Donnerstag, 16. Juli 2009

Loest

Erich Loest ist mit Leipzig verbuden (Bild: AP Archiv)

"Das Mäuschen tanzte"

Schriftsteller Loest über die Wende in der DDR und seinen Roman "Nikolaikirche"

Erich Loest im Gespräch mit Sigrid Wesener

Die Leipziger Nikolaikirche gilt als Symbol für den Unmut in der DDR. Nach Einschätzung des Schriftstellers Erich Loest hat sich das Stimmungsgefühl nach den ersten Demonstrationen im Herbst 1989 gewandelt. "Die Leute hatten dann keine Angst mehr", sagte Loest.

Anmoderation: Die Leipziger Nikolaikirche wurde ja zum Symbol für den Unmut in der DDR, den man hier zuerst artikuliert. Hier fanden über Jahre die Friedensgebete statt, und von hier aus machten sich die Montagsdemonstrationen auf den Weg, die schließlich mit der berühmten Leipziger Demonstration vom Oktober 1989 den Anstoß gaben für die sich dann überschlagenden Ereignisse. "Keine Gewalt" und "Wir sind das Volk" - ursprünglich kamen diese Rufe aus Leipzig.

Mit dieser Stadt ist Erich Loest sein ganzes Leben lang verbunden, auch wenn er 1989 schon zehn Jahre im Westen lebte - nach einem Gefängnisaufenthalt in Bautzen und vielen Repressalien in der DDR war Loest ausgereist. Inzwischen lebt er wieder in Leipzig. In den historischen Herbsttagen im Herbst 1989 war auch für ihn plötzlich Unmögliches ganz einfach, wie Sigrid Wesener in einem Gespräch mit Erich Loest erfuhr.

Erich Loest: Ich lebte in Bonn, und zu meinen Füßen, am Rhein unten war die ständige Vertretung der DDR in der Bundesrepublik, und dort hatte ich jedes Jahr einmal einen Antrag gestellt, meine Verwandten in Leipzig und Mittweida besuchen zu dürfen. Meist hatte ich überhaupt keine Antwort bekommen.

Und dann ging ich dort hinunter und klingelte und sagte: Ich heiße Loest. Ach ja, Herr Loest, kommen Sie bitte rein. Wir haben zwar gerade Ruhetag heute, aber … Ja, ja, ich sage, ich brauche ein Visum, ich will nach Leipzig. Ja, bitteschön, und klar, da waren diese Herren Genossen aber von einem Tag auf den anderen ganz andere, und der Feind Erich Loest war jetzt ein angenehmer Mensch, dem man auch am Ruhetag natürlich ein Visum ausstellte.

Wesener: Die Situation hat sich dann ja über das Jahr sehr zugespitzt, dann gab es die Montagsdemos. Sie sind im Dezember 1989 zurückgekehrt nach Leipzig. Wie haben Sie diese Stadt vorgefunden?

Loest: Ich habe noch eine Demo miterlebt, das war vor Weihnachten und Magirius verkündete dann: Jetzt ist die letzte Demo vor Weihnachten, gehet hin in Frieden. Ich habe dann im Schriftstellerverband mit meinen alten Kollegen gesprochen, ich war sogar in dem Knast der Stasi, in dem ich mal gesessen habe, da hat mich da ein Fotograf hineingelockt und Reporter, die da auf Sensation aus waren. Die ersten Tage und Wochen war ich schon nach meinen Möglichkeiten eng dabei.

Wesener: Sie beschreiben das in dem Roman "Nikolaikirche" noch mal ganz genau, dieses Stimmungsgefühl: auf der einen Seite hoch aufgeladen und auf der anderen Seite war auch eine Leichtigkeit und so eine phantasievolle Antibewegung. Da war also auch viel Witz, da war viel Komik drin, dass die Situation eigentlich durch das Auftreten der Marschierenden entschärft werden konnte.

Loest: Die Leute hatten dann keine Angst mehr. Bei den ersten Demonstrationen im September, da waren viele stumm, und dann hatten sie Angst, dass geschossen wurde und Gorbi, Gorbi haben sie gerufen. Später sangen sie dann frech "Stasi in den Tagebau". Nachdem der äußere Druck der Gefahr weg war, machten sich dann auch der Humor und der Volkswitz Platz. Das Mäuschen tanzte.

Wesener: Sie haben auch darüber nachgedacht und geschrieben, dass sich dann ganz schnell 1989 der Schwerpunkt von Leipzig wieder zurück nach Berlin verlagerte. Hat Sie das enttäuscht?

Loest: Es ist dann doch der große Versuch gemacht worden am 4. November, die DDR immer noch zu erhalten, zu reformieren - mit dieser von der Partei organisierten großen Demonstration, wo Dampf abgelassen wurde und wo alle möglichen kühnen Versionen durchexerziert wurden, was man nun macht in diesem Land.

Und es war kein Wort davon, die Mauer müsse weg, es war kein Wort davon, die SED müsse zurücktreten. Es war immer noch ein Versuch, die DDR zu reformieren, aber durch diese Reformation zu erhalten. Und dann zog ein paar Tage später ein Funktionär zur falschen Zeit den falschen Zettel aus der Tasche und die Mauer war weg, sie war offen und das Volk flutete hindurch und die Trabis fuhren bis an den Rhein, und das war dann das Ende der DDR. Ein komisches Ende.

Wesener: Sie haben, Erich Loest, mal gesagt, dass Sie immer über die Stadt, über Leipzig, schreiben werden. Sie sind Ende der 90er zurückgekehrt, Sie leben jetzt wieder in Leipzig. Was vor allem haben Sie am Wandel innerhalb der Stadt am meisten empfunden?

Loest: Das war 90, ein neuer Aufbau mit neuen Leuten, die aus dem Westen kamen, mit einem klugen Oberbürgermeister, Lehmann-Grube, dem die Stadt Unendliches verdankt in dieser Zeit. Es kamen Glücksritter, es kamen notwendige Leute und überflüssige Leute, und im Nachhinein unterhalten sich nun viele, was man anders hätte machen müssen, mit der Treuhand und mit dem Geldumtausch und der irrsinnigen Aufwertung der DDR-Mark, die die Wirtschaft sofort zu Boden schmetterte. Und Helmut Schmidt und andere schreiben darüber kluge Bücher und zu diesem Herbst erscheinen wieder kluge Bücher, und unterdessen ist das Leben in dieser Stadt weitergegangen, für manche im Glück, für andere, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, im Unglück. Ich habe mal gesagt: Man kann einen 50-jährigen Metaller nicht zu zwei 25-jährigen Bänkern umschulen.

Wesener: Die Universitätskirche - auch sie ist in Ihren literarischen Texten immer wieder Gegenstand des Erinnerns. Inzwischen gibt es Konturen der neuen Paulinerkirche, und es gibt ja auch Dokumente, die die Zerstörungswut 1969 festhalten. Sie selbst haben in Ihrem neuen Roman "Löwenstadt" auch darauf Bezug genommen. Wie empfinden Sie jetzt diesen Wiederaufbau an dieser Stelle in dieser Form?

Loest: Das hat ja furchtbar viel Ärger gegeben in den letzten Jahren, dort stand ja ein 33 Tonnen schweres Karl-Marx-Relief. Wohin damit? Das ging in der Meinung von Einschmelzen - was nicht meine Meinung war - bis zum Aufstellen dort, wo die Trümmer der Kirche liegen, auf den ehemaligen Sandgruben in (…), und nun ist es wieder aufgestellt worden, immer noch auf Universitätsgelände, und das hat vielen missfallen und mir auch. So ist es mit einem Bild, was Werner Tübke gemalt hat, auf dem die Zerstörer und Verderber der Universität mit Paul Fröhlich zu sehen sind, was die Universität erhalten will und weiterhin aufstellen will, und die …

Wesener: Und Erich Loest wäre nicht Erich Loest, wenn er nicht einen Gegenentwurf hätte machen lassen, der demnächst gezeigt werden wird in dem Erich-Loest-Museum.

Loest: Ja, es ist von mir dann ein Maler gefunden worden nach langem Suchen, Reinhard Minkewitz, der ein Gegenbild gemalt hat: die Opfer der Karl-Marx-Universität, die vertrieben worden sind, die umgebracht worden sind, Hans Bloch und Hans Maier, der Student Ihmels, Natonek, der Pfarrer Schmutzler, und ich dachte, an diesem Bild kann dann an der Universität in Leipzig niemand vorbeigehen. Es hat aber in Leipzig niemand haben wollen.

Wesener: Und dieses Gemälde ist dann in Mittweida im Geburtshaus von Erich Loest aus Teil der ständigen Ausstellung zu sehen?

Loest: Das planen die Mittweidaer. Dort kommt das Bild hin, und wir schauen uns mal an, wie es wirkt.

Samstag, 11. Juli 2009

Mick Jagger zeigt sich als Geschichtsenthusiast


 

Er hat gerade das neue Buch des in Oxford lehrenden Historikers John Darwin zu Ende gelesen – und er ist durchaus angetan. Das Buch heißt "After Tamerlane. The Global History of Empire". Es verschaffe, sagt er, einen wirklichen Überblick: "Man erfährt, wie sich die Weltmacht-Strukturen seit dem fünfzehnten Jahrhundert entwickelt haben und wie sie miteinander verflochten sind. Wenn man sich normalerweise mit Geschichte beschäftigt, sieht man das Ganze doch immer nur aus einem sehr engen Blickwinkel. Darwins Buch setzt all die verschiedenen Weltmächte in Bezug zueinander – bis zum heutigen Tag. Das ist sehr interessant." Historiographische Erwägungen sind nicht eben das, was wir von ihm erwarten. Im Gespräch mit der Journalistin Christiane Rebmann, das am kommenden Montag im Deutschlandfunk zu hören sein wird, aber erweist sich Mick Jagger als Geschichtsenthusiast reinsten Wassers. Er befindet sich dabei in bester Gesellschaft: Schon Christopher Marlowe hat Timur, dem zentralasiatischen Herrscher des vierzehnten Jahrhunderts, ein Schauspiel gewidmet ("Tamburlaine der Große", 1590), Edgar Allen Poe hat ein Gedicht über ihn geschrieben ("Tamerlane", 1827). Jagger, einmal in Fahrt, weiß indes auch Begeisterndes über die Zeiten vor und nach Timur zu berichten. Sein neun Jahre alter Sohn lese gerade eine Weltgeschichte mit vielen Illustrationen: "Er fliegt förmlich durch die Geschichte" – und er stecke ihn, den Vater, mit seiner Leidenschaft an. Als seine historischen Lieblingsfiguren nennt Mick Jagger den russischen Feldherrn Potemkin und den französischen Chefdiplomaten Talleyrand. An beiden fasziniert ihn etwas sehr Ähnliches: Wie sie ihre Lust an gesellschaftlichen Ereignissen, an Bällen und Salongeplauder, mit "harter Arbeit" und einer "Vielzahl von Mätressen" zu verbinden wussten – Talleyrand, sagt er voller Respekt, "hat täglich eineinhalb Stunden auf seine Morgentoilette verwandt". Das Gespräch hat Christiane Rebmann jüngst in einer Suite des Londoner Soho-Hotels geführt. Und natürlich dreht es sich keineswegs nur um den Hobbyhistoriker Jagger. Unlängst hat er "The Very Best of Mick Jagger" veröffentlicht, seine Auswahl aus den vier Solo-Alben seit 1985. Also erzählt er viel Anekdotisches, etwa über die Zusammenarbeit mit John Lennon bei "Too Many Cooks" zu Anfang der siebziger Jahre. Selbstverständlich werden auch einige Songs eingespielt: Kracher wie "God Gave Me Everything", "Dancing in the Street" oder "Memo For Turner". Dies alles ist sehr unterhaltsam, vieles aber auch seit langem bekannt – ganz im Gegensatz zu seiner Geschichtsliebe.            Jochen Hieber


 

"Rock et cetera: Mick Jaggers Arbeit als Solist" ist am Montag um 22.05 Uhr im Deutschlandfunk zu hören.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 01.12.2007 Seite 41

Slowhand, sechsfach fragmentiert

Gitarrengötter brauchen an ihrer Schöpfung nichts zu ändern: Eric Clapton spielt im Rahmen seiner Welttournee ein phänomenales Konzert in der Leipziger Arena.

Die natürliche Überlegenheit des Gitarrenspiels von Eric Clapton wurde mir endgültig klar, als er im Juni 1988 beim Londoner Konzert für die Freilassung von Nelson Mandela auftrat. Er war gar nicht angekündigt, doch plötzlich stand er auf der Bühne – als Rhythmusgitarrist für die Dire Straits. Und obwohl die Band von Mark Knopfler selbst über einen der markantesten Gitarrensounds verfügt, riss Clapton die Musik sofort an sich und verpasste ihr den unverwechselbaren Klang seines Fender-Instruments: mit einer Fingerfertigkeit auf dem Griffbrett, die als größte Selbstverständlichkeit daherkommt – als "Slowhand" feiern ihn seine Anhänger dafür. Plötzlich war er in London der Solist, und es konnte auch gar nicht anders sein. Schließlich ist kein anderer der Heroen auf diesem Instrument so lange im Geschäft wie der heute dreiundsechzigjährige Brite. Neben Alexis Korner gilt er als einziger Weißer, der den Blues bis ins Letzte verstanden und – was noch wichtiger ist – verinnerlicht hat. Und das schon vor den zahllosen Schicksalsschlägen, die sein Leben überschattet haben.

Als er nun zum Auftakt von insgesamt vier Deutschland-Konzerten in der dampfenden Leipziger Arena auf der Bühne steht, sieht man dem schlanken Mann in Jeans, kurzärmeligem Hemd und mit randloser Brille diese traurige Vergangenheit nicht an. Aber man hört sie am noch einmal intensivierten Spiel, den kurzen Soli und im Zusammenklang mit Doyle Bramhall II, der seit einigen Jahren der zweite Gitarrist in Claptons Band ist. Gegenüber dem ein rundes Vierteljahrhundert jüngeren Texaner agiert Clapton als Mentor, der niemandem mehr etwas beweisen muss.

Natürlich ist er auch in Leipzig der Solist, aber einer, der seiner ganzen Band Raum gewährt, am schönsten im zwölfminütigen "Little Queen of Spades", dem Blues-Klassiker von Robert Johnson, den Clapton nach der zuvor flott heruntergespielten Eigenkomposition "Motherless Children" anreißt, als wollte er die Halle zum Einsturz bringen. Doch dann ist es der seit dreißig Jahren mit Clapton zusammenspielende Chris Stainton am Klavier, der mit seinem Solo eine neue Dramaturgie in den Song bringt, die vom Bassisten Willie Weeks und Abe Laboriel Jr. am Schlagzeug aufgenommen und weiterentwickelt wird, bis einem Hören und Sehen vergangen sind. Claptons aktuelle Band ist phänomenal.

Gerne würde man das auch von den weiteren Beteiligten des Abends sagen. Aber Jakob Dylan hat sich für das Vorprogramm zwar Hut und Stimme vom berühmten Vater geliehen und offenkundig dessen wunderbares Album "Oh Mercy" von 1989 oft gehört, doch sein Country Blues ist zu monoton und leichtgewichtig, um mehr als nur Begleitmusik zu sein. Immerhin sympathisch, dass er bei der Vorstellung seiner Band den eigenen Familiennamen bescheiden oder beschämt verschweigt. Gleichfalls enttäuschen neben Clapton dessen beide Background-Sängerinnen, allerdings weniger aus eigener Schuld. Die hervorragende Klangmischung des Leipziger Konzerts deckt die Schwächen nahezu aller Arrangements auf, in denen sie ihr einfallsloses "Hu Hu Hu" erklingen lassen. Zwar hat auch Chris Stainton manche Sünde zu begehen, vor allem bei "Isn't It a Pity", der Hommage an Claptons ehedem besten Freund George Harrison, das im Mottenkisten-Stil der Siebziger gespielt wird, aber spätestens mit "Before You Accuse Me" hat man dem Keyboarder alles verziehen. Die beiden Damen dagegen bekommen keine Chance mehr.

Die Dramaturgie des Abends ist für jeden Clapton-Liebhaber absehbar; es geht los mit "Tell the Truth", dann "Key to the Highway", beide von der "Layla"Platte – schon sind wir mitten in den Klassikern. Bis zum vierten Stück, dem frühen Höhepunkt des Konzerts, einer langen magischen Version von Curtis Mayfields "Here But I'm Gone", in der Clapton den verkappten Reggae-Rhythmus des Lieds aufdeckt, tritt Bramhall II noch als eifriger Mitsänger auf, der sogar einzelne Strophen allein für sich bekommt. Doch dann, nach diesem Feuerwerk der Instrumente, ist er wohl unzufrieden mit der eigenen Sangesleistung neben dem stimmlich blendend disponierten Clapton und schweigt fortan.

In der Mitte des Abends steht der mittlerweile obligatorische Akustikblock, der fünf Lieder umfasst, darunter als Höhepunkt Robert Johnsons "Travelling Riverside Blues". Auch das war zu erwarten, denn gegenüber anderen Konzerten der Tournee wird nur noch die Reihenfolge einzelner Lieder gewechselt. Aber ein Gott, als der Clapton schon vor vierzig Jahren in Graffiti gepriesen wurde, hat an seiner Schöpfung nun einmal nichts auszusetzen.

Das hat auch Nachteile. Niemand brauchte zum Beispiel noch "Wonderful Tonight" oder "Running on Faith" – es waren große Hits, nicht mehr. Aber dann beweist Clapton nach fast zwei Stunden mit dem Finale, dass selbst das Bekannteste noch Spannung bieten kann: "Layla" wird inklusive der elegischen Coda aus der Originalaufnahme mit Derek and the Dominos gespielt und klimpert dann aus, ehe nach einer winzigen Generalpause das unverkennbare Riff von "Cocaine" einsetzt, worin dann Doyle Bramhall II sein bestes Solo bekommt und Eric Clapton das eigene Spiel ganz zurücknimmt, nur schließlich noch einmal in den Saal brüllt: "She don't lie, she don't lie, she don't lie", und dann dem Publikum die Antwort überlässt: "Cocaine". Und da strahlt der ernste Sänger zum ersten Mal.

Auch die Band hat das Leipziger Konzert ernst genommen, und das hat ihm gutgetan. Kaum Bewegung auf der Bühne, bestenfalls tritt Clapton bisweilen an die Seite Bramhalls, der wie ein Zinnsoldat Gitarre spielt; dafür jedoch umso mehr Bewegung in der Musik, ohne dass wirklich improvisiert würde. Es sind die winzigen Effekte mit Wah-Wah-Pedal, Bottleneck oder Plektron, die hier zählen. Und Claptons unglaubliche Geschicklichkeit auf den Saiten, die erfreulicherweise bis ins Detail auf den beiden Großbildschirmen links und rechts der Bühne zu verfolgen ist – und bisweilen sogar mehrfach vergrößert, wenn auch in sechs Teile zerstückelt, auf den wandhohen Diodenstreifen hinter der Band. Mehr als eine Zugabe schenkt der Meister nicht her: "Crossroads", also wieder Robert Johnson. Seinesgleichen hat Eric Clapton nur noch unter den Toten.            Andreas Platthaus

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14.08.2008 Seite 39

Sorry, das war ein Behandlungsfehler

Neue Sachbücher Sorry, das war ein Behandlungsfehler Hauptsache, die medizinische Behandlung ist juristisch wasserdicht. Aber ist sie auch die richtige? Zwei Bücher schlagen Alarm wegen der Verrechtlichung der ärztlichen Kunst.

Erkennen Sie die Melodie? Hören Sie sich doch bitte einmal folgendes Zitat an: "Bei einer solch unterschiedlichen Behandlung der Krankenkassenpatienten, insbesondere der Arbeiter, gegenüber den anderen Patienten durch die Ärzte", so ein zweiundvierzigjähriger ungelernter Arbeiter aus Bayern, "kann kein großes Vertrauen entstehen. Auch sind für die Krankenkassenpatienten immer nur die billigsten Präparate da." Solche und ähnliche Klagen über eine Zwei-Klassen-Medizin bringen Umfragen und Leserbriefe inzwischen zuhauf an den Tag.

Nur, in diesem Fall stammt das Zitat aus einer Befragung, die 1939 stattfand und bei der mehr als zehntausend Personen aus allen Schichten nach ihrem Vertrauen zum Arzt befragt wurden. Kann man also wirklich vom "Ende des klassischen Patienten" sprechen, wie ein Aufsatzband von Winand Gellner und Michael Schmöller zum Wandel der Arzt-Patienten-Beziehung in der Gegenwart suggeriert? Aus medizinhistorischer Sicht ist ein großes Fragezeichen angebracht. Denn Patienten waren nie passiv, auch nicht im GKV-System, das seit mehr als hundert Jahren besteht. Selbst die Bemühungen der Nationalsozialisten, den Arzt als "Gesundheitsführer" mit noch mehr Macht auszustatten, scheiterten an der Eigensinnigkeit der Patienten.

Davon zeugt eindrucksvoll die Konsumentenbefragung aus dem Jahre 1939, die trotz der für das Regime in vielerlei Hinsicht nicht besonders positiven Ergebnisse noch vor Kriegsende als Buch erscheinen konnte. Doch solche Zwischentöne stören das einheitliche Bild des Wandels, das Julia Hillebrand, eine Diplom-Kulturwirtin, von der Arzt-Patient-Beziehung zeichnet. Ihr Beitrag tradiert schwarze Legenden der Medizingeschichte, etwa dass sich die Masse der Bevölkerung vor dem 19. Jahrhundert nicht an einen Arzt wandte.

Das Idealbild der heutigen Gesundheitspolitik scheint, wie mehrere Beiträge des Aufsatzbandes erkennen lassen, der "mündige Patient" zu sein. Dieser ist nach Schmöller "informiert über sein eigenes Krankheitsbild und arbeitet dann an Entscheidungsprozessen mit, wenn sich die Informationsasymmetrie zwischen ihm und dem Arzt als nicht zu groß erweist". Wenn das so einfach wäre! Bereits Kant sah in seiner berühmten Schrift mit dem Titel "Was ist Aufklärung?" menschliche Trägheit als ein zentrales Problem der Arzt-Patient-Beziehung: "Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw.: so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen."

Kant nennt noch einen weiteren wichtigen Faktor, der das Arzt-Patient-Verhältnis beeinflusst, nämlich die Finanzierbarkeit ärztlicher Leistungen. Nicht erst seit dem Arzneimittelversorgungs-wirtschaftlichkeitsgesetz ist die "traditionell persönlich geprägte Beziehung um nüchterne wirtschaftliche Gesichtspunkte" erweitert worden, wie Alexander P. F. Ehlers und Simone Gräfin von Hardenberg behaupten. Bereits 1939 beklagten sich Patienten vehement darüber, dass die Kassen ihren Vertragsärzten Vorschriften machten und auf "billige Medizin" drängten. Auch das Bild des Arztes, der überwiegend kaufmännisch denkt, war längst vor den zahlreichen Reformen, die das bundesdeutsche Gesundheitswesen in den letzten Jahrzehnten über sich ergehen lassen musste, ein häufiger Topos von Patientenklagen.

Für den Weg hin zum mündigen Patienten scheint nicht zuletzt der Trend zu immer mehr Arzthaftungsprozessen zu sprechen. Angesichts der großen Klageflut beschäftigen sich Juristen vermehrt damit, wie Auseinandersetzungen vor Gericht vermieden und Geschädigte gleichwohl zu ihrem Recht kommen können. Obwohl für die Patienten im Unterschied zu anderen Zivilverfahren Beweiserleichterungen gelten, ist es in der Rechtspraxis immer noch schwierig, ärztliche Behandlungsfehler nachzuweisen, weil die Gutachter sich nicht einig sind oder aus Kollegialität sich nicht kritisch äußern.

Dass Patienten in der Bundesrepublik im internationalen Vergleich nicht einmal schlecht gestellt sind, zeigt ein Band von Henning Rosenau und Hakan Hakeri, der Alternativen zu Arzthaftungsprozessen in zwei Ländern mit unterschiedlichen Rechtssystemen (Deutschland, Türkei) in den Blick nimmt. So gibt es in der Bundesrepublik seit 1975 regionale Schlichtungsstellen bei den Ärztekammern, bei denen "die Waffengleichheit" höher ist als bei Zivilprozessen, wie Johann Neu ausführt. In türkischen Krankenhäusern existieren seit 2004 sogenannte "Patientenrechtebüros", die allerdings nur bei der Feststellung von Behandlungsfehlern helfen, aber keine Entscheidungen in der Sache treffen.

In skandinavischen Ländern gibt es bereits seit vielen Jahren Heilbehandlungsversicherungen, bei denen es nicht auf den Nachweis schuldhaften Verhaltens ankommt. Andernorts hofft man, mit "Critical Incident Reporting" zur Fehlerprävention beizutragen. Wie wichtig dieses Thema ist, zeigen nicht zuletzt Befürchtungen, dass die Zunahme von Arzthaftungsprozessen zu einer "defensiven Medizin" führen könnte, bei der der Arzt "weniger seinem Gewissen und dem Wohl des Patienten als vielmehr dem Ratschlag seines Rechtsanwalts verpflichtet ist" (Rosenau). Motto: Hauptsache, die Behandlung ist juristisch wasserdicht. Ob sie auch die richtige ist, steht auf einem anderen Blatt.      ROBERT JÜTTE


 

Winand Gellner, Michael Schmöller (Hrsg.): "Neue Patienten – Neue Ärzte?" Ärztliches Selbstverständnis und Arzt-Patienten-Beziehung im Wandel. Nomos Verlag, Baden-Baden 2008. 224 S., br., 39,– €.


 

Henning Rosenau, Hakan Hakeri (Hrsg.): "Der medizinische Behandlungsfehler". Beiträge des 3. Deutsch-Türkischen Symposiums zum Medizin- und Biorecht. Nomos Verlag, Baden- Baden 2008. 231 S., br., 58,– €.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.10.2008 Seite 34

Sterben ist ein sozialer Prozess

Entscheidungen in Krisensituationen und am Lebensende sind komplex: Der gestern in Berlin vorgestellte Gesetzentwurf zur Patientenverfügung trägt dieser Einsicht Rechnung.

Die Beratungen waren langwierig und offensichtlich mühselig; zeitweilig war unklar, ob es überhaupt gelingen würde, eine gemeinsame Strategie zu finden, um dem Vorstoß für eine weitgehende Deregulierung im Bereich der lebenserhaltenden Behandlungen einwilligungsunfähiger Patienten, der seit einigen Jahren die bioethische Debatte prägt, einen gemeinsamen Gesetzentwurf entgegenzusetzen. Zeitweilig erschien es auch als Strategie, auf eine gesetzliche Regelung der durch Rechtsprechung bereits normierten Vorgehensweisen ganz zu verzichten – eine Überlegung, die aber auch von Gruppen aus der Hospizbewegung wie der Deutschen Hospizstiftung und von Palliativmedizinern kritisiert wurde.

Dem am gestrigen Dienstag nach monatelangen Diskussionen von einer schwarz-rot-grün-gelben Abgeordnetengruppe um Wolfgang Bosbach (CDU), René Röspel (SPD) und Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Grüne) vorgestellten "Entwurf eines Gesetzes zur Verankerung der Patientenverfügung im Betreuungsrecht" merkt man die harte juristische Arbeit an, die dort geleistet worden ist. Es ist ein detailreiches Gesetz, das unterschiedlichen Lebenssituationen und Interessen gerecht werden will. Während der schon vor sieben Monaten von einer rot-rot-grün-gelben Gruppe um die Abgeordneten Joachim Stünker (SPD) und Michael Kauch (FDP) in den Bundestag eingebrachte "Entwurf eines dritten Gesetzes zur Änderung des Betreuungsrechtes" schlank und einfach daherkommt, um der schriftlich formulierten Patientenverfügung als Ausdruck des antizipierten Selbstbestimmungs ohne Wenn und Aber Geltung zu verschaffen, soll der jetzt fertiggestellte Entwurf die Entscheidungsmöglichkeiten der Patienten zur Geltung bringen, ohne aber die Aufgabe des staatlichen Lebensschutzes gerade für schwerstkranke Patienten und die Idee der ärztlichen Fürsorge aufzugeben.

Der Weg dorthin führt über ein sorgsam abgestuftes System, das Unterschiede macht zwischen einer nach ärztlicher Beratung notariell beurkundeten Patientenverfügung, einer Patientenverfügung, die auch ohne Beratung und Beurkundung wirksam ist, und dem mutmaßlichen Willen eines Patienten, der gerade keine Patientenverfügung verfasst hat. Die umstrittene Idee einer sogenannten Reichweitenbegrenzung der Patientenverfügung, die dazu führen sollte, dass Menschen, deren Erkrankung keinen irreversiblen tödlichen Verlauf genommen hat, sondern aussichtsreich behandelt werden kann, keinen Abbruch lebenserhaltender Behandlungen vorab verfügen können sollten, ist in dem neuen Gesetzentwurf nicht mehr enthalten. Allerdings muss, wer für einen solchen Fall – beispielsweise eine Lungenentzündung – wirksam vorab das Unterlassen lebensrettender oder lebenserhaltender Behandlungen verfügen möchte, sich vorab beraten und dann die Patientenverfügung notariell beurkunden lassen. Auch ein (verlängerbares) Zeitlimit der Wirksamkeit einer solchen qualifizierten Patientenverfügung von fünf Jahren schreibt der Entwurf fest.

Bei den Patientenverfügungen, die heute zumeist die Gerichte beschäftigen, geht es allerdings um andere Konstellationen: In diesen Fällen wollen Betreuer von Menschen, die aufgrund von Unfällen oder schwerer Krankheit dauerhaft das Bewusstsein verloren haben oder die infolge einer schweren, nicht behandelbaren, tödlich verlaufenden Erkrankung keine Einwilligung in Behandlungen mehr formulieren können, eine gerichtliche Genehmigung für den Abbruch von lebenserhaltenden Behandlungen erreichen. In so einer Konstellation verlangt auch der jetzt vorgelegte Entwurf nur eine schriftlich abgefasste Patientenverfügung, die auf die eingetretene Situation zutreffen muss. Weder muss sie notariell beurkundet worden sein, noch soll ihre Wirksamkeit von einer vorher stattgefundenen Beratung abhängen.

Allerdings erleichtert der neue Gesetzentwurf, der aus Vorstellungen der Kirchen schöpft, der aber auch Anregungen von Wohlfahrts- und Behindertenverbänden aufgreift, die Durchführung solcher ärztlicher Beratungen, denn er führt einen Paragraphen 24c SGB V ein, der Patienten Anspruch auf eine dokumentierte Beratung zur Patientenverfügung durch den Arzt gibt.

Einen deutlichen Unterschied zu dem Gesetzentwurf der Kauch/Stünker-Gruppe zeichnet das von Bosbach/Röspel/Göring-Eckardt entworfene Regelwerk bei der "mutmaßlichen Einwilligung" aus. Hier geht es um die medizinische Behandlung von Menschen, die gar keine Patientenverfügung erstellt haben oder deren Patientenverfügung nicht für die Behandlungssituation zutrifft, in der eine Entscheidung getroffen werden muss. Bei Stünker/Kauch kann der Betreuer hier unter Berufung auf den durch konkrete Anhaltspunkte zu belegenden mutmaßlichen Willen des Patienten im Ergebnis genauso entscheiden, als wenn eine Patientenverfügung vorläge.

Bei Bosbach/Röspel/Göring-Eckardt geht das nicht. Aus Gründen des Lebensschutzes, aber auch des Respekts dafür, dass ein Patient sich nicht für eine Patientenverfügung entschieden beziehungsweise den nun eingetretenen Fall nicht geregelt hat, ist die Möglichkeit, lebenserhaltende Behandlungen nicht zu ergreifen oder abzubrechen, hier auf die Fälle eingeschränkt, in denen der Patient zwar noch nicht im Sterben liegen muss, aber eine aussichtslose ärztliche Prognose hat. Eine Neuerung gegenüber der bisherigen Praxis und Überlegungen anderer Gesetzesautoren ist auch die Einführung eines sogenannten "beratenden Konsils", das aus Pflegepersonen, Angehörigen, Lebenspartnern und anderen, vom Patienten benannten Personen besteht.

Das "beratende Konsil" trägt dem Gedanken Rechnung, dass die medizinische Behandlung und das Sterben soziale Prozesse sind. Behandelnde Ärzte und Betreuer sollen sich bei ihren Überlegungen über die Beendigung lebenserhaltender medizinischer Maßnahmen an der Diskussion beteiligen, ohne dass diesem mehr informellen Kreis allerdings Entscheidungsbefugnisse eingeräumt wären.

Der jetzt vorgelegte Entwurf, der auch die Bedeutung von Vorsorgevollmachten unterstreicht, hat das Potential, der Debatte über medizinische Behandlungen am Lebensende, die in den nächsten Wochen im Bundestag und in seinen Ausschüssen noch einmal Platz greifen wird, eine neue Richtung zu geben. Seine größe Stärke ist zugleich seine Schwäche: Er trägt der Einsicht Rechnung, dass Entscheidungen über medizinische Behandlungen in extremen Krisensituationen und am Lebensende komplex und nicht einfach sind. Ob sich vermitteln lässt, dass das auch Konsequenzen für ein Gesetz haben muss, das hier versucht, Klarheit zu schaffen, das deswegen aber nicht ganz einfach sein kann, wird über sein Schicksal entscheiden.             Oliver Tolmein

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.10.2008 Seite 35

Dionysos und der Buchhalter

Seit seiner Kindheit beschäftigt Daniel Kehlmann sich mit dem Werk Thomas Manns. Dessen Bücher sind für den Wiener Schriftsteller von unvergleichlicher Perfektion, reich an Witz, aber auch von Dämonen bevölkert. Für die Annäherung an Thomas Mann, so Kehlmann, muss man nicht nur genau lesen können, sondern auch Mut haben.

Von Daniel Kehlmann

Im Dezember 1947 wurde das Haus am San Remo Drive in Pacific Palisades von zwei vierzehnjährigen Schülern besucht, einem Jungen und einem Mädchen. Sie hatten angerufen, die Nummer stand ja im Telefonbuch, und waren sofort eingeladen worden. Erst vierzig Jahre später, inzwischen selbst eine berühmte Schriftstellerin, schrieb Susan Sontag ihre Erinnerungen an diesen Nachmittag auf.

Mit maliziösem Witz schildert sie, wie Thomas Mann in seinem thronartigen Stuhl sitzt und seine Mundwinkel mit der Serviette abtupft: freundlich, gravitätisch, sehr hölzern. Was man denn so lese als junger typischer Amerikaner, fragt er die beiden, die sich natürlich keineswegs als typisch empfinden, um dann sogleich in einen Monolog zu fallen. "Ich hätte nichts dagegen gehabt, dass er gesprochen hätte wie ein Buch", erinnert sich Sontag. "Ich wollte ja, dass er sprach wie ein Buch. Was mich immer mehr störte, war, dass er sprach wie eine Buchrezension."

Und es wurde schlimmer. "Er fragte nach unseren Studien. Unseren Studien? Noch mehr Peinlichkeit. Ich war sicher, er hatte nicht die geringste Idee, wie eine Highschool in Südkalifornien aussah. Wusste er von der Fahrausbildung (verpflichtend)? Von den Tippkursen? Wäre er sehr überrascht gewesen über die faltigen Kondome, die man sah, wenn man über die Wiese lief und seine erste Periode hatte, und über den sogenannten ‚Tee', den ein Pärchen Pachuken in den Vormittagspausen an der linken Wand der Schulaula verkaufte? Könnte er sich George vorstellen, der, wie einige von uns wussten, eine Waffe besaß und Geld von Tankwarten bekam? Wusste er, dass kein Latein mehr auf dem Lehrplan stand und kein Shakespeare und dass die sichtlich überforderte Englischlehrerin der zehnten Klasse monatelang bloß Exemplare von ‚Readers Digest' verteilt hatte – wir sollten einen Artikel auswählen und schriftlich zusammenfassen –, um danach die ganze Stunde schweigend, nickend und strickend an ihrem Tisch zu sitzen? Konnte er sich vorstellen, wie weltenfern von jenem Lübecker Gymnasium, wo der vierzehnjährige Tonio Kröger Hans Hansen umworben hatte, indem er versucht hatte, ihn dazu zu bringen, ‚Don Carlos' zu lesen, North Hollywood High School war, die Alma Mater der Kinostars Farley Granger und Alan Ladd? Er konnte es wohl nicht, und ich hoffte, er würde es nie können. Er hatte genug Gründe zur Traurigkeit."

Das ist rührend und doch nicht ohne Boshaftigkeit, es stimmt überein mit dem Bild, das wir bis heute von ihm haben: die Starrheit der Repräsentationsfigur, eine nicht wirklich sympathische Weltfremdheit – es ist schwer, sich ihm nahe zu fühlen. Hans Mayer versuchte dieses Unbehagen in die Formel von Manns "Ungeliebtheit" zu bannen und hatte damit wohl, abgesehen nun von der doch leicht kitschigen Begriffswahl (man soll, könnte man unter Abwandlung von Hannah Arendt einwenden, seine Freunde lieben, aber keine Völker und auch nicht unbedingt Schriftsteller), nicht so ganz und gar unrecht.

Die erste und wohl wichtigste Reaktion auf einen Autor ist aber noch nicht von Reflexion bestimmt, sondern von unmittelbarer Resonanz, und da kann es ganz anders aussehen. Mit dreizehn hielten mich die "Buddenbrooks" gepackt wie noch selten ein Buch zuvor, mit sechzehn saß ich fasziniert über dem "Zauberberg", und mit siebzehn lernte ich aus dem "Doktor Faustus", dass alle Möglichkeiten der abendländischen Kunst erschöpft seien, jede denkbare Melodie komponiert, alle großen Romane geschrieben und dass die Zukunft nur mehr Parodie und mildes Nachspiel sein werde. Für kurze Zeit schrieb ich also folgsam Lautgedichte und bedauerte mich als blassen Spätgeborenen, so sehr glaubte ich ihm jedes Wort, dann aber befreite mich Thomas Mann selbst von solch luftlosen Theorien, und zwar durch sein heiterstes, lichtdurchflutetes Spätwerk: "Joseph und seine Brüder" – ein in jeder Hinsicht großer Roman, wie es ihn nach den Lehren von Leverkühns Teufel lange schon nicht mehr hätte geben dürfen.

Und doch: Sogar als einst Begeisterter empfindet man Thomas Mann gegenüber dieses Unbehagen, das sich gegenüber Nabokov, Borges und Proust nicht einstellen will. Wie also erklärt man, dass einerseits die Verehrung für ihn nie völlig ungemischt ist und dass andererseits dieser "Ungeliebte" Generation um Generation so viele Leser mehr findet als die meisten Autoren nicht nur seiner Zeit? Schriftsteller, sagte Norman Mailer, hätten die Fähigkeit, sich selbst am Schopf aus dem Sumpf zu ziehen, sie seien Experten darin, ihre Schwächen in Stärken zu verwandeln. Kann es sein, dass auch Thomas Manns Größe mit jener problematischen Seite untrennbar verbunden ist und dass das Grandiose an ihm nicht zu haben ist ohne das, was einen an ihm stört?

Müsste man sein Hauptthema auf möglichst abstrakte Art beschreiben, man hätte wohl vom Widerspiel von Emotionalität und Repression, von Pflicht und Leidenschaft zu sprechen, von einem Sichgehenlassen, das in seiner Welt immer verboten ist und immer lockt, und einer Disziplin, deren Bedeutung gerade darin liegt, dass sie im entscheidenden Moment versagt. Die Grundgegensätze heißen manchmal Bürgerlichkeit und Künstlertum, manchmal Gesundheit und Krankheit; im "Tod in Venedig" sind sie Respektabilität und Homosexualität und im "Joseph" die im Jaakob'schen Segen verkörperten Pole oben und unten, Himmel und Tiefe. Diese Spaltung, nicht so sehr zwischen Apollo und Dionysos als zwischen Buchhalter und Bohemien, bestimmt die Inhalte seines Erzählens, sie erzeugt aber auch dessen emotionalen Pendelschlag, den eigentümlichen Wechsel zwischen eiserner Kontrolle über das Material und scheinbar unvermitteltem Ausbruch. Bei Thomas Mann existiert das Rigide, um wirkungsvoll zu scheitern, in seinem Erzählton klingt stets die Stimme Aschenbachs mit, der ein bürgerlich respektabler Langeweiler sein möchte, aber zu seiner Größe findet genau dadurch, dass ihm das mit einemmal nicht mehr gelingt. Erst im "Verfall einer Familie" lässt sich über diese schreiben, im Zusammenbrechen der Struktur offenbart sich das Menschliche, und auch das Wesen europäischer Zivilisation wird am deutlichsten im Sanatorium und in der Verzerrung durch die Krankheit – vom Familienzerfall also zum Verfall einer Weltkultur, und indem Joseph die uralten Schemata bricht und aus dem vermeintlichen Gotteskind ein profaner Wirtschaftsminister wird, ist auch das Wesen des Mythos für den Roman fassbar.

Wie Aschenbach vor seiner schicksalhaften Begegnung mit dem geisterhaften Herrn im Münchner Park, so gibt sich auch der Romancier Thomas Mann als einer, der mit der wilden Seite des Lebens nichts zu tun haben will. In Wahrheit aber ist genau diese sein Thema, und von immer neuen Blickwinkeln aus setzt er in Szene, wie die Ordnungen scheitern und das Verdrängen versagt – darin eben liegt sein großes Täuschungsmanöver und der Grund, dass seine immer wieder verblüffende Gefühlsintensität nicht zu haben ist ohne den Habitus des kühlen Gelehrten, der am Schreibtisch Krawatte trug und dessen Anblick, sei es auf Fotos, sei es an der kalt schimmernden Oberfläche seiner Prosa, uns befremdet und verstört.

Dabei betonte er selbst immer wieder, dass er nicht jener poeta doctus war, als der die eigenen Romane ihn ausgeben. Joyce und Proust, Nabokov und Borges, sie alle wissen viel mehr und haben ihre Kenntnisse mit einer Natürlichkeit assimiliert, die ihm fremd bleibt. Da ist stets etwas Parvenühaftes an seiner Bildung, da ahnt man immer ein wenig den Schulabbrecher und Lexikonabschreiber, der Arthur Koestler erklärte, dass er gar nicht zu viel Information wolle, denn das behindere die Phantasie. Das war vielleicht aus einer Laune heraus dahingesagt, aber es beschreibt seine Methode auf das Gründlichste: Er ist ein Autor der Unmittelbarkeit, der sich als Virtuose der Vermittlung tarnt, ein Pathetiker, maskiert als Ironiker. Ich habe, offen gesagt, noch nie einen Leser getroffen, der an den Diskussionen zwischen Naphta und Settembrini echte Freude gehabt hätte – und doch wird kaum einer leugnen, dass der Roman diese Dialoge ebenso braucht wie die doch oft recht bleiernen Passagen über Krankheit, Bakterien und Kosmologie. Denn sie bereiten jene Stellen vor, die ganz plötzlich kommen und treffen wie Blitze; jene Stellen, deren Energie über das ganze Buch ausstrahlt und in denen gewissermaßen immer von neuem der Knabe Tadzio vor Aschenbach hintritt, so dass es diesem die Würde und die Rede verschlägt.

So paradox es klingen mag: Thomas Mann ist unter allen Autoren der Klassischen Moderne der pathetischste, der gefühlsunmittelbarste, er ist distanzierter als die anderen, weil er mehr zu verbergen hat. Seine Ironie verhüllt einen Erzähler des Rausches und der Entgrenzung, der zuverlässig jede Hauptfigur in eine Lage führt, in der sie die Kontrolle über ihr Leben verliert und das Chaos so unbarmherzig nach ihr greift wie am ersten Abend auf dem Berg das Fieber nach dem armen Hans Castorp: "Aber sobald er eingeschlafen war, begann er zu träumen und träumte fast unaufhörlich bis zum anderen Morgen. Hauptsächlich sah er Joachim Ziemßen in sonderbar verrenkter Lage auf einem Bobschlitten eine schräge Bahn hinabfahren. Er war so phosphoreszierend leicht wie Dr. Krokowski, und vorneauf saß der Herrenreiter, der sehr unbestimmt aussah, wie jemand, den man lediglich hat husten hören, und lenkte. ‚Das ist uns doch ganz einerlei – uns hier oben', sagte der verrenkte Joachim, und dann war er es, nicht der Herrenreiter, der so grauenhaft breiig hustete."

Solch halluzinogenes Flirren wäre auch Jack Kerouac oder Hunter S. Thompson nicht besser gelungen. Es überfällt einen wieder im "Walpurgisnacht"-Kapitel, in dem das strenge Hausregime, sowohl des Sanatoriums als auch des Romans, seine Macht verliert und Hans Castorp auf Französisch vor Frau Chauchat seine Seele ausspricht, dann in ungehemmter Gewalt im Kapitel "Schnee", in dem Hans, umfangen von feindlicher Natur, ins Delirium driftet. Aber Manns Augenblicke der Unmittelbarkeit können auch leise, fast unmerklich stattfinden, wie etwa beim gemeinsamen Friedhofsbesuch von Hans, Joachim und der jungen Karen Karstedt, einem Mädchen, von dem alle wissen, dass ihm nur noch wenige Wochen zu leben bleiben. Plötzlich kommen die drei zu einer freien Stelle – ebenjener, es wird nie ausgesprochen, wo Karen binnen kurzem liegen wird. "Sie standen, das Fräulein etwas vor ihren Begleitern, und lasen die zarten Angaben der Steine – Hans Castorp gelöst, die Hände vor sich gekreuzt, mit offenem Munde und schläfrigen Augen, der junge Ziemßen geschlossen und nicht nur gerade, sondern sogar ein wenig nach hinten abgeneigt – worauf die Vettern mit gleichzeitiger Neugier von den Seiten verstohlen in Karen Karstedts Miene blickten. Sie merkte es dennoch und stand da, verschämt und bescheiden, den Kopf schräg vorgeschoben, und lächelte geziert mit gespitzten Lippen, wobei sie rasch mit den Augen blinzelte." Ein Moment existentieller Peinlichkeit: Keiner weiß etwas zu sagen, und plötzlich steht der Tod nicht mehr für Kunst oder ästhetische Verfeinerung oder was auch immer, sondern einfach nur kalt, fremd und unausweichlich für sich selbst.

Dieses Erzählen lebt von Momenten des Umschlags. Aschenbach habe immer so existiert, sagt jemand im "Tod in Venedig" und zeigt seine zur Faust geschlossene Hand, nie aber so, und lässt die Hand offen herabfallen. So arbeitet auch Manns Prosa: Über lange Kapitel ist die Faust geschlossen, und wir betrachten mit ambivalenter Bewunderung ihre distanzierte Brillanz, ihren vollkommenen Stil, ihre scheinbar unzerstörbar souveräne Ironie . . . – doch plötzlich öffnet sich die Hand, die Masken fallen, das Geordnete bricht, und die Figuren werden zum Teil höchst willige Opfer von Trieb und Rausch, Schmerz, Traum, Fieber, Krankheit und Vision: Thomas Buddenbrooks Zusammenbruch, die Agonie der Kinder Hanno und Echo, das geisterhafte Auftauchen Goethes in Charlotte Buffs Kutsche und, die vielleicht berührendste Stelle in seinem Gesamtwerk, der Abend, da Joseph den Majordomus Mont-Kaw unter Aufbietung all seiner Eloquenz in den Tod hypnotisiert.

Fortsetzung auf der folgenden Seite

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.10.2008 Seite Z1


 

Fortsetzung von der vorherigen Seite Dionysos und der Buchhalter

"Ist's nicht mit Müssen und Dürfen heut wie nur jemals, wenn dir mein Abendsegen empfahl, doch ja nicht zu denken, du müsstest ruhen, sondern du dürftest? Siehe, du darfst! Aus ist's mit Plack und jeglicher Lästigkeit. Keine Leibesnot mehr, kein würgender Zudrang noch Krampfesschrecken. Nicht ekle Arznei, noch brennende Auflagen, noch schröpfende Ringelwürmer im Nacken. Auf tut sich die Kerkergrube deiner Belästigung. Du wandelst hinaus und schlenderst heil und ledig dahin die Pfade des Trostes, die tiefer ins Tröstliche führen mit jedem Schritt."

Immer trifft einen das unvorbereitet, immer wie zum ersten Mal. Seine Meisterschaft liegt eben darin, dass er das Gegenteil eines Theoretikers ist, und so stört es auch nicht, dass er die in die Romane eingeschlossenen Essaypassagen – die tatsächlich neben denen eines genuinen Denkers wie Musil recht blass aussehen – aus Kompendien abschrieb oder sich von fragwürdigen Autoritäten in die Feder diktieren ließ; weiß Gott, es hätte dem "Doktor Faustus" nicht schlechtgetan, wenn er sich von einem anderen Philosophen hätte beraten lassen als dem, der Strawinski und den Jazz als faschistische Regressionen abtat und voraussagte, dass Schönbergs Musik binnen kurzem populärer sein werde als die Wagners. Wo Thomas Mann aber nicht Meinungen anderer wiedergibt, wo er seine eigene Fähigkeit zu Einfühlung und höherem Rollenspiel walten lässt, ist seine Erkenntniskraft kaum zu übertreffen.

Warum wird eigentlich so selten erwähnt, dass seine Essays über Schriftsteller nicht nur wohlformuliert und geistreich sind, sondern vor allem so gut wie immer vollkommen richtig? Kaum etwas Treffenderes wurde über Schiller geschrieben als Manns große Schiller-Rede, kaum Besseres über Wagner als sein Wagner-Aufsatz, wohl nichts Gültigeres über Kleists Prosa als seine für amerikanische Leser geschriebene Einführung in dessen Erzählungen, und der Korpus seiner Auseinandersetzung mit Goethe lässt sich immer noch spielend mit dem Allerbesten messen, was die Germanistik hervorgebracht hat. Marcel Reich-Ranickis Diagnose, dass Thomas Mann, von wem auch immer er sprach, nur von sich gesprochen habe, ist natürlich richtig, übergeht aber das Wesentliche, dass er nämlich das Kunststück fertigbrachte, von diesen anderen sprechend so von sich zu sprechen, dass er darin stets und zuverlässig das Wesentliche über die anderen traf.

Immer also der Pendelschlag zwischen Ferne und Nähe, zwischen Distanz und rückhaltloser Unmittelbarkeit. Wir finden ihn auch zelebriert in der erhabenen Langeweile seiner Tagebücher: die schärfste Aufmerksamkeit für die Regungen des Triebes, zugleich dessen rigorose Unterdrückung. Nein, seiner selbst entfremdet war er nicht, und auch vor der Nachwelt, der er die Tagebücher hinterließ, versuchte er nicht, sich zu verstecken. Er war ein Meister im Repräsentieren, aber dass die Rolle des Repräsentanten hohl ist und schief, schlimmstenfalls lächerlich und noch im besten Fall prekär-problematisch, diese Tatsache können wir nicht gut gegen ihn verwenden, denn wir haben sie ja von ihm gelernt; er brachte sie uns bei, sie ist ein Hauptthema seiner Romane. Dem echten Künstler ist die eigene Seele kein Geheimnis, würde er die Dämonen in sich nicht kennen, wie könnte er sie Tag für Tag, zurückgezogen im wohlgeordneten Arbeitszimmer, aufs Papier bannen? So wichtig war ihm die Disziplin und so tief durchschaute er zugleich das Alberne, das den Menschen Verkleinernde an ihr, dass er seiner im umfassendsten Sinn liebenswürdigsten Figur, Joseph-Osarsiph, den leitmotivisch wiederholten Bibelsegen "von oben vom Himmel herab und von der Tiefe, die unten liegt" mitgab, auf dass ein einziges Mal Gleichgewicht herrschen und einer wenigstens gottbegnadet sein sollte – umweht von Magie und zugleich doch auch Großbuchhalter, Ernährungsminister und respektabler Politiker.

"Joseph", das ungelesene Hauptwerk, der ignorierte Jahrhundertroman, der so leicht der deutschen Literatur hätte eine andere Richtung weisen können. Ein Buch, dessen Figuren im Lauf der Handlung erst aus dem mythischen ins geschichtliche Zeitalter treten, ein Spiel mit Charakteren, die nur halb schon Individuen sind und halb noch Ausführende mythischer Verhaltensmuster – Menschen, die sich noch mit ihren Altvorderen verwechseln, erst im Übergang begriffen in moderne Psychologie. Ein Roman, der viel gemeinsam hat mit Joyces Traummythenbuch "Finnegans Wake", aber so viel heiterer und lesbarer ist und letztlich auch umfassender im philosophischen Entwurf: ein Epos über die Herauslösung des Individuums aus dem archaischen Kollektiv und die dabei wie nebenher sich ereignende Erfindung Gottes – und all das so verspielt und voll Leichtigkeit erzählt, als koste es keine Anstrengung. Doch das literarische Deutschland wollte anderes lesen als solch frühe Postmoderne aus dem Exil, machte sich lieber auf in Richtung von Engagement und treuherzigem Realismus, und die immer noch fortwirkende Abkoppelung Deutschlands von den Strömungen der Weltliteratur nahm ihren traurigen Anfang.

Ja, man versteht Susan Sontags Enttäuschung gut. Wer möchte schon gerne einem nicht gestrauchelten Gustav Aschenbach gegenübersitzen, einem alten Lübecker Honoratioren, der alles Unheimliche auf den gut aufgeräumten Schreibtisch und in die Bücher verbannt hat und nunmehr spricht wie eine Buchrezension? "Jahre später", schließt sie ihren Rückblick, "nachdem ich selbst Schriftstellerin geworden war, nachdem ich viele andere Schriftsteller kennengelernt hatte, lernte ich, toleranter zu sein gegenüber der Kluft zwischen der Person und dem Werk." Wie wahr – und doch ganz falsch. Denn die scheinbare Kluft zwischen Person und Werk ist eigentlich eine Kluft in seiner Person, und sie ist ganz und vollständig im Werk ausgedrückt.

Wäre Thomas Mann nun also schockiert gewesen über all das, was sie ihm nicht sagen wollte – Kondome auf der Wiese, der Schulkollege mit der Waffe, die Drogenhändler? Ja und nein; als ältlicher Würdenträger sicherlich, als Künstler wohl kaum, denn noch der zahmste Teil seines Werks enthält mehr Chaos und Brutalität als all diese Schreckensbilder vom kalifornischen Schulhof. Es ist ein Werk von unvergleichlicher Perfektion, voll Witz und voller Dämonen, voll Schönheit und dunkler Winkel, denen man sich nur unter Aufbietung seines ganzen Mutes nähern kann. Erzengel treten in ihm auf und der Teufel und eine Menge zivilisierter Leute aus dem Zwischenreich; sie alle versuchen ordentlich zu sein und respektabel, aber es will ihnen nicht gelingen. Nur er selbst brachte es einigermaßen fertig und war sehr stolz darauf – so wie ich stolz bin auf diesen in seinem Namen vergebenen Preis.

■ Daniel Kehlmann hielt diese Dankesrede anlässlich der Verleihung des Thomas-Mann-Preises der Stadt Lübeck am vergangenen Samstag.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.10.2008 Seite Z2

„Die Menschen haben sich verzockt“

Deutschland in der Krise

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Die Deutschen sind angesichts der Krise schwer verunsichert - und auch die Kanzlerin weiß keinen Rat

08. Dezember 2008 Der Psychologe Stephan Grünewald über die Auswirkungen der Krise auf die Befindlichkeit der Deutschen - und über Merkels Zögerlichkeit.

Herr Grünewald, ist die Krise überhaupt schon in den Köpfen der Menschen angekommen?

Zum Teil. Im Alltag erleben die meisten Leute noch keine Krisensymptome - es kommt ja noch Geld, wenn man die Karte in den Automaten steckt, und Lebensmittel gibt es auch. Die meisten Arbeitsplätze scheinen noch sicher, sogar das Inflationsbarometer der Nation, nämlich der Benzinpreis, fällt derzeit. Insofern haben viele Bürger das Gefühl, von der Krise sogar zu profitieren, weil sie mehr Geld im Säckel haben. Andererseits bekommen sie natürlich das ständige Krisengerede in den Medien mit - und das hat eine stark verunsichernde Wirkung. Vor allem die 500-Milliarden-Staatsbürgschaft hat zu dem Gefühl geführt: Wenn so unermessliche Beträge bereitgestellt werden, muss irgendwas Schlimmes passiert sein.

Die Krise ist für viele Menschen derzeit also noch abstrakt. Ist das nicht das eigentlich Furchterregende daran: zu wissen, es droht schlimme Gefahr - und gleichzeitig diese Gefahr nicht richtig benennen und einordnen zu können?

Genau, das ist wie ein riesiges schwarzes Loch. Und dieses schwarze Loch kann alles verschlingen: Girokonten, Sparanlagen, Immobilien - ganze Banken können darin verschwinden. Diese Vorstellung ist derart ungeheuerlich, dass sie von den Leuten sofort wieder abgewehrt werden muss. Bei den Anschlägen vom 11. September hatten die Menschen immerhin noch das Gefühl, dass sich Trümmer beiseiteräumen lassen und der Terrorismus bekämpft werden kann. Vor dem schwarzen Loch jedoch versagt jede Handlungsfähigkeit. Das ist für die Menschen unaushaltbar.

Wie reagieren die Menschen auf dieses "Unaushaltbare"?

Mit einer Art Schockstarre: Man steckt den Kopf in den Sand, beschwört die Normalität - und setzt auf die Macht des Staates. Vater Staat soll sich möglichst breitbeinig vor dieses schwarze Loch stellen und dafür sorgen, dass da nichts reinflutscht. Gleichzeitig sorgen die ständigen Hiobsbotschaften dafür, dass die Bürger nicht nur die Normalität beschwören, sondern gleichzeitig auch Risikominimierung betreiben. Das führt im Weihnachtsgeschäft zu einem fast paradoxen Effekt: Große Investitionen - wie etwa in ein neues Auto - werden zwar abgesagt, gleichzeitig feiern die Bürger aber so etwas wie einen "Konsumkarneval". Der Karneval ist ja das Fest der letzten Stunde, eine Lebenssteigerung vor der toten Fastenzeit.

Der Psychologe Stephan Grünewald sieht in der Krise auch eine Chance auf Selbstbesinnung

Ist es nicht erstaunlich, dass die Leute Karneval feiern, anstatt zornig vor die Bankhäuser zu ziehen, um zu demonstrieren? Immerhin hat die Finanzbranche Milliarden vernichtet, und am Schluss müssen die Steuerzahler die Zeche zahlen. Wieso entsteht denn da kein revolutionärer Impuls?

Weil die Menschen spüren, dass sie sich in Wahrheit mitverzockt haben. Dieses Lebensideal, mit minimalem Aufwand ein Maximum an Rendite abzuräumen, herrschte ja nicht nur in der Finanzbranche - sondern in der gesamten Gesellschaft. Jugendliche träumen davon, über Nacht zum Superstar zu werden. Wir suchen Glückserfüllung durch Masturbation vor dem Fernseher, weil wir auf diese Weise ohne aufwendiges Liebeswerben zum Höhepunkt kommen. Letztlich sind ja auch diese ganzen Kontaktforen im Internet nichts anderes als soziale Spekulationsblasen: tausend Kontakte, aber kein einziger Freund aus Fleisch und Blut. Das ist ja alles im gesellschaftlichen Denken enthalten - also müssten die Menschen schon gegen sich selbst revoltieren.

Allerdings hat ein Durchschnittsbürger keine tollen Bonuszahlungen abgegriffen.

Richtig, deshalb müssen natürlich auch in dieser Krise ein paar Sündenböcke definiert werden. Das sind jetzt die Manager und vor allem die Bankangestellten, die sich verzockt haben. Aber dass das nicht zum offenen Protest führt, ist dann eben doch Ausdruck dieser verspürten Ambivalenz: Ich bin eigentlich mitschuld, weil ich Teil des Systems bin.

Sie konstatieren seit Jahren eine tiefe Verunsicherung bei den Deutschen - hervorgerufen durch die Globalisierung, durch Geschlechterrollen, die nicht mehr klar definiert sind, oder auch aufgrund mangelnder Zukunftsperspektiven. Wird die derzeitige Krise diese Verunsicherung weiter verschärfen? Oder sehen wir hinterher vielleicht sogar wieder klarer und haben neue Ziele vor Augen?

So eine Krise ist natürlich immer eine Chance zur Selbstbesinnung. Die Deutschen haben sich etwa bei der Flutkatastrophe im Jahr 2002 als "einig Volk" erlebt, und nach dem verheerenden Tsunami waren wir Spendenweltmeister, weil wir das Gefühl hatten, einen sinnvollen Beitrag in der Welt leisten zu können. Wenn es der Politik gelingt, die Finanzkrise nicht nur als schwarzes Loch erscheinen zu lassen, sondern als ein konkretes Problem, gegen das wir alle etwas tun können und müssen, dann würde das die Verunsicherung mindern. Dann gäbe es nämlich eine "Negativ-Vision", an der man sich abarbeiten könnte.

"Negativ-Vision" im Sinne von: So etwas darf nie wieder passieren?

Ja, als einigendes Dagegensein. So wie bei der drohenden Klimakatastrophe, die von Frau Merkel ja auch ganz geschickt als Negativ-Vision gespielt wird. Die Kanzlerin kompensiert so ihre Visionslosigkeit und gibt uns das Gefühl, wir können jetzt kollektiv das Ozonloch stopfen, wenn wir andere Autos fahren oder anders heizen.

Im Angesicht der Finanzkrise bleibt die Kanzlerin allerdings weitgehend passiv. Müsste Frau Merkel nicht - wie etwa Sarkozy in Frankreich - viel mehr tun, um Vertrauen in der Bevölkerung zu gewinnen?

Die Kanzlerin wird ja von den Deutschen dafür geliebt, dass sie eben nicht wie Schröder als lautstarke Führungsfigur auftritt, sondern gewissermaßen als Vermittlungsengel. Man erlebt Angela Merkel als eine Gestalt, die Extreme ausgleicht, die ausbalanciert und die das vertrauensvolle Gefühl vermittelt: "Bei mir fällt keiner durch den Rost."

Mag ja sein, aber reicht dieses Verhalten aus in einer akuten Krisensituation, wie wir sie jetzt erleben? Muss sie da nicht einfach mal richtige Führungsqualität beweisen?

Es reicht erst mal aus, um die groben Ängste zu mindern. Der Vermittlungsengel stellt sicher, dass mich das schwarze Loch nicht verschlingt. Da ist man erst mal froh. Was jetzt aber eine Zukunftsperspektive angeht, da kommt von der Kanzlerin natürlich zu wenig. Und da sind wir im Grunde genommen wieder bei dem urdeutschen Dilemma, dass wir uns schwertun, klare Zielvorgaben zu entwickeln. Die aus den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus herrührende Tabuisierung von Visionen existiert eben immer noch.

Wenn Sie die Kanzlerin als Psychologe beraten sollten, was würden Sie ihr empfehlen?

Ich glaube, es sollte ihr weniger um Konjunkturprogramme gehen, die ja auch nur eine beschwichtigende Funktion haben, als vielmehr um klare Leitlinien: Was sind unsere Stärken, was können wir der Welt geben? Zum Beispiel der Erfindungsreichtum deutscher Ingenieure - zum deutschen Naturell gehört ja auch immer ein bisschen die Hoffnung, dass wir aus der Position der Weltzerstörer rauskommen und zu Weltrettern werden. Ich glaube, die Deutschen haben ein Potential, gerade in der Not erfinderisch zu sein, ihre Entwicklungskünste zu entfalten. Wichtig ist, dass das jetzt kanalisiert wird, dass wirklich konkret gesagt wird, welches unsere Zukunftsfelder sind.

Ist die Krise vielleicht auch dafür gut, neue Leitbilder zu finden? Die "Masters of the Universe" von der Wall Street, die großen Finanzjongleure und Investmentbanker, wurden als gesellschaftliche Orientierungsfiguren ja praktisch über Nacht abgeräumt. Wer könnte an deren Stelle treten?

Wir erleben schon seit ein paar Jahren einen Umbruch, was die Leitbilder angeht. Früher hatten wir wirklich perfekte Leitbilder, die Arnold Schwarzeneggers dieser Welt und andere, wie Sie sagen, "Masters of the Universe". Die entsprachen der digitalen Allmachtsphantasie: Wir können alles in der Welt bewegen. Inzwischen kehrt aber fast ein neues Realitäts- oder Demutsprinzip ein. Schauen Sie sich doch nur mal die Fernseh-Charaktere an: Dr. House, Adrian Monk - das sind, wie ich sie nenne, behinderte Kunstwerke. Brüchige Gestalten, die im Kampf mit dem Schicksal etwas bewegen. Dr. House, mittlerweile Deutschlands beliebteste Fernsehfigur, ist ja ein körperlicher und seelischer Krüppel, der aus seiner Behinderung aber etwas macht und dadurch an Liebreiz gewinnt. Die neuen Helden sind nicht perfekt - und das kann man gewissermaßen auch Frau Merkel zugutehalten. Sie ist ja wahrlich kein Top-Model, sondern eine Frau, die ihre Ecken und Kanten, Behinderungen und Probleme hat.

Und sie ist eine ostdeutsche Protestantin, die im Vergleich mit ihrem Amtsvorgänger irgendwie geerdeter und ernsthafter erscheint. Kehrt nach der Ära des schnellen Geldes womöglich das protestantische Arbeitsethos zurück?

Die Vorstellung, dass wir per Knopfdruck die Welt verändern können, ist natürlich immer noch in den Köpfen der Menschen verankert - und bewahrheitet sich ja auch täglich im Internet. Sie googeln sich innerhalb weniger Sekunden die halbe Welt zusammen oder haben nach wenigen Mausklicks die erotische Phantasie vor Augen, die ihren Tagträumen genügt. Der Aufwand, den wir früher mal betreiben mussten, um an irgendetwas heranzukommen, ist enorm geschrumpft, und die Leute haben unbewusst das Gefühl, das müsse in jedem Lebensbereich so funktionieren. Es gibt allerdings eine Gegenbewegung, die darin besteht, sich auf die analoge Prozesshaftigkeit des Alltags einzulassen. Davon zeugen zum Beispiel die vielen Koch-Shows. Beim Kochen muss man ja stundenlang in der Küche stehen, da kann man am Herd auch grandios scheitern - aber wenn etwas gelingt, ist der ganze Freundeskreis bezaubert.

"Es gibt sie noch, die guten Dinge", wie es beim Versandhaus "Manufactum" heißt . . .

Das bedeutet nicht, dass die Leute jetzt jeden Tag kochen - aber zumindest haben sie das Gefühl, einmal pro Woche muss ich zeigen, dass ich mit Arbeit etwas bewegen kann. Eine der erfolgreichsten Zeitschriften der letzten Jahre ist ja "Landlust", in der es um die Rückkehr zu einem analogen Leben geht, das sich den Rhythmen der Natur anpasst, in dem man auch selber wieder ein bisschen töpfert oder pflanzt und sich dann an den Früchten der Arbeit erfreut. Diese Gegenbewegung zur vermeintlichen Aufwandslosigkeit ersetzt zwar nicht die Phantasie, dass wir im Prinzip alles auf Knopfdruck hinkriegen. Aber zu wissen, dass ich zur Not auch selber Hand anlegen kann, das wirkt beruhigend.

Noch ein Wort zum Liberalismus, der in Deutschland ja ohnehin nie eine besonders große Anhängerschaft hatte. Ist mit dem freiheitlichen Gesellschaftsmodell aufgrund der Krise vorerst Schluss?

Ja, für die nächsten fünf Jahre ist das vorbei. Die Finanzkrise hat das zugeschüttet. Wir haben schon im vergangenen Jahr in Untersuchungen festgestellt, dass dem Staat viel mehr Wirtschaftskompetenz zugesprochen wird als umgekehrt der Wirtschaft Sozialkompetenz. Und gerade die Gerechtigkeitsdebatte zeigt, wie wichtig es den Leuten ist, dass sie vermeintlich gerechte und berechenbare Verhältnisse vorfinden. Die Liberalisierung im Sinne einer Entfesslung der Marktkräfte ist für viele Menschen im Moment ein Schreckgespenst - und dieses Schreckgespenst bleibt jetzt erst mal in die Kiste gesperrt.

Das Gespräch führte Alexander Marguier.



Text: F.A.S.
Bildmaterial: dpa