Der Beruf des Pädagogen leidet unter der mangelnden gesellschaftlichen Wertschätzung / Von Timo Frasch
Um sich in den Schul- oder Semesterferien die schönen Seiten des Lehrerberufs in Erinnerung zu rufen, sollten Lehrer, Studenten und Abiturienten vielleicht ein Buch zur Hand nehmen. Am besten, sie lesen Cees Nootebooms "Die folgende Geschichte". Deren Held ist der Altphilologe Hermann Mussert, ein im Leben ungelenker Mensch, der aber auf seiner kleinen Bühne, im Klassenzimmer, regelmäßig Triumphe feiert.
Mussert geht es wie 300 000 deutschen Lehrern in den kommenden zehn Jahren: Er wird pensioniert. Und was macht er in seiner allerletzten Schulstunde? Er behandelt noch einmal Platons Phaidon. Es geht also um das Athener Gefängnis, in dem Sokrates, vielleicht der berühmteste aller Lehrer, seine Schüler versammelt hat, um bei Sonnenuntergang aus dem tödlichen Schierlingsbecher zu trinken. Mussert spielt das alles in Vollendung: Im Klassenzimmer nimmt er seine Schüler mit in die Zelle, wo er Sokrates "mit einer Würde sterben lässt, die sie in ihrem kurzen oder langen Leben nie mehr vergessen" werden. Als die Schulstunde zu Ende ist, sind selbst die größten Rabauken zu aufgewühlt, um noch irgendetwas sagen zu können.
Vielleicht gab es diesen Mussert nie, wer weiß. Wenn Nooteboom nicht über ihn geschrieben hätte, dann hätte es ihn ganz sicher nicht gegeben. Heute ist es doch so: Nur was möglichst viele mitbekommen, was nach außen dringt, was sich in Ergebnissen messen lässt, ist auch und wird gut entlohnt. Oder umgekehrt: Nur was gut entlohnt wird, ist auch und wird von vielen zur Kenntnis genommen. Dem Lehrerberuf, den nicht mehr genügend junge Leute ergreifen wollen, scheint dieses marktwirtschaftliche Gesetz zum Verhängnis geworden zu sein. Zu gering sind für Lehrer die Aufstiegs- und Verdienstmöglichkeiten; zu vage und unbefriedigend ist die Aussicht, dass dereinst ein Schüler dem Lehrer dankt, was er ihm verdankt.
Wer heute etwas auf sich hält, will Erfolg, Geld und Anerkennung – so viel wie möglich und am besten sofort. Früher, als die Welt noch klein war und der Lehrer neben dem Arzt und dem Pfarrer der erste Mann im Dorf, mag das auch als Pädagoge möglich gewesen sein. Das ist vorbei. Wie der Deutsche Philologenverband zu Recht befindet, ist "der Lehrerberuf für viele leistungs- und karriereorientierte junge Erwachsene nicht lukrativ". Das zeigt sich insbesondere bei den jungen Männern, die ihren eigenen Status noch immer stärker als Frauen über den beruflichen Erfolg definieren: Nach Angaben des Verbands entwickelt sich bei einem schon fast neunzigprozentigen Frauenanteil im Grundschullehramt auch die Frauenquote unter den Studenten des Lehramts am Gymnasium hin zu etwa 70 bis 75 Prozent.
Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass sich die besten Leute, die für das Lehramt eigentlich gerade gut genug sein müssten, bevorzugt gegen ein Lehramtsstudium entscheiden: Nach einer Studie des Erziehungswissenschaftlers Udo Rauin ist für jeden vierten Lehramtkandidaten an einer Pädagogischen Hochschule Baden-Württembergs sein Studium eine Notlösung, weil er an den Zulassungsbeschränkungen in anderen Fächern gescheitert ist. Das Lehramt zieht seiner Meinung nach Leute an, die sich ein schwieriges Studium nicht zutrauen. Eine andere, kontroverse Studie von Ludger Wößmann zeigte, dass angehende Grund-, Haupt- und Realschullehrer im Schnitt eine schlechtere Abiturnote haben als andere Akademiker. Für Gymnasiallehrer gilt das nicht. Gewonnen ist damit allerdings noch nicht viel: Nach Angaben des Deutschen Lehrerverbands treten nämlich nur etwa zwei Drittel der Lehramtsstudenten in den Schuldienst ein. Ein Drittel bricht also ganz ab oder wechselt den Studiengang. Daran sind auch die Universitäten schuld. Obwohl Lehramtsstudenten selten weniger leisten müssen als diejenigen, die im selben Fach einen anderen Abschluss anstreben, werden sie an den Hochschulen mitunter belächelt: von Kommilitonen, die sich für risikofreudiger und aussichtsreicher halten, aber auch von Professoren, die ihr Selbstbewusstsein zumeist nicht aus der Lehre, sondern aus der Forschung und ihrer Zugehörigkeit zur "scientific community" beziehen. Nicht ohne Grund schrieb der Soziologe Uwe Schimank in dieser Zeitung: "Was der Gymnasiallehrer nur zaghaft für sich beanspruchen kann, fordert der Universitätsprofessor machtvoll für sich ein: als Mitglied der Elite der Forschenden weit über dem bloß Lehrenden zu stehen."
Es gibt Länder, in denen das anders ist. In Finnland etwa gehören Lehrer ganz selbstverständlich zur gesellschaftlichen Elite. Das ergibt sich vor allem aus dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage. Im Sommer 2008 konkurrierten dort 6500 Bewerber um 800 freie Plätze. In Deutschland ist man hingegen schon jetzt froh, überhaupt jede Lehrerstelle besetzen zu können. Und in den kommenden Jahren werden die Pensionierungen entweder dazu führen, dass Stellen überhaupt nicht besetzt werden oder dass beinahe jeder, der nichts Besseres gefunden hat, auf die Schüler losgelassen wird. So bekommt man keine Lehrer, die in der Lage sind, den Schülern, das heißt: den potentiellen künftigen Lehrern, die Schönheit des Lehrerberufs zu vermitteln. Der Deutsche Philologenverband hat deshalb Alarm geschlagen. Nach seiner Einschätzung könnten schon in diesem Herbst mehr als 30 000 entsprechend ausgebildete Lehrer fehlen, vor allem in den sogenannten Mint-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik), aber auch in Hermann Musserts Altphilologie. Die Politik, die sich jahrelang die Zahlen schöngerechnet hat, reagiert allmählich auf die Missstände. So wurden bei der jüngsten Sitzung der Kultusministerkonferenz "gemeinsame Leitlinien zur Deckung des Lehrerbedarfs" vereinbart. Außerdem scheint sich unter den politisch Verantwortlichen inzwischen herumgesprochen zu haben, dass man nicht ständig über die Bedeutung der Bildung sprechen kann, ohne die Bedeutung der Lehrer wenigstens zu erwähnen.
Ein grundsätzliches Problem wird sich dadurch nicht lösen lassen: Dass man erst einmal viele junge Leute braucht, die ins Lehramt wollen, damit viele andere junge Leute auch ins Lehramt wollen. Wie kann man diesem Paradox entrinnen? Indem man die Gesetze der Marktwirtschaft auch auf das Lehramt anwendet und versucht, die Leistungen der Pädagogen außerhalb des Klassenzimmers sichtbar zu machen: über eine fachkundige Bewertung des Unterrichts, über Prämien und Preise. Über einen echten Wettbewerb unter den Schulen um die besten Lehrer. Über Exzellenzzentren für die Lehrerbildung, wie sie jetzt an mehreren Universitätsstandorten eingerichtet werden. Schließlich durch eine engere Zusammenarbeit der Schulen mit den Universitäten, um auch so die Ansehenskluft zwischen Lehre und Forschung zu verkleinern. Solche Instrumente sind das eine. Das andere ist, dass sich die Gesellschaft wieder dessen bewusst werden muss, was es im besten und gar nicht so seltenen Fall heißen kann, ein Lehrer zu sein. Zum Beispiel: Sokrates mit einer Würde sterben zu lassen, welche die Schüler in ihrem Leben niemals mehr vergessen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.07.2009 Seite 10