Das Theater kann der selige Schlupfwinkel der Kindheit sein oder das traurigste Gewerbe. Bei Michael Kehlmann, meinem Vater, war es ein Hort des Erzählens – bis das Erzählen aus der Mode kam. "Die Lichtprobe": Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele Von Daniel Kehlmann
Das bürgerliche Leben", sagte Max Reinhardt in einer Rede an der Columbia University, "ist eng begrenzt und arm an Gefühlsinhalten. Es hat aus seiner Armut lauter Tugenden gemacht, zwischen denen es sich schlecht und recht durchzwängt." Im Ungenügen also an dem einen Dasein, das uns gegeben ist, an der Mangelhaftigkeit unserer Gefühle, der Begrenztheit der Wege, die uns offen stehen, sah der Mitgründer dieser Festspiele die Wurzel unserer Faszination für das Theater. "Wir alle tragen die Möglichkeit zu allen Leidenschaften, zu allen Schicksalen, zu allen Lebensformen in uns." Wo aber das Theater die Berührung mit der existentiellen Wahrhaftigkeit verliere, bleibe leeres Spiel und, schlimmer noch, blanke Langeweile. "Das Theater kann, von allen guten Geistern verlassen, das traurigste Gewerbe, die armseligste Prostitution sein."
Ich hörte diese Rede zum ersten Mal als Kind auf einer Langspielplatte meines Vaters. Das mit dem traurigsten Gewerbe verstand ich nicht ganz, schon weil ich nicht so recht wusste, was das Wort Prostitution bedeutet, das über die Armut des bürgerlichen Lebens aber verstand ich sehr wohl: Natürlich sehnte ich mich nach anderen Möglichkeiten und danach, mehr als ein Leben zu führen, alle Kinder tun das, werden sie erwachsen, verdrängen sie es, es sei denn, sie werden Schauspieler oder sie schreiben. Wenn Reinhardt das Theater "den seligsten Schlupfwinkel derer" nennt, "die ihre Kindheit heimlich in die Tasche gesteckt und sich damit auf und davon gemacht haben", so fand ich genau diesen Schlupfwinkel in den Büchern, im Erfinden, in der kontrollierten Flucht in die Phantasie, die jeder Roman bietet. Vom Theater aber hielt ich mich lieber fern.
Das hatte mit meinem Elternhaus zu tun. Mein Vater war Regisseur, und das Theater gehörte nun einmal zu seiner Welt, zum Bereich seiner Zuständigkeit, dem ich als Sohn, der etwas Eigenes sein und tun wollte, lieber nicht zu nahe kam. Gerade als einer, der unter Schauspielern aufgewachsen ist, jenen stets angenehmen und doch so verzweifelt des Zuspruchs bedürftigen Menschen, hatte ich schon früh das Gefühl, dass es gut für mich wäre, mein Leben in anderem Umfeld zu verbringen.
An meinem ersten und größten Theatererlebnis waren allerdings gar keine Schauspieler beteiligt. Ich war vier Jahre alt, mein Vater probte im Wiener Theater an der Josefstadt, meine Mutter und ich waren aus München gekommen, ihn zu besuchen. Eines Morgens nahm er mich mit zur Beleuchtungsprobe. Ich sehe noch den leeren Zuschauerraum vor mir, die leere Bühne bei offenem Vorhang. Mein Vater rief etwas nach oben, und plötzlich begann sich ein riesiger Kristallluster – mir jedenfalls kam er riesig vor – aufleuchtend aus der Dunkelheit herabzusenken. Der gewaltige Raum wurde hell. Mein Vater rief wieder etwas, der Luster stieg auf, die Schatten wurden länger, und schließlich war der Luster im Schwarz der Decke verschwunden. Ich wusste natürlich nicht, dass sich das allabendlich ereignete; ich glaubte wirklich, es wäre nur für mich und zum ersten Mal geschehen. Ich war erschrocken und glücklich. Keine Theateraufführung kam je an diesen Vormittag heran.
In den nächsten Jahren sah ich viele Inszenierungen meines Vaters, die meisten als Fernsehaufzeichnungen, nurmehr wenige auf der Bühne, bis sein Leben Ende der achtziger Jahre eine traurige Wendung nahm: Lange Zeit war er einer der erfolgreichen Regisseure des deutschsprachigen Fernsehens und Theaters gewesen – übrigens arbeitete er auch bei den Salzburger Festspielen –, nun aber, mit verblüffender Geschwindigkeit, geriet er aus der Mode und in Vergessenheit.
Von seinem Vater zu lernen ist ja immer eine zweischneidige Sache. Man möchte doch eigenständig sein, instinktiv lehnt man Lektionen des Elternhauses ab und sucht seine Lehrer so fern davon wie möglich. Als mich vor kurzem ein Germanist darauf hinwies, dass die Hauptfigur meines ersten Romans vaterlos ist, ein Mann ohne Herkunft und Abstammung, so verblüffte es mich selbst, wie sehr man das, was ich damals für spielerische Erfindung hielt, als Absichtserklärung des beginnenden Autors lesen kann: niemandem verpflichtet und von keinem überschattet sein, von nirgendwo herkommen. Aber in Wirklichkeit ist es bekanntlich nie so, und Stunden, ja Tage würden nicht ausreichen, um auch nur einen Teil der Schuld zu umreißen, die ich Michael Kehlmann nicht nur als Mensch – das ist selbstverständlich und braucht hier nicht erklärt zu werden –, sondern als Künstler, als Gestalter, als Erzähler in Bildern und Szenen, zurückzuzahlen hätte, gehörte es nicht zum Wesen solcher Schulden, dass sie nicht zurückgezahlt werden können. Dadurch etwa, dass ich ihm zuhören durfte, wenn er seine Drehbücher der Verfilmungen Joseph Roths ins Tonbandgerät diktierte, lernte ich, dass Erzählen weniger eine Frage des Inhaltes als der Atmosphäre ist, eher Haltung als Handwerk, eher Stimme als Technik. Ich lernte von ihm den Wert des Humors, den Wert der Gelassenheit, vor allem auch den Wert des Zorns. Über seine Inszenierungen dachte er wochenlang nach und formte alles noch vor der ersten Leseprobe in seinem Kopf: Er wusste, wie ein Stück aussehen sollte, unter seiner Leitung wurde nicht diskutiert, dafür, so meinte er, habe man ihn ja engagiert. Kunst bestehe aus großen, kleinen und winzigen Entscheidungen, Aberhunderten davon, jeden einzelnen Tag, und man selbst wisse nie, ob man das Richtige tue, man könne nur darauf hoffen und müsse konsequent bleiben; immer an sich zu zweifeln sei ebenso wichtig, wie diese Zweifel dann während der Arbeit mit sich allein abzumachen.
Vor allem aber sah er im Regisseur einen Diener des Autors. Jawohl, einen Diener – so sagte er, und an dieser Auffassung lag es, dass er auf den deutschsprachigen Bühnen in den letzten zwei Jahrzehnten seines Lebens, trotz zunächst noch guter Gesundheit, nicht mehr arbeiten durfte. In einem Bereich, wo es keinen schlimmeren Vorwurf gibt als das Wort altmodisch, galt er plötzlich als ebendies, und wohl auch deswegen war ich zunehmend entschlossen, mich vom Theater fernzuhalten und lieber Bücher zu schreiben. Was immer einem Romancier zustößt, so dachte ich und denke es immer noch, es kann ihn doch keiner daran hindern, seine Arbeit zu tun. Schlimmstenfalls bleiben seine Werke ungedruckt, aber schreiben darf er sie doch, und niemand hält ihn davon ab, auf eine gewogenere Zukunft zu hoffen. Der Regisseur aber, der sich herrschenden Dogmen verschließt, hat diese Chance nicht. Als mein Vater durch den Wandel der Umstände seine Arbeit nicht mehr ausüben konnte, senkte sich allmählich die Krankheit des Vergessens auf ihn herab, bis ihn ganz zuletzt die Demenz vom Bewusstsein der Enttäuschungen befreite.
Ich bin also, ich leugne es nicht, voreingenommen, aber andere sind es nicht. Spricht man mit Russen, mit Polen, mit Engländern oder Skandinaviern, die deutschsprachige Lande besuchen und hier ins Theater gehen, so sind sie oft ziemlich verwirrt. Was das denn solle, fragen sie, was denn hier los sei, warum das denn auf den Bühnen alles immer so ähnlich aussehe, ständig Videowände und Spaghetti-Essen, warum sei immer irgendwer mit irgendwas beschmiert, wozu all das Gezucke und routiniert hysterische Geschrei? Bitte verzeihen Sie die Klischees, doch es sind nicht meine, sondern genau jene, die uns die deutschen Theater vorspielen, formelhaft treu, Abend für Abend, Woche für Woche, in Stadt und Land. Ob das, so die Frage der Besucher, denn staatlich vorgeschrieben sei?
Was soll man darauf antworten? Aus rein familiären Gründen – weil ich erlebt habe, dass einer, der es anders machen wollte, es gar nicht mehr machen konnte – und weil es mich außerdem jedesmal mit Melancholie erfüllt, im Ausland grandiose Stücke lebender Dramatiker zu sehen, die bei uns praktisch unaufführbar sind, weil ihre Autoren keine verfremdenden Inszenierungen gestatten, antworte ich diesen Verwunderten dann nicht, dass es nun einmal so sein müsse, dass sie keine Ahnung hätten, wie schlimm verstaubt das Theater in ihren Heimatstädten sei, und wir eben mal wieder einen Sonderweg gefunden hätten, zu speziell und verschlungen, um von anderen Völkern verstanden zu werden. Sondern ich sage in etwa Folgendes:
Bei uns ist etwas Absonderliches geschehen. Irgendwie ist es in den vergangenen Jahrzehnten dahin gekommen, dass die Frage, ob man Schiller in historischen Kostümen oder besser mit den inzwischen schon altbewährten Zutaten der sogenannten Aktualisierung aufführen solle, zur am stärksten mit Ideologie befrachteten Frage überhaupt geworden ist. Eher ist es möglich, unwidersprochen den reinsten Wahnwitz zu behaupten, als leise und schüchtern auszusprechen, dass die historisch akkurate Inszenierung eines Fortsetzung auf Seite 25
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.07.2009 Seite 23
Fortsetzung der Rede von Daniel Kehlmann von Seite 23 Wo heute Lärm ist . . .
Theaterstücks einfach nur eine ästhetische Entscheidung ist, nicht besser und nicht schlechter als die Verfremdung, auf keinen Fall aber ein per se reaktionäres Unterfangen. Als vor vier Jahren der Satiriker Joachim Lottmann im "Spiegel" einen spöttischen Artikel über deutsche Regiegebräuche veröffentlichte, ging eine Empörungswelle durch die Redaktionen, als schriebe man das Jahr 1910 und einer hätte Kaiser Wilhelm gekränkt.
Es hat wohl mit der folgenreichsten Allianz der vergangenen Jahrzehnte zu tun: dem Bündnis zwischen Kitsch und Avantgarde. Nach wie vor und allezeit schätzt der Philister das Althergebrachte, aber mittlerweile muss sich dieses Althergebrachte auf eine strikt formelhafte Weise als neu geben. Denn wer ein Reihenhaus bewohnen, christlich- oder ökologisch-konservative Parteien wählen und seine Kinder auf Privatschulen schicken will und es dennoch für zwingend notwendig hält, sich als aufgeschlossener Bohemien ohne Vorurteil zu fühlen - was bleibt ihm denn als das Theater? In einer Kultur, in der niemand mehr Marx liest und kontroverse Diskussionen sich eigentlich nur noch um Sport drehen, ist das Regietheater zur letzten verbliebenen Schrumpfform linker Weltanschauung degeneriert.
Wie alt die Fragestellung und auch die Praxis ist, zeigt sich auch darin, dass der scharfsinnigste Text darüber aus dem Jahr 1926 stammt: Karl Kraus' furioser Aufsatz "Mein Vorurteil gegen Piscator". Der große Regisseur Erwin Piscator hatte in Berlin eine, das Wort war damals neu, "aktualisierte" Inszenierung von Schillers "Räubern" auf die Bühne gebracht, was Kraus dazu veranlasste, grundsätzlich zu werden. In Wahrheit, so Kraus, sei Aktualisieren das Gegenteil dessen, was die Presse darunter verstehe, nämlich die behutsame Wiederherstellung dessen, was wir nicht mehr von der Vergangenheit wüssten, was uns unwiderruflich von ihr trenne. ",Aktuell'", schrieb er, "ist die Überwindung des Zeitwiderstands, die Wegräumung des Überzugs, den das Geräusch des Lebens dem Gehör und der Sprache angetan hat. Für aktuell aber halten die Zutreiber der Zeit den Triumph des Geräusches über das Gedicht, die Entstellung seiner Geistigkeit durch ein psychologisches Motiv, das der Journalbildung" – also der Bildung des Journalismus – "erschlossen ist."
Man muss Kraus hierin nicht folgen, man kann es auch ganz anders sehen, man darf selbstverständlich auch für die drastischste Verfremdung eintreten, aber man sollte sich deswegen nicht für einen fortschrittlichen Menschen halten. Kraus war kein Anhänger des großen Ausstattungstheaters, er trat für äußerste Reduktion ein; was ihm vorschwebte, war näher bei dem Minimalismus eines Peter Brook als bei Max Reinhardt. Ein anderer Minimalist, Samuel Beckett, verbot regelmäßig Aufführungen seiner Werke, die er als entstellend empfand und die von seinen akribischen Regieanweisungen abwichen – möchte man ihn darum rückständig nennen? Wer gegen das sogenannte Regietheater ist, muss beileibe nicht konservativ sein, aber gerade mancher tiefkonservative Mensch hält die teuren und konventionellen Spektakel des Regietheaters für unangreifbar. Ein teuflischer Kreis: Wo Regisseure die Stars sind, dort halten sich die Autoren zurück. Wo sich die Autoren zurückhalten, beanspruchen die Regisseure wiederum den Status eines Stars, dem kein Autor, lebend oder tot, dreinzureden habe: "Eigentlich sind wir die Urheber!", rufen sie, und in der Tat muss man es sich wohl recht angenehm vorstellen, ein genialischer Schöpfer zu sein, ohne dafür eigens Stücke verfassen zu müssen. Unterdessen aber bleibt der Großteil der interessierten Menschen, die einstmals Publikum gewesen wären, daheim, liest Romane, geht ins Kino, kauft DVD-Boxen mit den intelligentesten amerikanischen Serien und nimmt Theater nur noch als fernen Lärm wahr, als Anlass für wunderliche Artikel im Feuilleton, als Privatvergnügen einer kleinen Gruppe folgsamer Pilger, ohne Relevanz für Leben, Gesellschaft und Gegenwart. "Das traurigste Gewerbe", sagte Reinhardt – und nicht selten ist man versucht, ihm zuzustimmen, sich abzuwenden und einfach den Fernseher einzuschalten.
Aber ich wollte ja von Michael Kehlmann reden und davon, was ihm die Bühne und was er für sie bedeutete, wieso bin ich so abgeschweift? Vielleicht bin ich es gar nicht, ich habe von dem gesprochen, was er neben einigen Gleichgesinnten – ich nenne nur den großen, fast vergessenen Rudolf Noelte –, zu verhindern versuchte und was doch Gestalt annahm: ein Klima der Repression, in dem Abweichung geächtet ist. "Ich bin größenwahnsinnig", schrieb Karl Kraus, "ich weiß, daß meine Zeit nicht kommen wird." Auch für meinen Vater zeichnete sich ab, dass seine Zeit nicht mehr kommen würde, dass sie, wenn überhaupt, unwiderruflich hinter ihm lag – und doch passte er sich nicht an und arbeitete lieber gar nicht als unter Umständen, die ihm nicht die volle Freiheit gelassen hätten. Man kann das durchaus Größenwahn nennen. Früher oder später kommt vielleicht für jeden Künstler der Augenblick, da sein Weg und der Zeitgeschmack sich trennen. Häufig ist Beharren ein Zeichen der Verstocktheit, manchmal aber auch das einzig Richtige.
Und so denke ich oft an jenen Luster damals im leeren Theater. An die wundersamen Widersprüche denke ich, die jedesmal von neuem auf der Bühne zusammenfinden: Etwas, das jeden Abend passiert, passiert gerade in dem Moment zum ersten Mal und nie wieder genau so; es wird Gegenwart und ist doch pure Wiederholung; Figuren stehen vor uns und tun es doch nicht, so dass wir Zeugen sind bei einem Ereignis, das nicht wirklich geschieht, und zwar in einer Spontaneität, wie sie nur nach langem Proben möglich wird. Film ist magisch, Theater aber ist paradox. Und das bleibt es selbst in der albernsten Gestalt, und das wird es noch sein, wenn man sich so mancher hochsubventionierten Absurdität nur noch mit amüsiertem Lächeln erinnert. "Nicht Verstellung ist die Aufgabe des Schauspielers", so Reinhardt, "sondern Enthüllung." Die Wahrheit auszusprechen also über unsere von Konvention und Gewohnheit eingeschnürte Natur, die Wahrheit über das eine kurze Leben, das wir führen. Und über die unzähligen Leben, die wir darüber versäumen und denen wir nirgendwo anders begegnen als in unserer Phantasie und in der Kunst.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.07.2009 Seite 25