Dürfen Christen unter den Juden Mission treiben? Oder doch dafür beten, dass sie sich zu Christus bekehren? Zur Kritik der Denkfigur der zwei Bundesvölker. Von Robert Spaemann
Komm, wir gehen für unser Volk" sind die letzten überlieferten Worte der Philosophin und Karmeliternonne Edith Stein zu ihrer Schwester Rosa, als die beiden in Holland zum Transport nach Auschwitz abgeholt wurden. Das Wort wurde seither oft zitiert, aber in der Regel ohne Kenntnis, was das "für" eigentlich meinte. Was es meinte, erfährt man aus dem Testament Edith Steins von 1939. Ihren gewaltsamen Tod vorausahnend, schreibt sie, sie gebe ihr Leben "zur Sühne für den Unglauben des jüdischen Volkes". Dazu muss man wissen, dass für Edith Stein die Konversion zum Christentum zugleich die Wiederentdeckung ihrer Zugehörigkeit zum jüdischen Volk und eine tiefe Solidarisierung mit diesem bedeutete. Das Bekenntnis zu Jesus Christus war für sie (ebenso wie später für den nachmaligen Erzbischof von Paris, Kardinal Lustiger) die Erfüllung der jüdischen Bestimmung.
Alles falsch – erklärt uns nun, einige Jahre nach Kardinal Lehmann, das Zentralkomitee der deutschen Katholiken in einer Broschüre, die den Titel trägt: "Nein zur Judenmission – Ja zum Dialog zwischen Juden und Christen". Kardinal Lehmann wollte die beiden genannten großen Gestalten christlicher Juden noch als Ausnahmen gelten lassen, während der normale Heilsweg der Juden (im Unterschied zu dem aller übrigen Menschen) nicht über Jesus gehe. Das ZdK geht den Weg konsequent zu Ende. Es gibt also danach nicht mehr, wie es die Apostel und mit ihnen die ganze christliche Tradition sahen, das eine Bundesvolk Israel, das sich in Christus nun für alle Völker öffnet und zur "Kirche aus Juden und Heiden" wird.
Die Kirche braucht angeblich die Juden nicht mehr. Sie ist zur Heidenkirche geworden und soll nun nichts anderes mehr sein wollen. Verschwinden muss nicht nur "Judenmission", was immer das heißen mag, die Christen müssen auch aufhören, den Juden im Gebet das Beste zu erbitten, was jeder Christ seinem Nächsten erbitten kann: die Erkenntnis Jesu als seines Erlösers. Juden brauchen keinen Erlöser, lesen wir in der Broschüre. Das muss also wohl heißen, dass sie den "Gottesknecht" des Propheten Jesaja an die Christen abgetreten haben, die ihre Deutung des Todes Jesu als eines erlösenden Sühnetodes vor allem dem Gottesknechtlied des Jesaja verdanken, das sie an jedem Karfreitag lesen und in dem es heißt: "Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünden willen zerschlagen, . . . auf dass wir Frieden hätten. Und durch seine Wunden sind wir geheilt."
Man muss den Anlass zu der Broschüre verstehen. Im Jahre 1989, als Reaktion auf die illegalen Priesterweihen des Erzbischofs Lefebvre und das damals entstandene Schisma, ersuchte Papst Johannes Paul II. die Bischöfe der Welt um großherziges Entgegenkommen gegenüber den Gläubigen, die um die Feier der Messe in der Form des Missale von Papst Johannes XXIII. aus dem Jahr 1962 baten. Diese "alte Messe" enthielt am Karfreitag im Rahmen der großen Fürbitten auch ein Gebet für die Juden, an dem Johannes XXIII. nur eine kleine Korrektur vorgenommen hatte: Aus der Aufforderung, für die "untreuen Juden" zu beten, wurde das Wort "untreu" gestrichen. Das Gebet selbst blieb unverändert. Es enthält die (paulinische) Bitte um Wegnahme des "Schleiers von ihrem Herzen", der sie hindert, in Jesus ihren Messias und Erlöser zu erkennen.
Man kann aus dem Text des Gebetes einen gewissen diskriminierenden Ton heraushören. Johannes Paul II. sah dennoch bei der Wiederzulassung der alten Messe keinen Grund, den Text zu ändern. Erst Benedikt XVI. ging in der Liberalisierung einen Schritt weiter und gab den Gläubigen einen Rechtsanspruch auf die Feier in der "außerordentlichen Form". In diesem Zusammenhang formulierte er die Fürbitte für die Juden neu. Sie ist nun in einem brüderlichen Ton gehalten: "Lasst uns auch beten für die Juden, dass unser Gott und Herr ihre Herzen erleuchte, damit sie Jesus Christus als Retter aller Menschen erkennen." Die Formulierung macht die eschatologische Dimension der Bitte deutlich: Nach Paulus wird Gott sie spätestens erhören, wenn "die Fülle der zur Bekehrung berufenen Heiden (der Völker)" eingetreten ist.
Dass ausgerechnet diese ganz und gar israelfreundliche Korrektur eine breite publizistische Kritik auslöste, der sich sogar der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz und – natürlich – das Zentralkomitee der deutschen Katholiken anschloss, ist schwer begreiflich. Gegen Johannes XXIII. und gegen Johannes Paul II. wurde eine solche Kritik wegen ihres Festhaltens am früheren Text nie erhoben. Was die Kritiker nun fordern, ist die Ersetzung des Gebetes in der "alten Messe" durch das Fürbittgebet der neuen Liturgie Pauls VI. – und zwar deshalb, weil in diesem Gebet der Name Jesus gar nicht mehr vorkommt. Das soll den Text auch für Juden akzeptabel machen, an die doch diese Bitte gar nicht gerichtet ist und die für sie auch nicht verantwortlich sind.
Dass es absurd ist, Papst Benedikt XVI. dieses Gebet vorzuwerfen, schrieb bereits vor einem Jahr der hochangesehene New Yorker Rabbiner Jacob Neusner, der darauf hinwies, dass doch die Juden selbst in ihrer Liturgie täglich für die Bekehrung aller Nichtjuden beten. "So wenig wie das Christentum und der Islam Anstoß am israelitischen Gebet nehmen, sollte auch das heilige Israel keinen Einwand gegen das katholische Gebet erheben. Beide Gebete . . . erfassen die Logik des Monotheismus und seine eschatologische Hoffnung."
Die Thesen der von Juden und Christen gemeinsam verfassten Broschüre sind, kurz gefasst, folgende. Erstens: Die Karfreitagsbitte legt es nahe, dass die Kirche "Judenmission" für möglich hält, wie sie heute zum Beispiel von den "messianischen Juden" in Israel praktiziert wird. Zweitens: Versuche, Juden von der Messianität Jesu zu überzeugen, sind zu missbilligen. Es gibt keinen Auftrag Jesu, Juden zum Glauben an ihn und zur Taufe zu bewegen. Drittens: Es gibt eine mit anderen interreligiösen Beziehungen unvergleichbare Beziehung zwischen Christentum und Judentum. Beide beruhen auf göttlicher Offenbarung. Bezüglich des Alten Testaments glauben das beide; bezüglich des Neuen nur die Christen selbst.
Viertens: Neben dem "Bundesvolk" Israel gibt es nach christlichem Glauben ein zweites, das Volk Gottes aus den Völkern, das heißt den Nichtjuden. Der neue Bund ersetzt nicht den alten, sondern tritt als ein zweiter Bund neben diesen. Fünftens: Beide sind vollgültige, von Gott gewollte Heilswege. Für Juden gibt es keinen Grund, an Jesus zu glauben und sich taufen zu lassen. Sechstens: Die Vereinigung beider Wege mag, wie Paulus denkt, am Ende der Zeiten geschehen. Bis dahin sollen sie getrennt bleiben. Die Erwartung von Christen, dass Juden schon heute Jesus als den Christus, das heißt den Messias anerkennen, würde "die Basis für den katholisch-jüdischen Dialog zerstören". Siebtens: Dialog zwischen Juden und Christen soll stattfinden. Christen sollen in diesem Dialog ihren Glauben bezeugen, aber ohne den Partner von der Wahrheit dieses Glaubens überzeugen zu wollen, denn das wäre "Mission" und deshalb verwerflich.
Man muss sich klarmachen, dass die Annahme der meisten dieser Thesen einen Bruch mit dem Selbstverständnis der Kirche seit den Tagen der Apostel bedeuten würde. Ich für meinen Teil könnte dieser Kirche nicht mehr angehören. Denn seit dem sogenannten Apostelkonzil versteht sich die Kirche als Kirche aus Juden und Heiden seit Jesus, wie Paulus schreibt, durch sein Kreuz den Zaun zwischen Juden und Heiden niedergerissen hat. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass mit dem Verschwinden des Judenchristentums als eigener Gruppe in der Kirche unter dem Druck von Byzanz und dem Islam die christliche Kirche phänotypisch zur Heidenkirche geworden ist.
Das ist aber für Christen nicht, wie die Broschüre suggeriert, ein Idealzustand. Die israelischen Judenchristen dringen auf eine Wiederherstellung der "ecclesia ex circumcisione". Das Zweite Vatikanische Konzil, so heißt es in der Broschüre, "bekennt . . ., dass die Kirche mit dem Stamm Abrahams geistlich verbunden" ist. Die katholische Liturgie (sowohl in der alten wie in der neuen Form) geht aber weit darüber hinaus. Sie spricht nicht von Verbundenheit, sondern von Identität. In der Osternacht, der Taufnacht, spricht sie davon, dass in dieser Nacht Gott "unsere Väter, die Kinder Israels", trockenen Fußes durch das Rote Meer geführt hat. Sie dankt Gott, dass er durch die Taufe "den Abraham zum Stammvater vieler Völker macht", und wenn sie bittet, dass die Fülle der ganzen Welt Teil gewinne "an der Kindschaft Abrahams und an der Würde Israels", dann wirkt das, was das Konzil hierzu zu sagen hat, eher blass. Jedenfalls ist der Gedanke von zwei Bundesvölkern dem Neuen Testament vollkommen fremd. Es gibt nur das eine Volk Gottes, dessen "geborene Mitglieder" die Juden und dessen adoptierte Mitglieder die Heiden sind.
Dieses Volk Gottes wird von Paulus mit dem Ölbaum verglichen, dem die Heiden als wilde Schösslinge eingepfropft werden, während die Juden die "natürlichen Zweige" sind, über die die Heidenchristen sich nicht erheben dürfen. Die Erklärung zitiert diese Stelle auch, aber ohne den Kontext. Paulus sieht nämlich in dem "Unglauben" der Juden die historische Voraussetzung für die Berufung der Heiden und bezeichnet die nicht an Jesus glaubenden Juden als Zweige, die von dem einen Ölbaum ausgebrochen sind und so Platz für die neuen Zweige gemacht haben, die von derselben Wurzel getragen werden.
Auch die Sünden, die Gott zulässt, haben einen providentiellen Sinn. Nirgends aber ist davon die Rede, dass Gott einen zweiten Baum gepflanzt hat. Und wenn Paulus auch in der Verblendung der Juden ein providentielles Ereignis sieht, das bis ans Ende der Geschichte fortwirkt, so tut er doch alles, was er kann, "um wenigstens einige von ihnen zu retten". Die große Rückkehr Israels erwartet die Kirche, wiederum Paulus folgend, erst für die Zeit der Wiederkunft Christi. Und indem sie für diese Rückkehr betet, betet sie, wie seit jeher, für die baldige Wiederkunft, deren Zeitpunkt wir ja nicht kennen. Unterdessen aber sollten eigentlich in jeder Kirche die vordersten Plätze am Sonntag für die Juden freigehalten werden.
Sie sind, wie Papst Johannes XXIII. sagte, unser "älterer Bruder", der, wie es im Gleichnis Jesu heißt, "immer beim Vater geblieben" ist und nun ein Problem hat, weil der Vater zur Rückkehr des verlorenen Sohnes ein Festmahl veranstaltet. Trotz dringlicher Bitten des Vaters will er nicht daran teilnehmen. Das Festmahl ist aber erst wirklich gelungen, wenn er daran teilnimmt. Wenn der wiedergekehrte verlorene Sohn ihm sagen würde: "Du kannst ruhig bleiben, wo du bist, das Fest ist auch ohne dich ganz schön", dann hätte ihn der Vater wohl nicht wieder aufgenommen. Der Gedanke, das Problem durch die Gründung einer zweiten Familie zu lösen, hat mit dem Neuen Testament nichts zu tun. Das Bundesvolk wird im Alten Testament auch als Braut dargestellt und Gott als eifersüchtiger Bräutigam. Die Braut soll nicht fremdgehen. Aber auch Gott ist kein Bigamist, dem es genügt, wenn die beiden Familien "im Gespräch sind".
Die Broschüre will "Dialog ohne Mission". Jeder soll seinen Glauben vor dem anderen bezeugen, ohne den anderen überzeugen zu wollen. Petrus dagegen fordert die Christen auf, nicht einen blinden Glauben zu bezeugen, sondern "jedermann Rechenschaft zu geben über den Grund unserer Hoffnung". Ein Grund (eine "raison") ist etwas nur, wenn es wirklich begründet. Und wenn jemand den Grund einsieht, dann heißt das, er hat ihn überzeugt. Der christliche Glaube hat seit jeher etwas mit Erkenntnis und mit Wahrheit zu tun. In dem letzten großen Gebet Jesu heißt es: "Das ist das ewige Leben, dass sie dich erkennen, den allein wahren Gott, und den du gesandt hast, Christus."
Zum allein wahren Gott müssen Juden nicht "bekehrt" werden. Juden und Christen beten denselben Gott an, wenngleich Christus im Johannesevangelium sagt: "Ihr kennt ihn nicht, ich aber kenne ihn." Aber Christen glauben auch, dass Jesus der ist, "den du gesandt hast", und dass, wenn Paulus schreibt, vor dem Namen Jesu müsse sich "jedes Knie beugen, im Himmel, auf Erden und unter der Erde", er damit nicht jedes Knie, ausgenommen das der Juden, meinte. Universalistische Religionen sind in ihrem Wesen "missionarisch". Sie würden sich aufgeben, wenn sie ihre Botschaft partikularisieren und damit relativieren würden. Auch das frühe Judentum war missionarisch und machte "Proselyten", bis seine Mission zum Erliegen kam, in erster Linie aufgrund der christlichen "Schleuderkonkurrenz" – durch die Aussicht, in den Gottesbund ohne Beschneidung und ohne das Gesetz (mit Ausnahme der Zehn Gebote) eintreten zu können.
Zum Kern des Christentums gehört der Glaube an die Auferstehung Jesu. Wenn Jesus nur "für uns" auferstanden ist, dann heißt das: Er ist in Wirklichkeit eben nicht auferstanden. Es heißt, der Glaube glaubt nicht deshalb, weil es wahr ist; es ist nur wahr "für den Glauben". Das ist gleichbedeutend mit der Meinung, es sei tatsächlich eben nicht wahr, sondern nur eine gläubige Fiktion.
Der Austausch zwischen Christen und Juden hat immer schon zu vertieften Einsichten beider Partner und zu gegenseitigem Lernen geführt (zu Zeiten Rosenzweigs und Bubers mehr übrigens als heute, weil der Relativismus noch nicht alles durchdrang). "Nicht glauben, was man glaubt", so definierte Charles Péguy den "Modernismus". Aber das ist ein Thema für sich, ebenso wie die Begriffe "Bund", "Bundesvolk", "Heil" und "Heilsweg", die in der Broschüre ständig vorausgesetzt werden, ohne dass der Versuch gemacht wird, über ihre Bedeutung näher Auskunft zu geben. Vielleicht ist es überhaupt nur das, woran die Broschüre krankt.
Der Philosoph Robert Spaemann veröffentlichte zuletzt das Buch "Rousseau – Mensch oder Bürger: Das Dilemma der Moderne".
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.04.2009 Seite 29
Der Streit um die Judenmission
Die Botschaft Jesu Christi richtet sich an alle Menschen. Was das für das Verhältnis der Christen zu den Juden bedeutet, ist in der katholischen wie in der evangelischen Kirche immer wieder Gegenstand von Auseinandersetzungen. Auf protestantischer Seite steht Synodenbeschlüssen zur Abkehr von der organisierten Judenmission das Engagement evangelikaler Gruppen gegenüber. Auf katholischer Seite sorgte die Neuformulierung der Karfreitagsfürbitte des tridentinischen Ritus durch Papst Benedikt XVI. für Streit. Jetzt hat das Zentralkomitee der deutschen Katholiken eine "Erklärung" unter dem Titel "Nein zur Judenmission – Ja zum Dialog zwischen Juden und Christen" publiziert. Dort wird dargelegt, es gebe zwei Völker Gottes, das jüdische Volk und ein Weltvolk aus Nichtjuden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.04.2009 Seite 29