Warum der Angriff auf das Schutzargument nicht trifft
Die internationale Finanzkrise ist vergleichsweise jung. Die Krise im Gesundheitswesen ein Dauerzustand. Die Zeitschrift für medizinische Ethik widmet ihr ein ganzes Heft. Klaus-Dirk Henke, Gesundheitsökonom aus Berlin, stellt noch einmal klar, dass es sich keinesfalls um eine Explosion der Kosten handelt. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt, haben sich die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung in anderthalb Jahrzehnten nur moderat erhöht. Die Leistungen sind explodiert. Henke prognostiziert, dass die Gesundheitswirtschaft an Bedeutung gewinnen wird. Sie werde aus der Wirtschaftskrise gestärkt hervorgehen.
Dennoch komme man um eine Rationierung nicht herum, meinen Wolfram Höfling und Steffen Augsberg. Es klaffe eine breite Lücke zwischen dem, was möglich, und dem, was finanzierbar sei. Die beiden Juristen vom Institut für Staatsrecht der Universität zu Köln sondieren die Vorgaben, die die Verfassung dem Gesetzgeber beim Rationieren von Gesundheitsleistungen auferlegt. Sie kommen zu dem Schluss, dass das Parlament sich kreativ entfalten kann. Nicht jeder Patient hat einen in der Verfassung verbürgten Anspruch auf alles. Auf Heilung abzielenden Ansätzen komme kein prinzipieller Vorrang zu. Umweltrecht oder etwa Regelungen des Straßenverkehrs seien ebenfalls geeignet, Krankheiten zu vermeiden. Das Parlament sei frei zu entscheiden, Unfallkliniken auszubauen oder ein Tempolimit einzuführen.
In der freien Gesellschaft ist beim Rationieren Transparenz gefordert. Es sei daher problematisch und stehe im Widerspruch zur Verfassung, derartige Entscheidungen den Akteuren im Gesundheitswesen zu überlassen, wie es in der Transplantationsmedizin der Fall sei. Organe sind ein knappes Gut. Rationierung ist längst Routine. Das einschlägige Gesetz delegiert Allokationsentscheidungen an den Vorstand der Bundesärztekammer. Es sei irreführend, wie es im Gesetz heißt, dass die Kammer lediglich Feststellungen medizinischer Art treffe. Vielmehr enthielten die Richtlinien "substantiell eigene Wertungen von existentieller Bedeutung". Die seien aber Sache des Gesetzgebers, fordern Höfling und Augsberg.
Im Hastings Center Report will Matthew Wynia, Direktor des Ethikinstitutes der Amerikanischen Ärztegesellschaft, die Billionen Dollar Finanzhilfen für die Wirtschaft auch für die Gesundheit der Amerikaner fruchtbar machen. Niemandem könne ein gesunder Lebensstil aufgenötigt werden. Doch sind soziale Faktoren der Gesundheit förderlich. So belegen Studien, dass Personen körperlich aktiver sind, wenn sie vor dem Haus ein Trottoir vorfinden oder in der Nähe eines Parks wohnen. In gemischten Wohngebieten mit Geschäften in Reichweite für Fußgänger sinkt das Risiko, eine krankhafte Fettsucht zu entwickeln, um dreißig Prozent. Wynia hält einen Vorschlag für Präsident Obama bereit. Das Geld aus dem Konjunkturpaket für Verbesserungen der Infrastruktur dürfe nur für solche Projekte eingesetzt werden, die eine gesunde Lebensweise befördern.
Die elektronische Fußfessel hält auch in der Medizin Einzug. Sie eignet sich, etwa Demenzkranke zu überwachen und sie vor Selbstgefährdung zu schützen. Helmut Kreicker untersucht in der Neuen Juristischen Wochenschrift die verfassungsrechtlichen Aspekte. Auch wer dement ist, hat eine private Sphäre und ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Pflegende dürfen nicht alles kontrollieren. Der Richter aus Hildesheim hält die neue Technik der Radiofrequenzidentifikation für grundsätzlich zulässig in der Versorgung dementer Personen. Allerdings bedürfe die Verwendung der entsprechenden Chips der Einwilligung eines Betreuers oder Bevollmächtigten.
Die bahnbrechenden Entdeckungen japanischer und amerikanischer Wissenschaftler haben die Hoffnung geweckt, den Streit um den Verbrauch von Embryonen für die Wissenschaft beilegen zu können (siehe zuletzt Natur und Wissenschaft vom 8. Juli). Die Forscher haben Körperzellen reprogrammiert. Die wurden einer Verjüngungskur unterzogen. Wenn man sie nur geeignet behandelt, können sie sich zu einem Fetus entwickeln. An diesen Befund knüpfen Gerard Magill und William Neaves, Bioethiker aus Pittsburgh und St. Louis in den Vereinigten Staaten, im Kennedy Institute of Ethics Journal eine philosophische Debatte. Sie behaupten, die Reprogrammierung hebe das Argument der Potentialität aus den Angeln. Das Potentialitätsargument gilt als Eckstein im Gebäude der Gründe, die für den unbedingten Schutz des Embryos sprechen. Es besagt, dass im Embryo ein vollständiger, potentiell mit allen Funktionen ausgestatteter Organismus angelegt sei. Da aus jeder Zelle des Körpers ein Embryo reprogrammiert werden könne, müsse das Argument auch auf diese Zellen angewandt werden, schreiben Magill and Neaves. Es sei aber absurd, jeder beliebigen Körperzelle die Menschenwürde zuzuerkennen.
Fällt damit der Embryonenschutz? Nein, meinen die Neurobiologin Maureen Condic, der Jurist Partrick Lee und der Bioethiker Robert George in der gleichen Ausgabe der Zeitschrift. Sie halten den Angriff auf das Potentialitätsargument für logisch und wissenschaftlich nicht haltbar. So übersähen Magill und Neaves etwa den Unterschied zwischen einer Zelle und einem Organismus. Ohne Intervention können Körperzellen sich eben nicht zu einem vollständigen Organismus entwickeln. Schon dies allein offenbare – neben anderen Aspekten – eine fundamentale Differenz, die moralisch bedeutsam sei.
Kürzlich feierte die Juristen-Vereinigung Lebensrecht ein Jubiläum. Sie wurde vor einem Vierteljahrhundert von namhaften Staats- und Verfassungsrechtlern gegründet. In der von dem Verein herausgegebenen Zeitschrift für Lebensrecht befasst sich Mareike Klekamp aus der Sicht christlicher Gesellschaftslehre mit der Selektion von Embryonen. Sie beklagt, dass der Gesetzgeber bei der Verabschiedung des Embryonenschutzgesetzes nicht an die Möglichkeiten der Polkörperdiagnostik gedacht habe. Nicht erst mit der Vereinigung der Kerne von Ei- und Samenzelle sei das einzigartige Genom eines neuen Menschen bestimmt. Vielmehr sei dies bereits mit Abschluss der Reifeteilung der Fall, wenn das genetische Material noch getrennt in Vorkernen vorliegt. Bislang sind aber die Vorkernstadien in Deutschland nicht geschützt. Embryonen, das heißt Organismen nach der Kernverschmelzung, dürfen in Deutschland nicht tiefgefroren aufbewahrt werden. Es lagerten aber viele tausend kryokonservierte Vorkernstadien in den Fertilitätszentren. An ihnen werde eine genetische Selektion im Rahmen der Polkörperdiagnostik vor der Vereinigung der Kerne vorgenommen. Vorkernstadien seien keinesfalls nur eine therapeutische Ressource, wie es in einschlägigen Publikationen heiße. Vielmehr zählten sie zur Menschengattung. Stephan Sahm
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.07.2009 Seite 34