Das zum Jahrestag des 9. November ständig wiederholte Mantra, das Ende des Kommunismus sei unvorhersehbar gewesen, ist eine Entstellung der Tatsachen. Von Bernard-Henri Lévy
Wir sind dabei, einen neuen Mythos zu erschaffen: den des "Mauerfalls, den niemand vorausgesehen hat".
Natürlich hat niemand gewusst, wann es dazu kommen würde. Und auch das liegt auf der Hand: Mit der Form dieser Revolution verhielt es sich ebenso wie mit der Form aller wahren Revolutionen, die den geregelten Gang der Dinge unterbrechen. Keine historische Erklärung vermag das Geschehen vollständig zu begründen, weil auch diese Revolution von Dingen abhing, deren Auftreten die normale Logik der Geschichte außer Kraft setzten. Wir wurden hier gleichsam Zeugen eines Wunders, in dem die kleinen Leute der kleinen Staaten Mitteleuropas den großen Mächten das Steuer der großen Geschichte aus der Hand und das eigene Schicksal wieder in die eigenen Hände nahmen.
Doch wenn wir daraus schlössen, wir hätten dem Schauspiel vollkommen verblüfft beigewohnt; wenn wir aus der zutreffenden Tatsache, dass dieses Geschehen sich nicht vorausberechnen ließ, den falschen Schluss zögen, es sei auch unvorstellbar gewesen; also wenn wir aus dem außergewöhnlichen Charakter dieser unerwarteten Wendung die Vorstellung herleiteten, die ganze Welt hätte das Märchen einer unvergänglichen Sowjetherrschaft geglaubt, dann entspräche das weder der Wahrheit noch der Erinnerung derer, die das Glück hatten, diesen unerhörten Augenblick zu erleben.
Ich erinnere mich an Schriftsteller, von Schalamow bis Solschenizyn, die sehr deutlich vorausgesehen haben, dass der Kommunismus untergehen würde. Ich erinnere mich an die Männer und Frauen, die man Dissidenten nannte und die – wie Andrei Amalrik, der schon 1970 ein Buch schrieb, das den Titel trug "Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben?" – allenfalls am Datum des Untergangs Zweifel hegten. Ich erinnere mich an Intellektuelle, die im Westen das Wort dieser Dissidenten aufgriffen und damit dem antitotalitären Denken neues Leben einhauchten. Ihre Botschaft lautete, die Entlarvung des Schwindels sei nicht nur wünschenswert, sondern auch wahrscheinlich und auf kürzere oder längere Sicht unausweichlich. Ich erinnere mich an einen Essayisten, Cornelius Castoriadis, der in einem seiner letzten Bücher, "Devant la Guerre", in der Hypertrophie des sowjetischen Militärapparats und seinem exponentiellen, irrsinnigen, metastasenartigen Wachstum das Symptom einer Krebsgeschwulst erblickte, die das System auffraß und zum Tode verurteilte.
Ich erinnere mich, um hier ausschließlich auf Verstorbene zu verweisen, an einen anderen Essayisten, Jean-François Revel, der niemals solche Trauer über die "totalitäre Versuchung" in den Demokratien, über die "große Parade", zu der sie sich bereitfanden, um den versteinerten Herren eines seinerseits versteinerten Sowjetsystems zu gefallen, und über ihre unverständliche, betrübliche, selbstmörderische "Feigheit" zum Ausdruck gebracht hätte, wenn ihm nicht bewusst gewesen wäre, dass diese Regime im Sterben lagen.
Ich erinnere mich an Michel Foucault, der immer wieder gesagt hat, dass jede Diskursformation wie auch jedes politische Gebilde geboren wird, also auch stirbt – und dass dieses Gebilde eines Tages wie alle anderen sterben wird.
Ich erinnere mich an Papst Johannes Paul II., der an die Erscheinung der Jungfrau Maria in Fatima erinnerte, die bereits im Mai 1917 den drei Hirtenkindern den Tod des Sowjetregimes geweissagt hatte, und der uns ohne Umschweife erklärte, die lang ersehnte Stunde sei nicht mehr fern.
Ich erinnere mich an die einfachen Leute, denen ich vor 1989 auf meinen Reisen in die Tschechoslowakei, nach Polen und in die Sowjetunion begegnete und die sich immer weniger von einer Mystifizierung täuschen ließen, welche sich allenfalls noch auf die von ihr verbreitete Angst stützen konnte oder auf die Willensschwäche einer "freien Welt", die ihre eigenen Werte verriet.
Anders gesagt, wir sind dabei, zwei Dinge miteinander zu verwechseln: Feigheit und Taubheit. Die Tatsache, dass man nichts hören wollte, mit der Tatsache, dass nichts gesagt worden wäre.
Die Haltung eines Kissinger, Brandt oder Giscard d'Estaing, die vor den Unterdrückten im Osten die Türe zuschlugen; die Haltung Thatchers oder Mitterrands, die, wie wir heute wissen, bis zum letzten Augenblick alles taten, um die Wiedervereinigung Deutschlands zu verhindern und die alte Ordnung zu retten; die Haltung schließlich eines intellektuellen Klerus, der in seiner übergroßen Mehrheit, in Schweden oder Norwegen wie in Frankreich, nichts über den fortdauernden Skandal zu sagen wusste, der die Hälfte Europas in einem Raum, einer Zeit und einer Zivilisation gänzlich anderer Art gefangen hielt – wir sind dabei, all das zu verwechseln mit der scheinbaren Stummheit, dem langen, stillen Grollen jener Völker, die dort im Osten längst alles verstanden hatten und nur auf den letzten Funken warteten, der ihnen den Mut gab zu sagen, dass der König, also die Diktatur, nackt war.
Diese Verwechslung ist schlimmer als ein Irrtum. Sie ist ein Fehler.
Sie ist schlimmer als eine Legende, sie ist Desinformation.
Und diese Desinformation vertreibt die Lüge nicht, sondern lässt sie auf andere Weise weiterleben. Damit löscht man eine jahrzehntelange Geschichte des Denkens und des Kampfes aus dem Gedächtnis. Und man bereitet die entmutigende Zukunft einer umgeschriebenen, manipulierten, revidierten Geschichte vor.
Schluss mit den banalen, bis zum Erbrechen wiederholten Klischees! Und Ehre all denen, die mit dem Kopf oder mit den Füßen den Zusammenbruch kommen sahen und ihn beschleunigten!
Aus dem Französischen von Michael Bischoff.
Der französische Publizist Bernard-Henri Lévy, geboren 1948, veröffentlichte auf Deutsch zuletzt seinen Briefwechsel mit Michel Houellebecq unter dem Titel "Volksfeinde – Ein Schlagabtausch".
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.11.2009 Seite 31