Deutschland in der Krise
DruckenVersendenSpeichernVorherige Seite
Die Deutschen sind angesichts der Krise schwer verunsichert - und auch die Kanzlerin weiß keinen Rat
08. Dezember 2008 Der Psychologe Stephan Grünewald über die Auswirkungen der Krise auf die Befindlichkeit der Deutschen - und über Merkels Zögerlichkeit.
Herr Grünewald, ist die Krise überhaupt schon in den Köpfen der Menschen angekommen?
Zum Teil. Im Alltag erleben die meisten Leute noch keine Krisensymptome - es kommt ja noch Geld, wenn man die Karte in den Automaten steckt, und Lebensmittel gibt es auch. Die meisten Arbeitsplätze scheinen noch sicher, sogar das Inflationsbarometer der Nation, nämlich der Benzinpreis, fällt derzeit. Insofern haben viele Bürger das Gefühl, von der Krise sogar zu profitieren, weil sie mehr Geld im Säckel haben. Andererseits bekommen sie natürlich das ständige Krisengerede in den Medien mit - und das hat eine stark verunsichernde Wirkung. Vor allem die 500-Milliarden-Staatsbürgschaft hat zu dem Gefühl geführt: Wenn so unermessliche Beträge bereitgestellt werden, muss irgendwas Schlimmes passiert sein.
Die Krise ist für viele Menschen derzeit also noch abstrakt. Ist das nicht das eigentlich Furchterregende daran: zu wissen, es droht schlimme Gefahr - und gleichzeitig diese Gefahr nicht richtig benennen und einordnen zu können?
Genau, das ist wie ein riesiges schwarzes Loch. Und dieses schwarze Loch kann alles verschlingen: Girokonten, Sparanlagen, Immobilien - ganze Banken können darin verschwinden. Diese Vorstellung ist derart ungeheuerlich, dass sie von den Leuten sofort wieder abgewehrt werden muss. Bei den Anschlägen vom 11. September hatten die Menschen immerhin noch das Gefühl, dass sich Trümmer beiseiteräumen lassen und der Terrorismus bekämpft werden kann. Vor dem schwarzen Loch jedoch versagt jede Handlungsfähigkeit. Das ist für die Menschen unaushaltbar.
Wie reagieren die Menschen auf dieses "Unaushaltbare"?
Mit einer Art Schockstarre: Man steckt den Kopf in den Sand, beschwört die Normalität - und setzt auf die Macht des Staates. Vater Staat soll sich möglichst breitbeinig vor dieses schwarze Loch stellen und dafür sorgen, dass da nichts reinflutscht. Gleichzeitig sorgen die ständigen Hiobsbotschaften dafür, dass die Bürger nicht nur die Normalität beschwören, sondern gleichzeitig auch Risikominimierung betreiben. Das führt im Weihnachtsgeschäft zu einem fast paradoxen Effekt: Große Investitionen - wie etwa in ein neues Auto - werden zwar abgesagt, gleichzeitig feiern die Bürger aber so etwas wie einen "Konsumkarneval". Der Karneval ist ja das Fest der letzten Stunde, eine Lebenssteigerung vor der toten Fastenzeit.
Der Psychologe Stephan Grünewald sieht in der Krise auch eine Chance auf Selbstbesinnung
Ist es nicht erstaunlich, dass die Leute Karneval feiern, anstatt zornig vor die Bankhäuser zu ziehen, um zu demonstrieren? Immerhin hat die Finanzbranche Milliarden vernichtet, und am Schluss müssen die Steuerzahler die Zeche zahlen. Wieso entsteht denn da kein revolutionärer Impuls?
Weil die Menschen spüren, dass sie sich in Wahrheit mitverzockt haben. Dieses Lebensideal, mit minimalem Aufwand ein Maximum an Rendite abzuräumen, herrschte ja nicht nur in der Finanzbranche - sondern in der gesamten Gesellschaft. Jugendliche träumen davon, über Nacht zum Superstar zu werden. Wir suchen Glückserfüllung durch Masturbation vor dem Fernseher, weil wir auf diese Weise ohne aufwendiges Liebeswerben zum Höhepunkt kommen. Letztlich sind ja auch diese ganzen Kontaktforen im Internet nichts anderes als soziale Spekulationsblasen: tausend Kontakte, aber kein einziger Freund aus Fleisch und Blut. Das ist ja alles im gesellschaftlichen Denken enthalten - also müssten die Menschen schon gegen sich selbst revoltieren.
Allerdings hat ein Durchschnittsbürger keine tollen Bonuszahlungen abgegriffen.
Richtig, deshalb müssen natürlich auch in dieser Krise ein paar Sündenböcke definiert werden. Das sind jetzt die Manager und vor allem die Bankangestellten, die sich verzockt haben. Aber dass das nicht zum offenen Protest führt, ist dann eben doch Ausdruck dieser verspürten Ambivalenz: Ich bin eigentlich mitschuld, weil ich Teil des Systems bin.
Sie konstatieren seit Jahren eine tiefe Verunsicherung bei den Deutschen - hervorgerufen durch die Globalisierung, durch Geschlechterrollen, die nicht mehr klar definiert sind, oder auch aufgrund mangelnder Zukunftsperspektiven. Wird die derzeitige Krise diese Verunsicherung weiter verschärfen? Oder sehen wir hinterher vielleicht sogar wieder klarer und haben neue Ziele vor Augen?
So eine Krise ist natürlich immer eine Chance zur Selbstbesinnung. Die Deutschen haben sich etwa bei der Flutkatastrophe im Jahr 2002 als "einig Volk" erlebt, und nach dem verheerenden Tsunami waren wir Spendenweltmeister, weil wir das Gefühl hatten, einen sinnvollen Beitrag in der Welt leisten zu können. Wenn es der Politik gelingt, die Finanzkrise nicht nur als schwarzes Loch erscheinen zu lassen, sondern als ein konkretes Problem, gegen das wir alle etwas tun können und müssen, dann würde das die Verunsicherung mindern. Dann gäbe es nämlich eine "Negativ-Vision", an der man sich abarbeiten könnte.
"Negativ-Vision" im Sinne von: So etwas darf nie wieder passieren?
Ja, als einigendes Dagegensein. So wie bei der drohenden Klimakatastrophe, die von Frau Merkel ja auch ganz geschickt als Negativ-Vision gespielt wird. Die Kanzlerin kompensiert so ihre Visionslosigkeit und gibt uns das Gefühl, wir können jetzt kollektiv das Ozonloch stopfen, wenn wir andere Autos fahren oder anders heizen.
Im Angesicht der Finanzkrise bleibt die Kanzlerin allerdings weitgehend passiv. Müsste Frau Merkel nicht - wie etwa Sarkozy in Frankreich - viel mehr tun, um Vertrauen in der Bevölkerung zu gewinnen?
Die Kanzlerin wird ja von den Deutschen dafür geliebt, dass sie eben nicht wie Schröder als lautstarke Führungsfigur auftritt, sondern gewissermaßen als Vermittlungsengel. Man erlebt Angela Merkel als eine Gestalt, die Extreme ausgleicht, die ausbalanciert und die das vertrauensvolle Gefühl vermittelt: "Bei mir fällt keiner durch den Rost."
Mag ja sein, aber reicht dieses Verhalten aus in einer akuten Krisensituation, wie wir sie jetzt erleben? Muss sie da nicht einfach mal richtige Führungsqualität beweisen?
Es reicht erst mal aus, um die groben Ängste zu mindern. Der Vermittlungsengel stellt sicher, dass mich das schwarze Loch nicht verschlingt. Da ist man erst mal froh. Was jetzt aber eine Zukunftsperspektive angeht, da kommt von der Kanzlerin natürlich zu wenig. Und da sind wir im Grunde genommen wieder bei dem urdeutschen Dilemma, dass wir uns schwertun, klare Zielvorgaben zu entwickeln. Die aus den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus herrührende Tabuisierung von Visionen existiert eben immer noch.
Wenn Sie die Kanzlerin als Psychologe beraten sollten, was würden Sie ihr empfehlen?
Ich glaube, es sollte ihr weniger um Konjunkturprogramme gehen, die ja auch nur eine beschwichtigende Funktion haben, als vielmehr um klare Leitlinien: Was sind unsere Stärken, was können wir der Welt geben? Zum Beispiel der Erfindungsreichtum deutscher Ingenieure - zum deutschen Naturell gehört ja auch immer ein bisschen die Hoffnung, dass wir aus der Position der Weltzerstörer rauskommen und zu Weltrettern werden. Ich glaube, die Deutschen haben ein Potential, gerade in der Not erfinderisch zu sein, ihre Entwicklungskünste zu entfalten. Wichtig ist, dass das jetzt kanalisiert wird, dass wirklich konkret gesagt wird, welches unsere Zukunftsfelder sind.
Ist die Krise vielleicht auch dafür gut, neue Leitbilder zu finden? Die "Masters of the Universe" von der Wall Street, die großen Finanzjongleure und Investmentbanker, wurden als gesellschaftliche Orientierungsfiguren ja praktisch über Nacht abgeräumt. Wer könnte an deren Stelle treten?
Wir erleben schon seit ein paar Jahren einen Umbruch, was die Leitbilder angeht. Früher hatten wir wirklich perfekte Leitbilder, die Arnold Schwarzeneggers dieser Welt und andere, wie Sie sagen, "Masters of the Universe". Die entsprachen der digitalen Allmachtsphantasie: Wir können alles in der Welt bewegen. Inzwischen kehrt aber fast ein neues Realitäts- oder Demutsprinzip ein. Schauen Sie sich doch nur mal die Fernseh-Charaktere an: Dr. House, Adrian Monk - das sind, wie ich sie nenne, behinderte Kunstwerke. Brüchige Gestalten, die im Kampf mit dem Schicksal etwas bewegen. Dr. House, mittlerweile Deutschlands beliebteste Fernsehfigur, ist ja ein körperlicher und seelischer Krüppel, der aus seiner Behinderung aber etwas macht und dadurch an Liebreiz gewinnt. Die neuen Helden sind nicht perfekt - und das kann man gewissermaßen auch Frau Merkel zugutehalten. Sie ist ja wahrlich kein Top-Model, sondern eine Frau, die ihre Ecken und Kanten, Behinderungen und Probleme hat.
Und sie ist eine ostdeutsche Protestantin, die im Vergleich mit ihrem Amtsvorgänger irgendwie geerdeter und ernsthafter erscheint. Kehrt nach der Ära des schnellen Geldes womöglich das protestantische Arbeitsethos zurück?
Die Vorstellung, dass wir per Knopfdruck die Welt verändern können, ist natürlich immer noch in den Köpfen der Menschen verankert - und bewahrheitet sich ja auch täglich im Internet. Sie googeln sich innerhalb weniger Sekunden die halbe Welt zusammen oder haben nach wenigen Mausklicks die erotische Phantasie vor Augen, die ihren Tagträumen genügt. Der Aufwand, den wir früher mal betreiben mussten, um an irgendetwas heranzukommen, ist enorm geschrumpft, und die Leute haben unbewusst das Gefühl, das müsse in jedem Lebensbereich so funktionieren. Es gibt allerdings eine Gegenbewegung, die darin besteht, sich auf die analoge Prozesshaftigkeit des Alltags einzulassen. Davon zeugen zum Beispiel die vielen Koch-Shows. Beim Kochen muss man ja stundenlang in der Küche stehen, da kann man am Herd auch grandios scheitern - aber wenn etwas gelingt, ist der ganze Freundeskreis bezaubert.
"Es gibt sie noch, die guten Dinge", wie es beim Versandhaus "Manufactum" heißt . . .
Das bedeutet nicht, dass die Leute jetzt jeden Tag kochen - aber zumindest haben sie das Gefühl, einmal pro Woche muss ich zeigen, dass ich mit Arbeit etwas bewegen kann. Eine der erfolgreichsten Zeitschriften der letzten Jahre ist ja "Landlust", in der es um die Rückkehr zu einem analogen Leben geht, das sich den Rhythmen der Natur anpasst, in dem man auch selber wieder ein bisschen töpfert oder pflanzt und sich dann an den Früchten der Arbeit erfreut. Diese Gegenbewegung zur vermeintlichen Aufwandslosigkeit ersetzt zwar nicht die Phantasie, dass wir im Prinzip alles auf Knopfdruck hinkriegen. Aber zu wissen, dass ich zur Not auch selber Hand anlegen kann, das wirkt beruhigend.
Noch ein Wort zum Liberalismus, der in Deutschland ja ohnehin nie eine besonders große Anhängerschaft hatte. Ist mit dem freiheitlichen Gesellschaftsmodell aufgrund der Krise vorerst Schluss?
Ja, für die nächsten fünf Jahre ist das vorbei. Die Finanzkrise hat das zugeschüttet. Wir haben schon im vergangenen Jahr in Untersuchungen festgestellt, dass dem Staat viel mehr Wirtschaftskompetenz zugesprochen wird als umgekehrt der Wirtschaft Sozialkompetenz. Und gerade die Gerechtigkeitsdebatte zeigt, wie wichtig es den Leuten ist, dass sie vermeintlich gerechte und berechenbare Verhältnisse vorfinden. Die Liberalisierung im Sinne einer Entfesslung der Marktkräfte ist für viele Menschen im Moment ein Schreckgespenst - und dieses Schreckgespenst bleibt jetzt erst mal in die Kiste gesperrt.
Das Gespräch führte Alexander Marguier.
Text: F.A.S.
Bildmaterial: dpa