Entscheidungen in Krisensituationen und am Lebensende sind komplex: Der gestern in Berlin vorgestellte Gesetzentwurf zur Patientenverfügung trägt dieser Einsicht Rechnung.
Die Beratungen waren langwierig und offensichtlich mühselig; zeitweilig war unklar, ob es überhaupt gelingen würde, eine gemeinsame Strategie zu finden, um dem Vorstoß für eine weitgehende Deregulierung im Bereich der lebenserhaltenden Behandlungen einwilligungsunfähiger Patienten, der seit einigen Jahren die bioethische Debatte prägt, einen gemeinsamen Gesetzentwurf entgegenzusetzen. Zeitweilig erschien es auch als Strategie, auf eine gesetzliche Regelung der durch Rechtsprechung bereits normierten Vorgehensweisen ganz zu verzichten – eine Überlegung, die aber auch von Gruppen aus der Hospizbewegung wie der Deutschen Hospizstiftung und von Palliativmedizinern kritisiert wurde.
Dem am gestrigen Dienstag nach monatelangen Diskussionen von einer schwarz-rot-grün-gelben Abgeordnetengruppe um Wolfgang Bosbach (CDU), René Röspel (SPD) und Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Grüne) vorgestellten "Entwurf eines Gesetzes zur Verankerung der Patientenverfügung im Betreuungsrecht" merkt man die harte juristische Arbeit an, die dort geleistet worden ist. Es ist ein detailreiches Gesetz, das unterschiedlichen Lebenssituationen und Interessen gerecht werden will. Während der schon vor sieben Monaten von einer rot-rot-grün-gelben Gruppe um die Abgeordneten Joachim Stünker (SPD) und Michael Kauch (FDP) in den Bundestag eingebrachte "Entwurf eines dritten Gesetzes zur Änderung des Betreuungsrechtes" schlank und einfach daherkommt, um der schriftlich formulierten Patientenverfügung als Ausdruck des antizipierten Selbstbestimmungs ohne Wenn und Aber Geltung zu verschaffen, soll der jetzt fertiggestellte Entwurf die Entscheidungsmöglichkeiten der Patienten zur Geltung bringen, ohne aber die Aufgabe des staatlichen Lebensschutzes gerade für schwerstkranke Patienten und die Idee der ärztlichen Fürsorge aufzugeben.
Der Weg dorthin führt über ein sorgsam abgestuftes System, das Unterschiede macht zwischen einer nach ärztlicher Beratung notariell beurkundeten Patientenverfügung, einer Patientenverfügung, die auch ohne Beratung und Beurkundung wirksam ist, und dem mutmaßlichen Willen eines Patienten, der gerade keine Patientenverfügung verfasst hat. Die umstrittene Idee einer sogenannten Reichweitenbegrenzung der Patientenverfügung, die dazu führen sollte, dass Menschen, deren Erkrankung keinen irreversiblen tödlichen Verlauf genommen hat, sondern aussichtsreich behandelt werden kann, keinen Abbruch lebenserhaltender Behandlungen vorab verfügen können sollten, ist in dem neuen Gesetzentwurf nicht mehr enthalten. Allerdings muss, wer für einen solchen Fall – beispielsweise eine Lungenentzündung – wirksam vorab das Unterlassen lebensrettender oder lebenserhaltender Behandlungen verfügen möchte, sich vorab beraten und dann die Patientenverfügung notariell beurkunden lassen. Auch ein (verlängerbares) Zeitlimit der Wirksamkeit einer solchen qualifizierten Patientenverfügung von fünf Jahren schreibt der Entwurf fest.
Bei den Patientenverfügungen, die heute zumeist die Gerichte beschäftigen, geht es allerdings um andere Konstellationen: In diesen Fällen wollen Betreuer von Menschen, die aufgrund von Unfällen oder schwerer Krankheit dauerhaft das Bewusstsein verloren haben oder die infolge einer schweren, nicht behandelbaren, tödlich verlaufenden Erkrankung keine Einwilligung in Behandlungen mehr formulieren können, eine gerichtliche Genehmigung für den Abbruch von lebenserhaltenden Behandlungen erreichen. In so einer Konstellation verlangt auch der jetzt vorgelegte Entwurf nur eine schriftlich abgefasste Patientenverfügung, die auf die eingetretene Situation zutreffen muss. Weder muss sie notariell beurkundet worden sein, noch soll ihre Wirksamkeit von einer vorher stattgefundenen Beratung abhängen.
Allerdings erleichtert der neue Gesetzentwurf, der aus Vorstellungen der Kirchen schöpft, der aber auch Anregungen von Wohlfahrts- und Behindertenverbänden aufgreift, die Durchführung solcher ärztlicher Beratungen, denn er führt einen Paragraphen 24c SGB V ein, der Patienten Anspruch auf eine dokumentierte Beratung zur Patientenverfügung durch den Arzt gibt.
Einen deutlichen Unterschied zu dem Gesetzentwurf der Kauch/Stünker-Gruppe zeichnet das von Bosbach/Röspel/Göring-Eckardt entworfene Regelwerk bei der "mutmaßlichen Einwilligung" aus. Hier geht es um die medizinische Behandlung von Menschen, die gar keine Patientenverfügung erstellt haben oder deren Patientenverfügung nicht für die Behandlungssituation zutrifft, in der eine Entscheidung getroffen werden muss. Bei Stünker/Kauch kann der Betreuer hier unter Berufung auf den durch konkrete Anhaltspunkte zu belegenden mutmaßlichen Willen des Patienten im Ergebnis genauso entscheiden, als wenn eine Patientenverfügung vorläge.
Bei Bosbach/Röspel/Göring-Eckardt geht das nicht. Aus Gründen des Lebensschutzes, aber auch des Respekts dafür, dass ein Patient sich nicht für eine Patientenverfügung entschieden beziehungsweise den nun eingetretenen Fall nicht geregelt hat, ist die Möglichkeit, lebenserhaltende Behandlungen nicht zu ergreifen oder abzubrechen, hier auf die Fälle eingeschränkt, in denen der Patient zwar noch nicht im Sterben liegen muss, aber eine aussichtslose ärztliche Prognose hat. Eine Neuerung gegenüber der bisherigen Praxis und Überlegungen anderer Gesetzesautoren ist auch die Einführung eines sogenannten "beratenden Konsils", das aus Pflegepersonen, Angehörigen, Lebenspartnern und anderen, vom Patienten benannten Personen besteht.
Das "beratende Konsil" trägt dem Gedanken Rechnung, dass die medizinische Behandlung und das Sterben soziale Prozesse sind. Behandelnde Ärzte und Betreuer sollen sich bei ihren Überlegungen über die Beendigung lebenserhaltender medizinischer Maßnahmen an der Diskussion beteiligen, ohne dass diesem mehr informellen Kreis allerdings Entscheidungsbefugnisse eingeräumt wären.
Der jetzt vorgelegte Entwurf, der auch die Bedeutung von Vorsorgevollmachten unterstreicht, hat das Potential, der Debatte über medizinische Behandlungen am Lebensende, die in den nächsten Wochen im Bundestag und in seinen Ausschüssen noch einmal Platz greifen wird, eine neue Richtung zu geben. Seine größe Stärke ist zugleich seine Schwäche: Er trägt der Einsicht Rechnung, dass Entscheidungen über medizinische Behandlungen in extremen Krisensituationen und am Lebensende komplex und nicht einfach sind. Ob sich vermitteln lässt, dass das auch Konsequenzen für ein Gesetz haben muss, das hier versucht, Klarheit zu schaffen, das deswegen aber nicht ganz einfach sein kann, wird über sein Schicksal entscheiden. Oliver Tolmein
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.10.2008 Seite 35