Wilfried Härle Warum wir dazu kein Gesetz brauchen
Ein Patientenverfügungsgesetz ist der Versuch, ein Problem mit juristischen Mitteln zu lösen, das mit juristischen Mitteln nicht zu lösen ist. Das kann nur schiefgehen.
Die Frage lautet: Wie können wir sicherstellen, dass mit einem Menschen, der nicht (mehr) einwilligungsfähig ist, an seinem Lebensende das geschieht, was er dann getan oder unterlassen haben möchte? Dieses Problem ist nicht zu lösen, weil wir keine sicheren Mittel haben, um zu erfahren, was ein Mensch im Zustand der Einwilligungsunfähigkeit möchte. Es gibt jedoch einige Annäherungsmöglichkeiten:
Die erste, seit einiger Zeit eingehend erörterte und heftig umstrittene ist ein Gesetz, das festlegt, dass (mit bestimmten Einschränkungen und unter bestimmten Bedingungen) das getan und unterlassen werden muss, was dieser Mensch irgendwann zuvor in Form einer Patientenverfügung niedergelegt hat. Aber niemand hat die Gewähr dafür, dass das auch das ist, was der Patient jetzt wünschen würde, wenn er sich noch äußern könnte. Patientenverfügungen legen einen Menschen in der Situation des weit entfernten oder baldigen Sterbens auf das fest, was er früher einmal niedergelegt hat.
Die zweite, längst bestehende und unumstrittene Möglichkeit ist die Ausstellung einer Vorsorgevollmacht an eine Person des eigenen Vertrauens, die im Zustand der Einwilligungsunfähigkeit des Patienten entscheiden darf und soll, welche Maßnahmen in seinem Sinne und Interesse ergriffen und welche unterlassen werden sollen. Niemand kann bestreiten, dass eine Person des eigenen Vertrauens im Wissen um dann bestehende Therapiemöglichkeiten und Lebensumstände eine Entscheidung im Interesse des Patienten besser treffen kann als eine Patientenverfügung. Denn bei der Papierverfügung stellt sich immer die Frage: Was wusste und meinte der Mensch, der sie damals ausfüllte und unterschrieb?
Die dritte, immer mehr an Bedeutung gewinnende Möglichkeit ist die einfühlsame Wahrnehmung der Äußerungsmöglichkeiten, die auch Menschen im Zustand der sogenannten Nichteinwilligungsfähigkeit noch haben. Dazu bedarf es großer Aufmerksamkeit, Zugewandtheit. Insbesondere im Zusammenhang mit Forschung an und mit Demenzkranken haben Wissenschaft und praktische Pflegetätigkeit hier große Fortschritte erzielt. Gerade das würde aber gefährdet, wenn ein Patientenverfügungsgesetz in den Sterbeprozess eingreifen und vorschreiben würde, dann auf Grund einer alten Verfügung "kurzen Prozess" zu machen.
Nichts gegen Patientenverfügungen selbst. Solange sie ein Element in dem Prozess der achtsamen Begleitung von Sterbenden sind, können sie ein wichtiges Hilfsmittel sein, um den Willen des sterbenden Menschen zu erkunden und umzusetzen. Und als dieses eine Element bestehen und wirken sie längst. Aber sobald sie durch ein Patientenverfügungsgesetz zu dem rechtlich verbindlichen Kriterium gemacht werden, das im Sterbeprozess anzuwenden und umzusetzen ist, gerät die Menschlichkeit des Sterbens wie der Sterbebegleitung und auch die Beachtung des aktuellen Willens des Sterbenden in große Gefahr. Es droht im Namen einer in Wahrheit nicht erreichbaren "Rechtssicherheit" eine Verdinglichung des Sterbens, die niemand wollen kann.
Das zeigt sich auch im Vergleich der drei vorliegenden Entwürfe (Stünker; Zöller; Bosbach/Röspel). Je mehr ein Entwurf an Rechtssicherheit verspricht (Richtung Stünker), desto schematischer orientiert er sich ausschließlich am Prinzip der (früher beanspruchten) Selbstbestimmung. Umgekehrt: Je ethisch differenzierter ein Gesetzentwurf versucht, der Verantwortung für das Leben und Sterben umfassend gerecht zu werden (Richtung Bosbach/Röspel), desto weniger kann er für rechtliche Klarheit sorgen.
Sollte trotz aller Bedenken und Warnungen einer der drei Entwürfe tatsächlich Rechtskraft erlangen, so werden die Gerichte reichlich zu tun bekommen; denn zwei Fragen, die nicht einfach und eindeutig zu beantworten sind, werden sich in den meisten Fällen stellen: Erstens: Für welche Krankheitssituation soll die Patientenverfügung nach dem damaligen Willen des Unterzeichneten tatsächlich gelten und für welche nicht? Zweitens: Was konnte die Person damals (zum Zeitpunkt der Unterzeichnung) über die jetzt (also zum Zeitpunkt der Anwendung) bestehenden therapeutischen Möglichkeiten wissen, und was wusste sie tatsächlich darüber? Und das sollen im Konfliktfall Gerichte entscheiden?
Es stimmt nachdenklich, dass neben und mit der evangelischen und katholischen Kirche auch die Standesvertretungen der Ärzteschaft angesichts all dieser Einwände davor warnen, einen der vorliegenden Gesetzentwürfe anzunehmen. Gegen die Angst vieler Menschen vor einem qualvollen, einsamen, als sinnlos empfundenen Sterbeprozess und vor einer Medizin, die vermeintlich nicht loslassen kann, hilft kein Patientenverfügungsgesetz, sondern nur ein achtsamer Umgang mit Patienten und Sterbenden, der mit ihnen danach sucht, wie sie ihren Tod sterben können. Dazu können Patientenverfügungen eine Hilfe sein – ein Patientenverfügungsgesetz brauchen wir dazu nicht. Es wäre ein Schritt in eine falsche Richtung.
Der Verfasser ist Vorsitzender der "Kammer für Öffentliche Verantwortung" der EKD und emeritierter Professor für Systematische Theologie/Ethik an der Universität Heidelberg.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.06.2009 Seite 8