Von Heike Schmoll Die entscheidenden Ziele der Reform sind nicht erreicht worden.
Als die europäischen Bildungsminister sich vor zehn Jahren an einer der alten europäischen Universitäten, in Bologna, über einen europäischen Hochschulraum und ein gestuftes Studiensystem verständigten, konnten sie nicht ahnen, dass sie damit die Idee der europäischen Universität begraben würden. Im Text der Bologna-Erklärung war nur von Vergleichbarkeit und Kompatibilität der Abschlüsse die Rede. Doch in Berlin, wo man bisweilen gern den europäischen Musterknaben spielt, wurde daraus die fixe Idee, es ginge um einheitliche Abschlüsse. Wie konnte ein solcher Konformitätsdruck widerstandslos hingenommen werden?
Die Bildungsexpansion der siebziger und achtziger Jahre hatte die Unzufriedenheit mit der selbstverwalteten Massenuniversität schon lange verschärft: überfüllte Seminare und Vorlesungen vor allem in den Geisteswissenschaften, viele Langzeitstudenten, die nie zum Ende kamen, und zu viele Studienabbrecher. Die mit Bologna eingeleiteten Hochschulreformen wiesen jedoch nicht den Ausweg aus der Krise. Sie erscheinen bis heute eher als deren Ausdruck.
Die Studienstrukturreform nach Bologna ist eine schlechte Kopie angelsächsischer Systeme. Zwei ihrer entscheidenden Ziele sind nicht erreicht worden: eine größere Mobilität der Studenten sowie die internationale Anerkennungsfähigkeit der Abschlüsse. Stattdessen blüht der Provinzialismus. Schon Studienanfänger werden darauf getrimmt, Punkte zählend von Pflichtveranstaltung zu Pflichtveranstaltung zu eilen. Für Studienortwechsel oder Auslandsaufenthalte bleibt so wenig Zeit wie zum Nachdenken. Für Studenten heißt die neue Bologna-Wirklichkeit: Zielstrebigkeit ohne Umwege und Sackgassen. Neugier, Erkenntnisinteresse, selbständiges Denken – also alles, was höhere Bildung ausmacht – bleiben auf der Strecke.
Mit der Idee der europäischen Universität war ursprünglich keine Institution, sondern eine eigene Lebensform verbunden. Die Mantras der Bologna-Studiengänge klingen jedoch ganz anders: schnell, straff, praxisbezogen und interdisziplinär. An die Stelle von Erkenntnisprozessen mit ungewissem Ausgang sind Berufsorientierung und Reproduktion getreten, die sich in einem uniformierten Einheitsenglisch ausdrücken und damit Internationalität vorgaukeln.
Wer nach dem Studium durch die Segnungen der Exzellenzinitiative in den Genuss einer Nachwuchsförderung gelangt, soll lehren, forschen und trotz eigener Unerfahrenheit eine Doktorandengruppe leiten. Nicht selten hangeln sich junge Wissenschaftler inzwischen von Drittmittelprojekt zu Drittmittelprojekt und kommen darüber in die Jahre. In einem System, das die Anzahl der eingeworbenen Drittmittel zu einem Qualitätskriterium erhebt, wird derjenige zum Versager, der ihrer nicht bedarf. So sagt die Höhe der eingeworbenen Drittmittel inzwischen mehr über die wissenschaftliche Qualifikation eines Hochschullehrers aus als ein von ihm verfasstes "zweites Buch" (Habilitation).
Hier werden die Prioritäten der sogenannten Wissensgesellschaft in erschreckender Weise sichtbar. Es sind nicht mehr Bildungsvorstellungen, die bei der Auswahl des Wissens und der Stoffe entscheiden, sondern vermeintliche Wettbewerbsvorteile. Das Studieren unterschied sich bisher vom schulischen Lernen durch größere Selbständigkeit, aber auch dadurch, dass es den Lernenden ein höheres Abstraktions- und Theorieniveau abverlangte. An die Stelle des Studierens ist der "workload", die erwartete Arbeitsleistung des Studenten, getreten.
Es liegt in der Logik von Bologna, dass auch für die Lehrleistung eigene Maßstäbe entwickelt wurden. Gemessen werden Weiterbildung, Forschung und Zukunftsentwicklung, Prüfungen und Studienabschlüsse, Studentenzahlen, die Einhaltung von Regelstudienzeiten, drittmittelfinanzierte Forschungsprojekte, der Frauenanteil unter den Hochschullehrern, Auslandsaufenthalte und Studienabschlüsse von Frauen. Diese Kriterien verraten ein wissenschaftsfremdes Proporzdenken. Hinter dem Zauberwort LOM (leistungsorientierte Mittelvergabe) verbirgt sich ein zeitfressender Moloch, der Wissenschaftler von Forschung und Lehre abhält und sie als Gutachter durch das Land jagt, um den immerwährenden Kreislauf der Evaluation aufrechtzuerhalten.
So richtig es ist, von den Universitäten Rechenschaft für die Verwendung ihrer Gelder zu verlangen und deshalb Leistungskriterien einzuführen, so ruinös ist es, sie zu wesentlichen Kontroll- und Steuerungsinstanzen für den gesamten Universitätsbetrieb zu machen. Ein Wissenschaftsminister, der sich vor fünfzehn Jahren mit derartigen Neuerungsvorschlägen an die Öffentlichkeit gewagt hätte, wäre mit höhnischem Gelächter bedacht worden. Heute jedoch gilt: "Ich bin evaluiert, also bin ich."
Vieles, was oberflächlich betrachtet die Selbständigkeit der Universitäten zu stärken scheint, etwa die eigene Dienstherreneigenschaft mit dem Recht auf Berufung, wird durch sogenannte Zielvereinbarungen zunichtegemacht. Unter dem Deckmantel der Autonomie verengen sich Freiräume zusehends. Dennoch gibt es Versuche, die Bologna-Erklärung freier auszulegen, Diplome beizubehalten und Neues auszuprobieren. Wann bringen alle Fachbereiche den Mut dazu auf?