Das Krisenjahr 1973 bedeutet in der Geschichte der Bundesrepublik und der Sozialdemokratie eine Zäsur: Die Vorstellung, staatliche Intervention und Planung könnten wirtschaftliches Wachstum und Vollbeschäftigung dauerhaft sichern, wurde damals nachhaltig erschüttert. Der Partei ging nicht nur ihre Leitidee verloren, sondern mit dem sozialen Wandel auch ein wesentlicher Teil ihrer traditionellen Anhängerschaft. Von Professor Dr. Franz Walter
In der Glanzzeit Willy Brandts, im Jahr 1972, erreichten die Sozialdemokraten noch 41,4 Prozent aller Wahlberechtigten in der Bundesrepublik. Die SPD war damit eine veritable Volkspartei. Bei der Bundestagswahl im September 2009 konnte sie aber nur noch 16,1 Prozent der Wahlberechtigten in Deutschland für sich gewinnen. Eine Volkspartei ist sie in dieser Größenordnung gewiss nicht mehr.
Doch was ist hier passiert? Wer trägt die Verantwortung für den tiefen Sturz der geschichtsträchtigen deutschen Sozialdemokratie? War es in der Tat Schröder mit seiner Agenda-Politik? Lag es an der strategischen Konfusion des stets überschätzten Franz Müntefering im Wahlkampf 2009? Oder hat man mit Oskar Lafontaine doch den eigentlichen Bösewicht im Drama der SPD dingfest gemacht?
All das ist zu kurz gegriffen. Die Not der SPD hat einen weit längeren Vorlauf. Sie begann schon 1973. In diesem Jahr ging die lange, stolze Geschichte der alten industrieproletarischen Sozialdemokratie zu Ende. Überhaupt bedeutete das Jahr 1973 in vielerlei Hinsicht eine Zäsur, es markierte einen wirklich tiefen Einschnitt. Damals versiegte der Nachkriegsboom mit seinen historisch einzigartigen wirtschaftlichen Wachstumsraten. Das glückliche Vierteljahrhundert, das die von Kriegen und Krisen gebeutelten Deutschen seit der Währungsreform 1948 erlebt hatten, lief ab.
Dabei waren diese Jahrzehnte zunächst nicht einmal von der Sozialdemokratie, sondern stark von den christlich-demokratischen Parteien geprägt gewesen. Aber ein Merkmal dieses Abschnitts verbanden die Sozialdemokraten später gern mit sich selbst: den epochalen Ausbau des Sozialstaats. In diesen 25 Jahren konnte gelingen, was in der Weimarer Republik noch scheitern musste: die Harmonisierung von Rentabilitätsinteressen des Besitzbürgertums mit den Verteilungsansprüchen der Arbeitnehmer dank üppiger Wachstumserfolge der Industrie.
Man saß in einem Boot, wie es damals besonders Christliche Demokraten gern und ganz im Sinne ihrer Sozialphilosophie verkündeten. Die Sozialdemokraten übernahmen zeitverzögert diese Maxime und stellten sich dann stillschweigend auf dieses Fundament. Als die SPD 1966 zunächst noch als Juniorpartner in Bonn an die Regierung kam, setzte sie zusätzliche wohlfahrtsstaatliche Sahnehäubchen auf das christlich-demokratische Konsensmodell. Die Sozialpolitik wurde weiter ausgedehnt und fortan stärker als Gesellschaftspolitik begriffen, als rational verfügbares Instrument zur gesteuerten Vermehrung der Bildungschancen und der Veränderung der Einkommensverhältnisse.
In den Kontext einer geplanten Gesellschaftspolitik gehörten von nun an auch der Wohnungsbau, das Gesundheitswesen, die Sozialarbeit — der öffentliche Sektor schlechthin. Einiges davon war schon im christlich-demokratischen Modell angelegt und von CDU-Kanzlern begonnen worden. Aber Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik, das war der eigentliche Ehrgeiz der Sozialdemokraten. Wie die Christlichen Demokraten bauten auch sie ganz auf eine sich Jahr für Jahr ausweitende Ökonomie, auf rauchende Schlote, florierende Geschäfte der nationalen Unternehmen. Von 1967 bis 1973 fand die SPD solche Bedingungen als Regierungspartei vor. Das waren die sechs großen, glänzenden, besten Jahre der reformorientierten Sozialdemokratie in der Geschichte der deutschen Industriegesellschaft.
Im Herbst 1973 wurde plötzlich alles anders. Diese Monate läuteten die lange Depression der deutschen Sozialdemokratie ein. Auch Willy Brandt, ihr großer Held der vorangegangenen Jahre, ging nicht unbeschädigt aus jenem Herbst hervor. Die Zustimmungswerte für seine Partei fielen damals um zehn Prozentpunkte; er selbst verlor rasant an Rückhalt. Man traute dem Bundeskanzler politische Führungskraft in der Krise nicht mehr zu. Aber in jenen grauen Monaten des Jahres 1973 herrschte Krise. Über die Deutschen, die sich im vorangegangenen Vierteljahrhundert an kontinuierliche Wohlstandsmehrung gewöhnt hatten, brach sie indes überraschend herein. Das Wort "Schock" wurde zwischen München und Kiel zu einem Begriff für den Ausdruck des Lebensgefühls.
Der Ursprung dieses "Schocks" lag in der jähen Erhöhung des Ölpreises. Zum Symbol der neuen Schockerfahrungen wurden die vier autofreien Sonntage zwischen dem 25. November und dem 16. Dezember 1973 aufgrund eines generellen Fahrverbots. Tristesse und Verunsicherung lagen über der Republik. Ein nicht geringer Teil der Bevölkerung begann wieder Hamsterkäufe zu tätigen. Fußballspiele unter Flutlicht hatte der DFB untersagt. Die Boulevardzeitungen machten Auflage mit unheilschwangeren Titeln wie: "Gehen in Europa die Lichter aus?" Die von der Sozialdemokratie genährte Erwartung, Wohlstand, Sicherheit und Modernität ließen sich systematisch und planvoll auf die Gleise in Richtung einer reibungslos administrierten Zukunft setzen, wirkte auf einmal fragil.
Aber die Erwartung blieb. Sie hielt sich lange – und das keineswegs nur bei Zugehörigen der SPD. Am Ende des glücklichen Vierteljahrhunderts in der Geschichte der Bundesrepublik hatten sich ein, zwei ganze Generationen daran gewöhnt, wirtschaftliches Dauerwachstum für selbstverständlich zu halten, Vollbeschäftigung als Regel anzusehen, die stete Erweiterung des staatlichen Leistungsangebotes zum guten Bürgerrecht aufzuwerten. In den sozialdemokratischen Regierungsjahren 1968 bis 1973 gab es die bis dahin längste konjunkturelle Aufschwungphase der jüngeren Geschichte.
In dieser Zeit bündelten sich Wohlstandshoffnungen, soziales Sicherheitsverlangen, Konsumentenhybris, Aufstiegsaspirationen zu einer sehr spezifischen und gefestigten Mentalität, die den Einschnitt von 1973 weit überdauerte und als gesellschaftliche Norm und Haltung gegenüber der Politik fortlebte, während die ökonomischen Grundlagen dafür längst tiefe Risse bekamen. Ein scharfer neoliberaler Wind konnte durch die sozialstaatlich abgekitteten Fugen der bundesdeutschen Gesellschaft auch in den späteren Zeiten bürgerlicher Regierungen nicht wehen. Für einen marktzentrierten Individualismus musste erst eine neue Generation mit neuen Erfahrungen jenseits der zuvor entfalteten universellen Wohlfahrtsimperative heranwachsen.
Die Dominanz der wohlfahrtsstaatlichen Einstellungen auch nach der Zäsur von 1973 hielt die SPD bei Wahlen und Koalitionsbildungen noch lange im Rennen. Aber in dieser sozialpolitischen Dauererwartung nisteten auch alle Keime der Verdrossenheit, der Wut und Enttäuschung über die Sozialdemokraten, die zunehmend weniger von dem einlösen konnten, was sie als Anspruch vor 1973 selbst Zug um Zug mit aufgebaut und so zu einer stabilen gesellschaftlichen Mentalität festgezurrt hatten.
Seit dem Herbst 1973 kollidierte die kollektive Erfahrung des vorangegangenen Vierteljahrhunderts mit neuen ökonomischen und sozialen Entwicklungsschüben, die sich nunmehr vollzogen. Das Wachstum verschwand zwar auch in den folgenden Jahren nicht; aber es schwächte sich deutlich ab, verlief erratischer, verlor an Stabilität und Tempo. Die Massenarbeitslosigkeit, die man schon weithin durch das Regierungsmanagement antizyklischer Eingriffe für überwunden hielt, kehrte zurück und gewann an Dauer. Selbst in Phasen des Aufschwungs reduzierten sich die Arbeitslosenzahlen kaum; 1973 lag die Zahl der Erwerbslosen noch bei 0,27 Millionen, als die sozialliberale Koalition 1982 zu Ende ging, war schon die Zwei-Millionen-Grenze erreicht.
Am stärksten von Arbeitsplatzabbau betroffen waren die klassischen Industriesektoren und herkömmlichen Domänen der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung: der Bergbau, die Stahlproduktion, der Schiffsbau und die Textilherstellung. Die sozialdemokratisch geführten Regierungen hielten lange an den früheren Lokomotiven des deutschen Industriekapitalismus fest. Sie sparten nicht mit Subventionen – und konnten den Strukturwandel dennoch nicht aufhalten. Aber er kam durch den staatlichen Interventionismus teuer.
Natürlich absorbierte auch die neue Arbeitslosigkeit — mit der die sozialdemokratischen Gesellschaftsplaner niemals gerechnet hatten — beträchtliche Mittel aus den Sozialetats. Zwischen 1973 und 1983 verachtfachte sich die Summe der Zahlungen an Erwerbslose in Deutschland. Die Verschuldung des Staates stieg in dieser Dekade sprunghaft an. Der Spielraum für Sozialpolitik als präventive Gesellschaftspolitik engte sich im gleichen Maße ein. Das entzog dem sozialdemokratisch-reformistischen Politikmodell der späten sechziger und frühen siebziger Jahre die Basis. Im Transformationsprozess der alten Industriegesellschaft zu neuen Technologien und Dienstleistungen kehrten sich die Schwerpunkte ökonomischer Prosperität um. Aus dem früheren Nord-Süd-Gefälle wurde nach 1973 mehr und mehr eine Süd-Nord-Differenz, bei der die Brachen der industriellen Vergangenheit überwiegend nördlich der Main-Linie lagen. Aus den Zentren des ökonomischen Fortschritts, in denen sich fast hundert Jahre lang sozialdemokratische Heimaten herausgebildet hatten, wurden Stätten der sozialen Nachhut, Orte der Zurückgebliebenen und Entbehrlichen. Die neuen Gewinnerregionen, Baden-Württemberg und Bayern, dagegen waren traditionell Diasporagebiete für die SPD, die Gewerkschaften und linke Arbeiterorganisationen schlechthin.
1973 war auch das Jahr, in dem der tertiäre Sektor den sekundären erstmals an Bedeutung übertraf. Etliche Traditionsfirmen aus der hundertjährigen Industriegeschichte Deutschlands verschwanden von der Bildfläche. Ganze Arbeitergruppen, die lange das Bild der Straßen und Wohnquartiere in den urbanen Zentren des Landes geprägt hatten, lösten sich in diesem Prozess mit auf. Ihre Arbeitskraft, oft schlecht oder gar nicht qualifiziert, wurde nicht mehr gebraucht. Andere Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt gab es für die meisten auch nicht mehr. Und so rutschten sie ab in die soziale Gruppe, die später als "neue Unterschicht" kategorisiert und stigmatisiert wurde.
Die alte, berufsstolze, disziplinierte, selbstbewusste, zukunftsoptimistische, kulturell ambitionierte Arbeiterklasse verließ die Bühne. Der "Malocher" mit starken Muskeln und hohem Klassenbewusstsein, mit gewerkschaftlichem Engagement und gut geschulter sozialistischer Gesinnung trat ab. Das, was früher ein linkes Arbeitermilieu bildete, engmaschig organisiert und lebensweltlich wie normativ homogen, konnte nicht mehr bestehen. Die Arbeiterklasse von ehedem spaltete sich auf: Einerseits in die Verlierer, zunehmend atomisierte, resignierte und zur Apathie neigende Menschen. Sie blieben in ihrem angestammten Wohnviertel, das aber Jahr für Jahr mehr von einem wertgebundenen Arbeiter- zu einem verwahrlosten Arbeitslosenquartier herabsank. Auf der anderen Seite standen die Gewinner. Sie hatten die Bildungsreformen genutzt und die Aufstiegschancen im öffentlichen Dienst und in den neuen ökonomischen Sektoren ergriffen. Sie waren nun die "Insider", denen es nach 1973 besser ging als ihren zuvor sozial blockierten Eltern und Großeltern.
Die aufsteigenden "Insider" ließen fortan die Ausgestoßenen des Deindustrialisierungsprozesses, die neuen "Outsider", zurück, organisierten sie nicht mehr, formten sie nicht mehr kulturell, gaben ihnen keine politische Orientierung und Interpretationen mehr vor, stifteten weder Sinn noch Halt. Die Klassenbasis des Handarbeitersozialismus zerbrach durch Aufstieg der einen und Abstieg der anderen. Die sozialdemokratische Aktivitas rekrutierte sich im Folgenden nahezu ausschließlich aus den Aufsteigern. Eine Interessenidentität zwischen ihnen und den zurückgebliebenen "Outsidern" gab es nicht. Im Gegenteil, alle Formen der Alimentation für die bei einer postindustriellen Innovation Entbehrlichen erhöhten die Abgaben und Steuern der neuen, durch sozialdemokratische Regierungspolitik mitproduzierten Arbeitnehmermitte der White-Collar-Berufe. Und je höher spezialisiert kleine Gruppen dieser neuen Mitte in elementaren Funktionsbereichen der mobilen Gesellschaft waren, desto stärker konnten sie Druck für eigene, eng begrenzte Interessen entfalten. Auch das zeigte das Jahr 1973, als die Fluglotsen erstmals in einen längeren Bummelstreik traten. Diese Gruppe brauchte nicht die millionenfache Kollektivität einer zentralisierten Gewerkschaftsorganisation, und auch die Lieder von der Solidarität gehörten nicht mehr zu ihrem Repertoire.
Zu einem "roten Jahrzehnt" also wurden die siebziger Jahre nicht, wenngleich einige Zeitgenossen sich später so erinnerten. Als sozialdemokratisches Jahrzehnt lassen sich die Jahre unter Helmut Schmidt, lässt sich die knappe Dekade nach 1973 schwerlich fassen. Die Sozialdemokratie, wie man sie bis dahin kannte, war vielmehr die große Verliererin des Epochenwechsels von 1973.
Selbst die reformistischen oder revisionistischen Sozialdemokraten, die sich in ihrer Partei nach 1914/18 allmählich durchsetzen konnten, hatten auf die höhere Rationalität des Staates gegenüber dem Wildwuchs der kapitalistischen Marktanarchie gesetzt. Auch sie stellten sich die soziale Demokratie im geschichtsphilosophischen Optimismus als kontinuierlichen Ausbau der Sozialquote, des öffentlichen Sektors, der wohlfahrtsstaatlichen Leistungen vor. Und von Eduard Bernstein über Friedrich Ebert und Rudolf Hilferding bis zu Karl Schiller oder Willy Brandt vertrauten dabei alle auf die grundsätzliche Verfügbarkeit von rationalen Steuerungsinstrumenten.
Nur etwa sieben Jahre in der deutschen Geschichte traf und verkörperte diese sozialdemokratische Denkart den Geist der Zeit, fand Resonanz auch im Zentrum der Gesellschaft, bildete sogar die Klammer im sozialen Bündnis von Mitte und Unten und avancierte zum Paradigma realer Regierungspolitik. Das waren die Jahre von 1966 bis 1973. Seither hat die sozialdemokratische Idee von der politisch-administrativischen Steuerung des ökonomischen und gesellschaftlichen Laufs ihre Zug- und Überzeugungskraft verloren. Schon wenige Jahre nach der innenpolitischen Ära Brandt/ Schiller/Ehmke war für die meisten wohl kaum mehr zu begreifen, welcher Zauber von Begriffen wie "Globalsteuerung", "konzertierte Aktion", "Vorhabenerfassungssystem" ausgegangen war. In den frühen siebziger Jahren insinuierten sie noch Aufklärung und Modernität. Am Ende des Jahrzehnts wirkten sie wie hybride Begriffsmonster einer anmaßenden Politiktechnokratie. Die Sprache der Sozialdemokraten flirrte nicht mehr, sie stieß ab.
Der Staat erschien nicht länger als befreiende Instanz, sondern wieder als bedrückender und restriktiver Leviatan. Er galt nicht mehr als Problemlöser, sondern als Problemproduzent, zumindest als hoffnungslos überforderte Institution angesichts all der neuen Komplexitäten, die er durch die nicht beabsichtigten Folgen seiner Aktivitäten oft noch erhöhte. "Unregierbarkeit" hieß das Stichwort nach 1973, wo doch unmittelbar zuvor noch die Optimierung aller Regierungsaktionen in Aussicht gestellt worden war.
"Die Geschichte des 20. Jahrhunderts war seit 1973 die Geschichte einer Welt", so formulierte es der britische Historiker Eric Hobsbawm, "die ihre Orientierung verloren hat". Das galt sicher allgemein, aber es traf doch ganz besonders auf die Sozialdemokraten zu. Die sozialdemokratischen Ziele und erst recht die Pfade dorthin waren nach 1973 in Frage gestellt. Doch Antworten gab es fürs Erste nicht. Die Improvisation wurde folglich zum Politikstil sozialdemokratischer Bundeskanzler, von Helmut Schmidt bis Gerhard Schröder. Keiner von beiden hatte noch einen Plan, ein festumrissenes Projekt. Illusionsloser als viele in ihrer Partei, wussten sie, dass mit der unterkomplexen Sichtweise der alten Sozialdemokratie – Bürgertum versus Arbeiterklasse; Markt kontra Staat; Sozialgesetze statt Profite – komplexe und in vielerlei Hinsicht nur fragil verkoppelte moderne Gesellschaften nicht mehr angemessen politisch geführt werden konnten. Über eine neue Idee, gar ein neues System stringenter sozialdemokratischer Politik verfügten Schmidt und Schröder aber auch nicht. Woher sollte denn Kohärenz auch kommen? Und war sie für die neue postindustrielle Gesellschaft überhaupt wünschenswert?
Doch gerade die sozialdemokratische Kernanhängerschaft tat sich mit dem Verlust dieser Idee sehr schwer. Denn das war es ja, woraus Sozialdemokraten ihr Selbst- und Sendungsbewusstsein gezogen hatten – dass sie fest zu wissen meinten, wer das Subjekt der Geschichte sei, wie der Königsweg auszusehen habe, der zu einem eindeutig identifizierbaren historischen Zielpunkt führte: nämlich die industrielle Arbeiterklasse, die Gesellschaft und Wirtschaft über den Staat planvoll und sukzessive in den dann von Klassenprivilegien befreiten demokratischen Sozialismus lenkte. Arbeiterklasse – Planungsstaat – demokratischer Sozialismus: Das waren nach 1973 bald nur noch Artefakte oder Schimären. Aber viele Sozialdemokraten hatten das sich selbst gegenüber noch lange geleugnet. Sie hielten an Selbstbeschreibungen fest, die nicht mehr passten, nicht mehr stimmten. So haderten sie in den folgenden Jahrzehnten oft mit sich, weil sie in der Realität selbst nicht mehr so waren, wie sie sich in den Erzählungen noch gern darstellten. In der Zeit um 1973 nahm das alles seinen Anfang.
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Der Verfasser lehrt Politikwissenschaft an der Universität Göttingen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11.12.2009 Seite 9