Neue Sachbücher Sorry, das war ein Behandlungsfehler Hauptsache, die medizinische Behandlung ist juristisch wasserdicht. Aber ist sie auch die richtige? Zwei Bücher schlagen Alarm wegen der Verrechtlichung der ärztlichen Kunst.
Erkennen Sie die Melodie? Hören Sie sich doch bitte einmal folgendes Zitat an: "Bei einer solch unterschiedlichen Behandlung der Krankenkassenpatienten, insbesondere der Arbeiter, gegenüber den anderen Patienten durch die Ärzte", so ein zweiundvierzigjähriger ungelernter Arbeiter aus Bayern, "kann kein großes Vertrauen entstehen. Auch sind für die Krankenkassenpatienten immer nur die billigsten Präparate da." Solche und ähnliche Klagen über eine Zwei-Klassen-Medizin bringen Umfragen und Leserbriefe inzwischen zuhauf an den Tag.
Nur, in diesem Fall stammt das Zitat aus einer Befragung, die 1939 stattfand und bei der mehr als zehntausend Personen aus allen Schichten nach ihrem Vertrauen zum Arzt befragt wurden. Kann man also wirklich vom "Ende des klassischen Patienten" sprechen, wie ein Aufsatzband von Winand Gellner und Michael Schmöller zum Wandel der Arzt-Patienten-Beziehung in der Gegenwart suggeriert? Aus medizinhistorischer Sicht ist ein großes Fragezeichen angebracht. Denn Patienten waren nie passiv, auch nicht im GKV-System, das seit mehr als hundert Jahren besteht. Selbst die Bemühungen der Nationalsozialisten, den Arzt als "Gesundheitsführer" mit noch mehr Macht auszustatten, scheiterten an der Eigensinnigkeit der Patienten.
Davon zeugt eindrucksvoll die Konsumentenbefragung aus dem Jahre 1939, die trotz der für das Regime in vielerlei Hinsicht nicht besonders positiven Ergebnisse noch vor Kriegsende als Buch erscheinen konnte. Doch solche Zwischentöne stören das einheitliche Bild des Wandels, das Julia Hillebrand, eine Diplom-Kulturwirtin, von der Arzt-Patient-Beziehung zeichnet. Ihr Beitrag tradiert schwarze Legenden der Medizingeschichte, etwa dass sich die Masse der Bevölkerung vor dem 19. Jahrhundert nicht an einen Arzt wandte.
Das Idealbild der heutigen Gesundheitspolitik scheint, wie mehrere Beiträge des Aufsatzbandes erkennen lassen, der "mündige Patient" zu sein. Dieser ist nach Schmöller "informiert über sein eigenes Krankheitsbild und arbeitet dann an Entscheidungsprozessen mit, wenn sich die Informationsasymmetrie zwischen ihm und dem Arzt als nicht zu groß erweist". Wenn das so einfach wäre! Bereits Kant sah in seiner berühmten Schrift mit dem Titel "Was ist Aufklärung?" menschliche Trägheit als ein zentrales Problem der Arzt-Patient-Beziehung: "Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw.: so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen."
Kant nennt noch einen weiteren wichtigen Faktor, der das Arzt-Patient-Verhältnis beeinflusst, nämlich die Finanzierbarkeit ärztlicher Leistungen. Nicht erst seit dem Arzneimittelversorgungs-wirtschaftlichkeitsgesetz ist die "traditionell persönlich geprägte Beziehung um nüchterne wirtschaftliche Gesichtspunkte" erweitert worden, wie Alexander P. F. Ehlers und Simone Gräfin von Hardenberg behaupten. Bereits 1939 beklagten sich Patienten vehement darüber, dass die Kassen ihren Vertragsärzten Vorschriften machten und auf "billige Medizin" drängten. Auch das Bild des Arztes, der überwiegend kaufmännisch denkt, war längst vor den zahlreichen Reformen, die das bundesdeutsche Gesundheitswesen in den letzten Jahrzehnten über sich ergehen lassen musste, ein häufiger Topos von Patientenklagen.
Für den Weg hin zum mündigen Patienten scheint nicht zuletzt der Trend zu immer mehr Arzthaftungsprozessen zu sprechen. Angesichts der großen Klageflut beschäftigen sich Juristen vermehrt damit, wie Auseinandersetzungen vor Gericht vermieden und Geschädigte gleichwohl zu ihrem Recht kommen können. Obwohl für die Patienten im Unterschied zu anderen Zivilverfahren Beweiserleichterungen gelten, ist es in der Rechtspraxis immer noch schwierig, ärztliche Behandlungsfehler nachzuweisen, weil die Gutachter sich nicht einig sind oder aus Kollegialität sich nicht kritisch äußern.
Dass Patienten in der Bundesrepublik im internationalen Vergleich nicht einmal schlecht gestellt sind, zeigt ein Band von Henning Rosenau und Hakan Hakeri, der Alternativen zu Arzthaftungsprozessen in zwei Ländern mit unterschiedlichen Rechtssystemen (Deutschland, Türkei) in den Blick nimmt. So gibt es in der Bundesrepublik seit 1975 regionale Schlichtungsstellen bei den Ärztekammern, bei denen "die Waffengleichheit" höher ist als bei Zivilprozessen, wie Johann Neu ausführt. In türkischen Krankenhäusern existieren seit 2004 sogenannte "Patientenrechtebüros", die allerdings nur bei der Feststellung von Behandlungsfehlern helfen, aber keine Entscheidungen in der Sache treffen.
In skandinavischen Ländern gibt es bereits seit vielen Jahren Heilbehandlungsversicherungen, bei denen es nicht auf den Nachweis schuldhaften Verhaltens ankommt. Andernorts hofft man, mit "Critical Incident Reporting" zur Fehlerprävention beizutragen. Wie wichtig dieses Thema ist, zeigen nicht zuletzt Befürchtungen, dass die Zunahme von Arzthaftungsprozessen zu einer "defensiven Medizin" führen könnte, bei der der Arzt "weniger seinem Gewissen und dem Wohl des Patienten als vielmehr dem Ratschlag seines Rechtsanwalts verpflichtet ist" (Rosenau). Motto: Hauptsache, die Behandlung ist juristisch wasserdicht. Ob sie auch die richtige ist, steht auf einem anderen Blatt. ROBERT JÜTTE
Winand Gellner, Michael Schmöller (Hrsg.): "Neue Patienten – Neue Ärzte?" Ärztliches Selbstverständnis und Arzt-Patienten-Beziehung im Wandel. Nomos Verlag, Baden-Baden 2008. 224 S., br., 39,– €.
Henning Rosenau, Hakan Hakeri (Hrsg.): "Der medizinische Behandlungsfehler". Beiträge des 3. Deutsch-Türkischen Symposiums zum Medizin- und Biorecht. Nomos Verlag, Baden- Baden 2008. 231 S., br., 58,– €.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.10.2008 Seite 34