Sonntag, 13. Dezember 2009

Was ist mit der Kultur passiert?

Heinrich August Winklers "Geschichte des Westens" konzentriert sich allein auf die Politik. Das ist Stärke und Schwäche dieses monumentalen Werks.

Mit dem lapidaren Satz "Am Anfang war ein Glaube: der Glaube an einen Gott" hebt das vorliegende Riesenwerk an. Der Monotheismus war der Stammvater "des Westens", behauptet Heinrich August Winkler, und er nahm seinen Anfang im Ägypten des vierzehnten vorchristlichen Jahrhunderts, als König Amenophis IV. (Echnaton) den Sonnengott Aton zum alleinigen Gott erklärte. Zwar fielen die Ägypter bald wieder in ihren gewohnten Polytheismus zurück, doch wurde Aton durch Moses am Leben erhalten, wenngleich unter dem neuen Namen Jehova und mit einer neuen Theologie versehen. Dieser jüdische Monotheismus war es, so Winkler, der den Prozess der "Rationalisierung, Zivilisierung und Intellektualisierung" einleitete und den Westen schuf.

Bevor es dazu kommen konnte, bedurfte es jedoch einer weiteren entscheidenden Entwicklung. Auch sie war ein Ausfluss derselben religiösen Tradition, genauer gesagt, von Jesu Antwort auf die Frage, ob es recht sei, dass man dem römischen Kaiser Steuern zahle: "So gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!" Denn mit dieser Aufforderung nahm die Gewaltenteilung ihren Anfang. Im Mittelalter kam die Trennung zwischen dem Monarchen und den Ständen hinzu, deren dramatischste Episode sich 1215 ereignete, als König Johann auf Druck der englischen Barone die Magna Charta unterzeichnen musste.

Nachdem Montesquieu das Prinzip der Gewaltenteilung 1748 in seinem "De l'esprit des lois" maßgeblich formuliert hatte, wurde es 1776 in der amerikanischen und 1789 in der französischen Revolution von der Theorie in die Praxis umgesetzt und in den Verfassungen beider Länder verankert. Indem sie darüber hinaus die Prinzipien der Volkssouveränität und der Rechtsstaatlichkeit etablierten, vollendeten diese beiden weltgeschichtlichen Ereignisse das westliche Projekt. Seitdem, so Winkler, wird die politische Geschichte des Westens von Kämpfen "um die Aneignung oder Verwerfung des normativen Projekts der beiden atlantischen Revolutionen" bestimmt.

Dieses Szenario wirft eine naheliegende Frage auf: Was ist mit den Griechen passiert? Die verblüffende Antwort lautet: Sie sind ausgeklammert worden. Winkler führt uns ohne Umschweife von Moses zu Jesus, wobei als einziges Bindeglied seine Beobachtung dienen muss, Jesus habe "in einer Tradition des hellenistischen Judentums" gestanden. Aristoteles und Platon treten nur in Erscheinung, insofern sie Beiträge zur Entwicklung des Christentums und zur Renaissance in Italien geleistet haben. Der griechische Unabhängigkeitskampf in den 1820er Jahren nimmt in Winklers Darstellung breiteren Raum ein als das gesamte klassische Griechenland. Das Buch enthält mehr Verweise auf Frankfurt am Main als auf jede Phase der griechischen Geschichte. Den polytheistischen Römern geht es nur unwesentlich besser, dauerte es doch bis 312 nach Christus, bis endlich ein Kaiser – Konstantin – die Vorzüge des Monotheismus begriff. Dass Winkler die klassischen Wurzeln ignoriert, ist einigermaßen kühn und schreit nach einer wesentlich ausführlicheren Begründung, als hier gegeben wird, nämlich gar keine.

Die antike Welt auf das Judentum/Christentum zu reduzieren verleiht dem Buch seine spezifische chronologische Struktur, die einer auf der Spitze stehenden Pyramide gleicht. Das christliche Zeitalter wird auf Seite 30 erreicht, Karl der Große auf Seite 42 und die Magna Charta auf Seite 62. Konstantinopel fällt auf Seite 89 an die Türken, die italienische Renaissance beginnt auf Seite 93 und Luthers Reformation auf Seite 111. Nachdem die folgenden zweihundert Jahre auf sechzig atemlosen Seiten durchgenommen worden sind, lässt das Tempo spürbar nach. Nichtsdestotrotz sind wir bei den Revolutionen von 1848/49, bevor die Hälfte des Buches erreicht ist, wodurch für die letzten rund 150 Jahre gewaltig viel Platz bleibt. Dieses Ungleichgewicht wäre nicht so frappant, hätten die vorangegangenen Kapitel nicht so viele Fragen unbeantwortet gelassen und so viele Steine nicht umgedreht.

Im Rahmen der von ihm gezogenen Grenzen freilich liefert Winkler ein Buch von hoher, ja sehr hoher Qualität. Winklers größter Vorzug besteht in der Gabe, eine flüssige, stichhaltige und überzeugende politische Darstellung und Analyse zu verfassen. Obwohl er Stilmittel wie die Charakterskizze oder die unterhaltsame Vignette meidet, schreibt er nie langweilig oder unverständlich. Auch finden sich viele einprägsame Aphorismen. Darüber hinaus werden wir von dem "Warum einfach, wenn's auch schwierig geht"-Syndrom verschont, von dem einige führende Vertreter der deutschen Historikerzunft befallen sind. Winkler ist mit der besten – älteren wie neueren – deutschen, französischen, englischen und amerikanischen Literatur gründlich vertraut. Wer nach einer verlässlichen, umfassenden und lesbaren Darstellung der politischen Geschichte des Westens in der Neuzeit sucht, könnte nicht besser bedient sein.

Zwei besondere Vorzüge des Buches sollen hervorgehoben werden. Der erste ist der regelmäßige Einschub von substantiellen Abschnitten zur politischen Theorie, die den Leser zum Nachdenken und zur begrifflichen Klärung anregen. Besonders eindrucksvoll sind die Essays über Machiavelli, Hobbes, Locke, Rousseau und Tocqueville ausgefallen. Die schiere Breite seiner Kenntnisse und Tiefgründigkeit seines Verständnisses erlauben es Winkler zudem, die unterschiedlichsten erhellenden Querverweise sowohl geographischer als auch chronologischer Art anzubringen. Nachdem Kolumbus erst einmal in Südamerika und die Pilgerväter im Norden angelangt sind, mausert sich das Buch wahrhaft zur Geschichte des Westens. So weist Winkler darauf hin, dass 1848, als Europa durch seine Revolutionen von sich reden machte, die folgenreichsten Ereignisse in den Vereinigten Staaten der Vertrag von Guadalupe Hidalgo mit Mexiko sowie Goldfunde in Kalifornien waren. Wie dieses Beispiel andeutet, bekommt die Entwicklung in Nordamerika die Aufmerksamkeit, die sie verdient, und wird in den Hauptstrom der Erzählung integriert.

So gut sich Winklers konzeptueller Rahmen als übergreifendes Erklärungsschema eignet, wirft seine unermüdliche Betonung des "normativen Projekts" doch unbequeme Fragen nach der Fülle von Ausnahmen und Abweichungen auf. Insbesondere könnte man meinen, der Autor messe Verfassungsdokumenten wie der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte zu viel und der politischen Praxis zu wenig Gewicht bei. Trotz ihrer umfassenden Missachtung von Volkssouveränität, unveräußerlichen Menschenrechten oder der Gewaltenteilung gab es im "alten Regime" Großbritanniens oder dem Heiligen Römischen Reich mehr Freiheit als im revolutionären Frankreich, und zwar aus dem einfachen Grund, weil ihre morschen Strukturen den Pluralismus wenn nicht auf dem Papier, so doch realiter förderten. Winkler sieht ganz richtig, dass die Pluralität der Nationen einen wichtigen Bestandteil der spezifisch westlichen Politik bildete, doch seine einengenden normativen Kategorien verstellen ihm den Blick für das pluralistische Freiheitspotential, das gewöhnliche Männer und Frauen in der Zivilgesellschaft genießen.

Winkler bietet so viel, dass es ungehobelt erschiene, mehr zu verlangen. Kann aber eine Geschichte des Westens wirklich zufriedenstellen, die sich unter Ausschluss von praktisch allem anderen allein auf die Politik konzentriert? Von kurzen Passagen über mittelalterliche Städte und die industrielle Revolution abgesehen, bleibt die Wirtschaft ebenso ausgeklammert wie die mit ihr verbundenen sozialen Entwicklungen. Etwas mehr Aufmerksamkeit für die Entwicklung des Kapitalismus hätte vielleicht Zweifel daran gesät, ob man den Westen mit bestimmten positiven Merkmalen identifizieren kann, die sich allgemeiner, wenn vielleicht auch nicht einmütiger Zustimmung sicher sein dürfen. Handelte es sich bei Sklaverei, kolonialem Völkermord, Kinderarbeit und Antisemitismus wirklich nur um Irrwege – oder nicht doch um integrale Bestandteile des westlichen Prozesses? Der Westen gleicht eher Janus als Athena. Zudem ist die Welt in diesem Buch in hohem Maße eine von Männern, genauer gesagt, von heterosexuellen Männern. Die eine Buchseite, die den Frauen gewidmet ist, wirkt noch kümmerlicher, wenn man sie mit dem Luxus der folgenden zwanzig über (männliche) Arbeiter vergleicht. Von den marginalisierten und verfolgten Gruppen der Gesellschaft werden nur die Juden mit gebührender Aufmerksamkeit behandelt.

Die größte Auslassung betrifft die Kultur. Winklers Westen verfügt über eine politische Kultur, über die er sich ausführlich und mit großem Scharfsinn äußert; bildende Künste, Literatur oder Musik aber scheint dieser Westen nicht zu kennen. So wird die künstlerische Moderne in einem knappen Absatz abgefertigt. Shakespeare muss sich seinen einen Satz mit Dante und Cervantes teilen. Johann Sebastian Bach kommt lediglich vor, weil eines seines Orgelwerke beim Internationalen Sozialistenkongress 1912 in Basel gespielt wurde. Wagner hat einen flüchtigen Auftritt, jedoch nur als politischer Revolutionär. Mozart, Beethoven und Verdi – um nur einige der berühmtesten Abwesenden zu nennen – werden nicht einmal erwähnt. Winklers Westen ist einer für den politisch anspruchsvollen Kulturbanausen.             Tim Blanning


 

Aus dem Englischen von Michael Adrian.
Heinrich August Winkler: "Geschichte des Westens". Bd. 1: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert. C. H. Beck Verlag, München 2009. 1343 S., geb., 38,– €.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.10.2009 Seite 35