnet. Hinter dieser Einschätzung steht die mehr oder minder begründete Auffassung, dass Religionen Konflikte erzeugen und intolerant sind. Ohnehin wird schon lange eine wechselseitige Abhängigkeit von Monotheismus und Intoleranz behauptet. Freilich gibt es auch Gegenargumente, denn – so wird erklärt – keine Weltreligion könne sich Aufrufe zur Gewalt erlauben. Gewaltlosigkeit sei ohnehin eine Grundkomponente aller Religionen. Dieses Thema steht heute im Zentrum der Auseinandersetzung über die Religionen.

Diese Interpretationsmöglichkeiten und die daraus folgenden Verhaltensformen sollten berücksichtigt werden, wenn man heute einen "interreligiösen Dialog" oder den Dialog der Religionen verlangt. Man darf die Schwierigkeiten nicht unterschätzen, die dem Verstehen des Fremden und Anderen entgegenstehen. Diese reichen von der Unfähigkeit zu verstehen bis hin zur Aneignung des Anderen. Dabei befürchtet man, dass das Verstehen dem Anderen seine Andersheit nehmen könnte und daher auch eine Art von Vereinnahmung bedeutet. Es entsteht dabei die Frage, ob das Verstehen das Fremde so sehr in den eigenen Horizont einbezieht und übersetzt, dass ihm die spezifische Eigenheit genommen wird. In der Tat setzt, wie die Auseinandersetzung um Einwanderung, Integration und den Kampf der Kulturen zeigt, jedes Verstehen eine gewisse Anerkennung des Fremden in seiner Andersheit voraus. Ohne eine Kraft der empathischen Annäherung und eines sensiblen Verstehenwollens gibt es nach alter Überzeugung keine Erkenntnis.

Interreligiöser Dialog schließt die Weigerung aus, sich überhaupt auf das Andere und Fremde einzulassen und sich selbstgenügsam in sich zu verschließen. Er setzt voraus, dass man sich damit in der Begegnung gerade mit einer fremden Religion einem Wagnis aussetzt, nämlich entweder das Eigene des Anderen zu verkennen, also mehr oder weniger misszuverstehen, oder das Andere sich ganz anzugleichen und dadurch vielleicht zu manipulieren. Es kann aber auch die Gefahr drohen, in einer fragwürdigen Begeisterung, in einem trunkenen Enthusiasmus oder einer ungeklärten Faszination vom Fremden regelrecht aufgesogen zu werden.

Was aber heißt vor diesem Hintergrund Dialog? Ein Dialog ist ja nicht einfach eine Unterhaltung oder auch nicht irgendein Gespräch. Dialog ist auch niemals eine harmlose Form eines allgemeinen Sichöffnens auf Welt und Gesellschaft hin oder gar eine Spielart unreflektierter Anpassung. Dialog ist im Unterschied zum Gespräch auf das gemeinsame Finden und Anerkennen von Wahrheit ausgerichtet. Er strebt nach einer Einigung, die einem zuvor bestehenden Missverständnis oder auch einem Streit wenigstens ein vorläufiges Ende setzt. Diese Einigung muss nicht immer ein Konsens in allen Dimensionen und Teilbereichen eines Problems oder einer Sache sein. Es gibt auch Stufen der Übereinstimmung.

Wenn ein Dialog stärker durch die Argumentation als Form der Kommunikation gekennzeichnet ist, wird er im heutigen Denken eher als "Diskurs" bezeichnet. Ein Diskurs versucht über die Berechtigung eines problematisierten Geltungsanspruchs eine Entscheidung herbeizuführen. Er setzt voraus, dass ein Wahrheitsanspruch in Frage gestellt ist und dass eine gemeinsame, wirklich kooperative Wahrheitssuche in einer zwanglosen und uneingeschränkten Kommunikation der Verständigung dient. Dem Dialog eignet im Unterschied zu dem strengeren Diskurs das Merkmal der Offenheit und Gesprächsbereitschaft in allen Lebensäußerungen. Damit ist er eine hervorragende und fruchtbare Methode, wie in einer Gesellschaft mit einer sehr konkreten Vielfalt und den unvermeidlichen Pluralitäten redlich umgegangen werden kann. Der Dialog muss dabei an den Willen zur Findung von Wahrheit gebunden bleiben.

Ein solcher Dialog hat viele Feinde. Sie steigern sich, wenn es um werthaltige Stellungnahmen geht, besonders weltanschaulicher, philosophischer, religiöser und theologischer Art. Hier droht zunächst die Gefahr, dass Dialog im Namen von Toleranz zunächst nichts anderes meint als eine beliebige Freiheit der Äußerung. Dabei wird der Anschein erweckt, ein solcher Dialog sei besonders tolerant, wenn er auf Seiten der Partner möglichst wenig Verbindlichkeit voraussetzt und schlechthin alles zugelassen wird. Dabei erscheint heute bereits der Standort eines Partners, der nicht verborgen bleibt, sondern zur Sprache kommt, als Verletzung der Dialogbereitschaft. Gewiss gibt es hier bei der Standortgebundenheit der Teilnehmer die Gefahr einer Unduldsamkeit, von Vorurteilen, ja von Borniertheit. Aber das Vorliegen und Darlegen von Verstehensvoraussetzungen ist nicht einfach "Dogmatismus".

Ich habe in letzter Zeit den Eindruck gewonnen, dass man die Religionsfreiheit, auch im verfassungsmäßigen Sinn, heute oft nur – und zwar gerade im Bereich des interreligiösen Dialogs und der Rede darüber – als negative Religionsfreiheit versteht. Dies ist aber nur die eine Hälfte verfassungsmäßig garantierter Religionsfreiheit. Zu ihr gehört die positive Religionsfreiheit, die der Existenz und dem Wirken von Religion, ohne in den inneren Bereich einzugreifen, Raum gewährt und eine Anerkennung der jeweiligen religiösen Überzeugungen erfordert, ja auch Respekt nötig macht. Auf vielen Feldern des öffentlichen Denkens hat sich ein Verständnis von Toleranz eingeschlichen, das im Grunde im Blick auf verbindliche Gehalte beliebig und "substanzlos" ist. Dialog darf nicht durch Machtansprüche gleich welcher Art verzerrt werden. Es gibt dabei auch eine Intoleranz, die sich als Liberalität gibt.

Ein Missverständnis des Dialogs wäre es auch, einen Dialog nur dann als möglich zu sehen, wenn man nur eine abstrakte Gemeinsamkeit einiger religiöser Elemente zulässt. Alles, was partikulär, konkret und spezifisch ist, wird zugunsten dieser abstrakten Gemeinsamkeit ausgeklammert oder beiseitegeschoben. Damit verliert aber Religion an Konturen, wird blass und letztlich unverbindlich. Hier liegt eine große Gefahr des modernen Religionsbegriffs, die dadurch noch erhöht wird, dass eine bestimmte Religion reduziert wird auf theoretische Aussagen und "Lehre", die affektiven Elemente, die ethisch-willentlichen Aspekte sowie die Handlungsimpulse hingegen nicht genügend beachtet werden. Eine solche Verkürzung des Phänomens Religion innerhalb der Forderung nach einem interreligiösen Dialog wird oft zu wenig gesehen.

Ohne eine ganzheitliche, vor allem aber auch personale, existentielle und willentliche Entscheidungsdimension ist das Phänomen Religion nicht zu begreifen. Darum haftet aber auch der konkreten Religion gerne der Aspekt des Irrationalen an, besonders wenn zur Beschreibung das Wort und das Bedeutungsfeld des "Gefühls" verwendet werden. Am wahren interreligiösen Dialog sind in der Regel ja Teilnehmer und Anhänger konkreter Religionen beteiligt. Er wird nicht einfach "von außen" veranstaltet, sei es vom Staat, von den Kulturschaffenden oder den Medien oder aber den Wissenschaften her. Im interreligiösen Dialog müssen die Religionen selbst bei aller hilfreichen Begleitung durch andere zueinanderfinden. Das macht gewiss jeden Begriff eines Dialoges der Religionen komplexer und im konkreten Verstehens- und Verständigungsversuch schwieriger.

Jedenfalls hat das Ziel einer Verständigung einen stark emphatischen und bis zu einem gewissen Grad auch ethischen Anstrich. Denn wenn das Einverständnis in der Sache das Ziel aller Verständigung ist, dann drängt alle Verständigung zu einem Konsens. Wir haben aber, besonders im ökumenischen Gespräch unter den christlichen Kirchen, gelernt, dass eine solche Verständigung noch viele Schritte zulässt. Daraus kann man für den interreligiösen Dialog lernen. Es gibt ein Minimum an Einvernehmen, es gibt Teilkonsense oder auch als Maximum einen Totalkonsens. Vielleicht ist aber auch noch gar keine geglückte Übereinstimmung erreichbar. Dann gibt es in unterschiedlicher Weise Konvergenzen oder Divergenzen, die sich einem Konsens nähern oder davon wegführen. Dies muss selbstverständlich auch im interreligiösen Dialog beachtet werden. Der erreichte Status muss dann zuverlässig festgehalten werden für weitere Versuche der Verständigung. Wenn man hier nicht sorgfältig die operativen Schritte und deren Erreichbarkeit reflektiert, kommt man sehr leicht zu maßlosen Erwartungen, gerade im interreligiösen Dialog. Illusionen darüber sind aber gefährlich.

So ergibt sich die Frage, ob man von einem interreligiösen Dialog oft nicht zu viel verlangt und zu viel erwartet. Das Modell eines theoretischen Konsenses ist jedenfalls allein nicht angemessen, sosehr das geistige Element Gewicht behält. Der Dialog hat im Blick auf die Religion auch dann einen Sinn, wenn man zunächst "nur" Verschiedenheiten zwischen Religionen aufdeckt. Der Dialog scheitert oft, wenn eine argumentative Widerlegung des Gegenübers oder das Erreichen einer gemeinsamen Begründungsebene beabsichtigt wird. Der interreligiöse Dialog hat eine eigene Struktur. Das schlagende Argument hat seine Grenzen und kann zerstörerisch wirken. Weiter bedarf es einer anderen Erfassung des "Gegenstandes" der Begegnung im interreligiösen Dialog. Es geht dabei ja nicht nur um ein abstraktes Vergleichen von Positionen. Für den interreligiösen Dialog kann selbst das Scheitern von Konsensbemühungen produktiv und fruchtbar werden.

Ich möchte als Begegnungsform des interreligiösen Dialogs den Begriff des "religiösen Zeugnisses" vorschlagen und damit eine Anregung von P. Felix Körner SJ aufgreifen und verstärken. Zeugnis ist nicht nur eine eigene "Redeform", sondern bringt auch das umfassendere Verstehen einer Religion ins Spiel: Es ist zugleich die authentische Darstellung eines Bekenntnisses, wie es zur Religion gehört. Die radikale Andersheit des Gesprächspartners braucht nicht grundlegend zu überraschen. Oft ist bereits das damit einhergehende Gespräch anders. Schon während der Präsentation der eigenen Überzeugung tritt man in einen Austausch mit den jeweils vorgestellten Partnern. Auch entdeckt man erst im Dialog ganz die eigene Sicht. Oft scheint erst im Angesicht des Anderen das Eigene auf. Infragestellung kann auch Neues zu Gesicht bringen. Das Zeugnis ist in diesem Falle eine Mischung von Argumentation und Selbstevidenz eines Anderen, der oder das sich darin zeigt.

Man kann darüber streiten, ob man schon an dieser Stelle das Wort Offenbarung gebrauchen soll. Jedenfalls kann man sinnvoll miteinander sprechen, auch wenn sich (noch) kein gemeinsamer Begriffsrahmen einstellt. So haben Zeugnisse, selbst wenn sie noch nicht zu einem Konsens führen, ein hohes hermeneutisches und heuristisches Potential. Das Gegenüber von Zeugnissen ist also immer zugleich eine riskante Begegnung, verlangt ein dynamisches dialogisches Verfahren und lässt Differenzen besser verstehen.

In diesem Zusammenhang will ich davon absehen, dass noch eine weitere Dimension beim religiösen Gespräch hinzukommt, die in der Verständigung eine Rolle spielt: Nicht alles, was sich in unseren Gedanken abspielt, ist, so wie es sich abspielt, der sprachlichen Wiedergabe fähig. Es gibt viele nicht ausgesprochene, bewusste oder unbewusste Hintergründe. Dies muss bei der "Objektivierung" religiöser Erfahrungen besonders bedacht werden, kommt aber im Falle des interreligiösen Dialogs durch die Kommunikation in Zeugnisform zur Sprache. Ich bin der festen Überzeugung, dass man damit dem interreligiösen Dialog besser gerecht wird, ihn nicht maßlos überfordert und er dadurch auch fruchtbarer werden kann. Es kann sich zudem ein Verstehen vollziehen, das nicht schon von vornherein den Sieg des eigenen Erkenntnismusters impliziert. Geltungsansprüche werden zwar zur Kenntnis genommen, aber zugleich eingeschränkt, weil man eben zuerst kennenlernen will.

Damit wandelt sich wohl auch die Art des Dialogs. Das schlichte Kennenlernen, Kontakte, Besuche und einfache Gespräche bekommen ein größeres Gewicht. So gibt es zum Beispiel Besuche von Christen – im konkreten Fall waren es Theologiestudenten – in Moscheen und zugleich eine Gegeneinladung von Muslimen in eine christliche Kirche. Vielleicht tun wir uns unter anderem deshalb mit dem interreligiösen Gespräch so schwer, weil wir diese schlichten Begegnungsformen – vor allem auch in der Nachbarschaft – geringschätzen und zu wenig pflegen. Hier kann sich hinter einfachen Formen der Begegnung ein wichtiges Feld religiöser Begegnung auftun. Man interessiert sich füreinander und geht nicht achtlos oder achselzuckend aneinander vorüber. Ein Taxifahrer hält auf der Straße, die ich überqueren will, und fragt freundlich: "Geht es Ihnen wieder besser?" Auf meine bejahende Antwort folgt ein "Ich freue mich". Woher er komme, möchte ich wissen. "Ich bin ein Iraner. Ich bin 26 Jahre im Exil. Ich bin dankbar, dass ich hier sein darf." Meine Antwort: "Ich wünsche Ihnen Gottes Segen und auf ein gutes Wiedersehen." Er fährt weiter. Diese Elemente des religiösen Dialogs dürfen wir nicht verachten.

Dialog muss in Rücksicht auf die Eigenart religiöser Überzeugungen authentisch sein: Verzicht auf Einseitigkeiten und Machtpositionen, wahre Ebenbürtigkeit der Partner, Verzicht auf simple Widerlegung, Bereitschaft zu riskanter Begegnung und auch zur "Schwäche". Jede Suche nach besserem Verstehen des Wesens von Religion darf nicht nur bloß beim Gesprächspartner auf die Feststellung von "Unwesen" in der Religion ausgerichtet sein, sondern muss zugleich zum Finden des Unwesens bei sich und im eigenen Bereich bereit sein. Dabei kommt es gewiss auf die inhaltliche Beachtung einiger grundlegender Anforderungen an Religion heute an. Wenn ein Dialog darüber im ersten Anlauf oder auch länger nicht gelingt, ist er nicht umsonst.

Anforderungen an Religion heute sollte man anhand mehrerer praktischer Kriterien zur Sprache bringen. Eine Religion etwa, die die gleiche Würde der Menschen verletzt und den Rang und Wert der Menschen nach Rasse und Klasse, Herkunft und Stand, Bildung und Vermögen/Besitz, ja nach der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion einschätzt und absolut setzt, gefährdet sich fundamental selbst und wirkt zerstörerisch. Jede Religion muss die recht verstandene Freiheit der Menschen fördern. Gewiss kennt jede Religion Ordnung und Bindung an ethische Normen und religiöse Weisungen. Auch gehören Gehorsam und Gemeinschaftsverpflichtung zu jeder Religion. Aber ein maßgeblicher Beweggrund muss für jede Religion in der Überwindung infantiler Bevormundung und in der Förderung wahrer Freiheit zu einem guten Leben bestehen. Die eigene Kritik- und Denkfähigkeit muss gefördert und vertieft werden. Begeisterung, die dies auslöschen würde, und ein blinder Fanatismus können deshalb auch zu sehr fragwürdigen Gestalten innerhalb einer Religion werden. Sie machen sie auch grundlegend unglaubwürdig.

Es ist auch an der Vorstellung festzuhalten, dass jede Religion dem einzelnen Menschen und den religiösen Gemeinschaften zum Finden eines unverlierbaren Lebenssinnes und auch zu einer letzten Geborgenheit verhelfen möchte. Sie macht die Menschen nicht weltflüchtig, sondern hilft ihnen, die Gefährdungen dieses Lebens zu bestehen und an ihnen nicht zu zerbrechen. Auch missionarische Sendung gehört zu einer Religion, wenn und solange sie überzeugt ist, dass sie ihre Orientierung, die den eigenen Mitgliedern und Anhängern kostbar und wertvoll ist, auch anderen zu ihrem Nutzen weitergeben möchte und sollte. Aber in dem Augenblick, in dem diese missionarische Sendung in irgendeiner Weise mit Gewalt verbunden wird, ist nicht nur die Würde und Freiheit des Menschen, sondern auch die der Religion zerstört.

Es gibt im Dialog freilich ein entscheidendes Element, das vielleicht eher sogar zu den Voraussetzungen des Dialogs gehört. Dies ist die theoretische und praktische Frage der Religionsfreiheit, und dies im Sinne der negativen und positiven Religionsfreiheit. Nach meinem Verständnis ist das Eintreten für eine allseitige Religionsfreiheit und die praktische Verwirklichung dieser Religionsfreiheit ein zentrales Kriterium jedes interreligiösen Dialogs. Die moralische Pflicht des Einzelnen, den wahren Glauben zu suchen und anzunehmen, wird durch die Gewährung der Religionsfreiheit keineswegs aufgehoben oder relativiert, sondern lediglich von den Eingriffsmöglichkeiten staatlicher oder anderer Gewalt kategorisch geschieden und gegen sie gesichert. In diesem Sinne hat die Religionsfreiheit eine zentrale und kritische Rolle auch für die anderen Menschenrechte.

Natürlich gibt es eine besondere Sorge der Religionen um den Erhalt der Schöpfung, um den Frieden unter den Völkern, um Recht und Gerechtigkeit in aller Welt und um die Versöhnungsbereitschaft bei Konflikten. Es wäre aber gewiss eine Verkürzung, die freilich nicht so selten ist, wenn man einen Dialog unter den Religionen so konzipiert, dass er die religiöse Frage ausklammert und nur politisch und sozial relevante, nur ethisch orientierte Themen in Angriff nimmt. Es wäre geradezu paradox, wenn der interreligiöse Dialog sich um alles kümmern würde, aber nicht um die Suche nach Wahrheit und die Erfüllung dieses Suchens in einer konkreten Religion.

Unter dieser Voraussetzung ist es anzuerkennen, dass die Religionen sich gerade darum bemühen müssen, ein verbindendes Ethos zu fördern, das schwierige Konflikte mindestens mindert oder sogar lösen hilft und Solidarität unter den Menschen schafft. In diesem Zusammenhang ist ganz unbestritten, dass die Verhinderung von Gewalt, die Beendigung kriegerischer Verhältnisse, die Sicherung des Frieden, die Achtung der Menschenrechte und die Aussöhnung zwischen Gegnern und Feinden zu den vordringlichen Themen des interreligiösen Dialoges gehören müssen. Das Verstehen des Fremden und Anderen über verschiedene Kulturen und Religionen hinweg ist das Verbindende.

Hans Küng hat seit vielen Jahren ein solches "Weltethos" auf einen Nenner zu bringen gesucht. Küngs fünf zentrale Imperative sind: kein Zusammenleben auf unserem Globus ohne ein globales Ethos; kein Frieden unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen; kein Frieden unter den Religionen ohne Dialog zwischen den Religionen; kein Dialog zwischen den Religionen und Kulturen ohne Grundlagenforschung; und kein globales Ethos ohne Bewusstseinswandel von Religiösen und Nichtreligiösen.

Man kann gewiss von diesem "Weltethos" ausgehen – und dies mitten in allen kulturellen Verschiedenheiten. Vielleicht muss man zunächst mit einem bilateralen Dialog beginnen, bevor man es multilateral versucht. Beides schließt sich nicht aus. Aber lernen kann man zuerst und besser beim Gegenüber zweier Partner mit ihrem jeweiligen Profil. Die Polyphonie braucht mehr den Meister. Ökumenische Erfahrungen legen ein solches Vorgehen nahe.

Bei den Reflexionen über die Zukunft der Religionen spielen in jüngerer Zeit auch Überlegungen eine Rolle, ob nicht die Bewältigung der sozialen und gesellschaftlichen Probleme, vor allem auch im Lichte der Globalisierung, Motive braucht, die über die bisherigen Interessensperspektiven individueller und kollektiver Art hinausgehen. Es ist und bleibt ein wichtiger Inhalt des gegenwärtigen und künftigen Dialogs der Religionen, und zwar in den einzelnen Ländern, aber auch auf Weltebene. Viele Fachleute sind der Meinung, dass Religionen für die Entwicklung besonders in wirtschaftlich schwachen Staaten und in Regionen geringer Stabilität von entscheidender Bedeutung seien. Darum muss dem Zusammenhang zwischen Religion und Entwicklung mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Im Zeitalter der Globalisierung ist das noch wichtiger.

Der interreligiöse Dialog ist für das Christentum überhaupt, aber auch besonders für die katholische Weltkirche eine zentrale Aufgabe. Davon dürfen und können uns auch nicht missbräuchliche Übertreibungen oder grundlegende Weigerungen abhalten. Papst Johannes Paul II. sagte absichtsvoll um die Jahrtausendwende: "Der Dialog muss weitergehen."

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Der Verfasser ist Bischof von Mainz und war von 1987 bis 2008 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz. Alle Vorträge der Stiftungsprofessur "Weltreligionen" werden von Karl Kardinal Lehmann unter dem Titel "Weltreligionen. Verstehen, Verständigung, Verantwortung" im Verlag der Weltreligionen, Frankfurt am Main, herausgegeben.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15.07.2009 Seite 8