Von Edo Reents
Mit wenig Klirrfaktor: Der HD 800
07. Juni 2009
Schon bei der ersten Berührung wusste ich, dass es meine alte Liebe nun schwer haben würde: breite, verführerisch gepolsterte Hüften, ein strapazierfähiges Gestell, in edlem Schwarz natürlich, dazu eine hohe Anschmiegsamkeit und die Gabe, selbst dann, wenn es laut wird, nicht die Fassung zu verlieren - das sind Eigenschaften, die man nicht auf der Straße findet. Aber was würde meine alte Liebe dazu sagen? Ich werde sie nicht fragen.
Meine Liebe ist wirklich schon sehr alt. Im Spätsommer 1980 drückte mir meine Mutter einhundert Mark in die Hand, hier, mein Junge, hast du hundert Mark, geh sofort ins Elektrogeschäft und kauf dir einen Kopfhörer, ich halt' das nicht mehr aus. Dies war das erste und einzige Mal, dass ich für Fehlverhalten, als das meine Mutter das dauernde Musikhören offenbar ansah, auch noch belohnt wurde. Seither begleitet mich der Sennheiser HD 420 durch alle Krisen, die mit lauter Rockmusik am besten zu überstehen sind, durch alle einsamen Abende, einfach alles. Er kostete damals neunzig Mark und war noch nie kaputt. Mit Beschämung aber muss ich feststellen, dass mir die Tatsache, dass es sich um einen HD 420 handelt, erst bewusst wurde, als der HD 800, wie das neue Gerät heißt, zum Testhören schon geordert war - natürlich nur leihweise, denn auch eine Firma wie Sennheiser hat keine Geschenke zu machen, umso weniger, als das Ding tausend Euro kostet, also mehr als zwanzig Mal so viel wie damals der Sennheiser 420.
Der Klirrfaktor
Das Gute an diesem Preis ist, dass man ihn sich gut merken kann. Die Frage ist nur, ob das Ding ihn auch wert ist. Ausweichend könnte man antworten, dass unlängst auf der Münchner Fachmesse High End ein neuer Plattenspieler von Transrotor vorgestellt wurde, der 139.000 Euro kostet. „Mit Verlaub“, merkte der Technikexperte dieser Zeitung fassungslos an, der in seinem Leben sicherlich schon viel Luxus gesehen hat, dafür könne man sich auch den neuen Porsche Panamera „mit fast sämtlichen Ausstattungsschikanen“ kaufen. Ferner wurde von Anlagen berichtet, bei denen allein die Kabel mit 3700 Euro zu Buche schlagen. Es ist also alles relativ.
Trotzdem scheint es mir, um den Lesern eine Vorstellung von der Verführungskraft des HD 800 zu geben, nicht übertrieben, bei seiner Beschreibung auf Schlüpfrigkeiten zu verfallen, wie oben geschehen. Andererseits wäre die Feststellung, der Kopfhörer sei libidinös besetzt, wohl etwas banal. Es geht schon um Technik und damit um Präzision, die kaum diskutabel ist.
In der Gebrauchsanweisung ist von einem „Klirrfaktor“ die Rede, unter dem man sich, obwohl man das Wort schon oft gehört hat, nichts Genaues vorstellen kann und den man eher mit Glas und Porzellan in Verbindung bringen würde. Dass er beim HD 800 unter 0,02 Prozent liegt, wird schon ganz gut sein, denn bei den Vorgängermodellen betrug er das Zehnfache. Aber man muss wahrscheinlich Fledermausohren haben, um den Unterschied zu hören. Ein Klirrfaktor von einhundert Prozent klänge dann vielleicht wie ganz viel auf einmal zerschmissenes Glas und Porzellan.
Ein ungekanntes Gefühl von Freiheit
Dann ist in der Gebrauchsanweisung ein Diagramm aufgeführt, dem man das Lautheitsdiffusfeldübertragungsmaß ablesen kann, und wenn man auch wenig Lust verspürt herauszufinden, was das ist, so hat man damit doch ein prima Beispiel, mit dem sich die Leistungsfähigkeit unserer Wortbildung, Unterabteilung Komposition, belegen lässt: Lautheitsdiffusfeldübertragungsmaß. Ferner steht da, dass die „Betriebstemperatur“ zwischen minus 10 und plus 55 Grad Celsius liegt. Aber darauf muss man es nicht ankommen lassen; für Klimakatastrophen, ob nun für eine Eiszeit oder eine kräftige Erderwärmung, wäre man jedenfalls gerüstet.
Man könnte ewig so weitermachen und die beeindruckendsten technischen Einzelheiten aufzählen und beispielsweise erwähnen, dass sämtliche Kunststoffteile aus Materialien sind, die auch in der Raumfahrt verwendet werden, und dass das Gerät mit seinen Ohrpolstern aus hautfreundlichem Alcantara perfekt am Kopf sitzt, ja, dort quasi festklebt und sich nicht abschütteln lässt; hervorheben den abnehm- und abwaschbaren Staubprotektor, der das Innere der Hörer nicht nur vor Ohrenschmalz schützt und an den man 1980 bei Sennheiser offenbar noch nicht dachte; schließlich und schon vor dem ersten Soundcheck das dynamisch-offene Wandlerprinzip und die Tatsache rühmen, dass dieser Kopfhörer ohrumschließend (circumaural) verfährt und so, mit dem extrem großzügig bemessenen Freiraum zwischen Ohr und Polstern, ein ungekanntes Gefühl von Freiheit, wenn auch nur des Ohrs oder, sagen wir, des Kopfes und damit die Hoffnung vermittelt, davon weniger schnell schwerhörig zu werden.
Dies alles könnte man erwähnen. Doch die Wahrheit liegt auf dem Plattenteller, wo sich Popmusik ja recht eigentlich abspielt. Nur eine Frage ist noch zu klären: Wird der HD 800, vorausgesetzt, ich werde mir ihn eines Tages kaufen, überhaupt zu meiner Anlage passen? Oder verhält er sich wie ein Porsche-Motor im Käfer-Chassis? Dazu ist in aller Bescheidenheit zu sagen: Ich habe einen mehr als soliden, aber eben keineswegs überkandidelten Plattenspieler, der preislich und leider wohl auch qualitativ Lichtjahre vom Transrotor (wie gesagt: 139.000 Euro) entfernt ist; dazu einen guten Verstärker und gute Boxen. Deshalb: Der HD 800 würde, als sogenanntes High-End-Produkt, den Rahmen zweifellos dehnen, aber nicht sprengen und stünde in einem Verhältnis zum Restniveau der Anlage, das mir gerade noch passend erschiene, wenn man bedenkt, wie günstig der alte Sennheiser damals war.
Der erste Eindruck ist nicht sensationell
Da liegt er nun, mein alter Sennheiser 420, noch absolut funktionstüchtig, wenn auch schon recht speckig an den stoffbezogenen Hörmuscheln, und scheint sich zu fragen: Was hat der Neue, was ich nicht habe?
Nun denn. Natürlich empfiehlt es sich, für den Neuen nur Lieblingslieder aufzulegen oder zumindest solche, die man sehr gut kennt. Um den Klang des alten Sennheiser HD 420 noch möglichst gut im Ohr zu haben, stöpsele ich den zuerst ein - sagt nicht Goethe irgendwo, dass, wenn man eine neue Liebschaft eingehe, es ein köstliches Gefühl sei, sich der alten noch einmal hinzugeben oder wenigstens zu erinnern? -; ich stöpsele den alten also ein, lege „Exile on Main St.“ auf, setze die Nadel über die Rille zum fünften Lied und lasse sie herunter. „Da-dam, da-dam, da-dam-damm“ - es ist wie immer, die ersten Takte von „Tumbling Dice“.
Jetzt der HD 800. Dass das eigentlich nur ganz leichte, unvermeidliche Knistern in der Leerrille nun deutlicher zu hören ist, registriert man mit einem lachenden und einem weinenden Ohr - dem HD 800 entgeht nichts, das spricht schon mal für ihn. Gleiches gilt für das Vorspiel: Die Rhythmusgitarre ist lauter, mit dann doch unerwarteter Wucht kommt das Schlagzeug, der Bass klingt weniger erdrückend, irgendwie leichter, aber das Heulen dieser räudigen Hunde, die damals unter dem Namen Rolling Stones herumstreunten, ist noch räudiger. Das alles wird sich damals in Keith Richards' feuchtem Keller in Südfrankreich wohl auch schon so angehört haben und klingt hier jetzt hörbar besser als mit dem HD 420, wobei die druckvolle, sehr basslastige Produktion dieser Platte, die sonst fast unangenehm direkt aufs Ohr drückt und zuweilen Beklemmungen verursacht, nun etwas Transparentes, Angenehmes bekommt.
Aber der erste Eindruck ist nicht sensationell; es ist kein Quantensprung, den Sennheiser aber angekündigt hatte. Das mag damit zusammenhängen, dass „Tumbling Dice“ von überschaubarer Komplexität ist, während der HD 800 wohl eher für die Wiedergabe von Subtilitäten gebaut wurde. Aber dem Gerät zuliebe kann ich nicht auf Klassik umsteigen. Deswegen mache ich die Probe mit noch simplerer Musik, um mir einzureden, dass der HD 800 für meine Plattensammlung einfach zu fein ist und sich die Anschaffung nicht lohnt. Mit „Up around the Bend“ und „Down on the Corner“ gelingt das problemlos, und mir fällt ein, was einmal über Creedence Clearwater Revival gesagt wurde: dass nämlich deren „Musik selbst im billigsten Transistorradio noch akzeptabel klang“.
Bewegende Anklage
Andererseits besitze ich ja nicht nur CCR und die Stones. „Stuck in the Middle with You“ von Stealers Wheel knistert am Anfang auch ganz schön, aber Gerry Raffertys Stimme klingt in dieser präziseren Akustik trockener, mehr nach Rock 'n' Roll, ganz wie sich Jerry Leiber und Mike Stoller, die die Platte damals produzierten, das wahrscheinlich auch vorgestellt haben. Und jetzt erst kann man nachvollziehen, wie kunstvoll die Steel-Gitarre hier eingesetzt ist, wie verschlungen sie mäandriert, während die Kuhglocke erheblich direkter daherkommt.
Um den Kopfhörer herauszufordern, lege ich „The Faith Healer“ von Alex Harvey auf. Und jetzt ist doch ein ganz erheblicher Unterschied zu spüren: Das ohnehin sehr effektvolle Keyboard-Wummern wächst sich dank der Wiedergabegenauigkeit aus ins Bedrohliche, die Rassel zischt im Ohr, das Schlagzeug scheint zusätzlich noch leise „tschikk-tschikk“ zu machen, was früher nie zu hören war, und wenn dann die Rhythmusgitarre einsetzt, ist es, als bekäme man einen Stromschlag, in den Alex Harveys nun mit spürbar mehr Hall versehene Geisterstimme hineinruft - „sensational indeed“, wie es einst über seine Band selbst hieß. Wer weiß, vielleicht ist einem der HD 800 ja auch dabei behilflich, den Rillen verborgene, nur für die empfindlichsten Ohren bestimmte Botschaften abzulauschen, wie man seinerzeit meinte, man müsse nur bestimmte Beatles-Platten rückwärts abspielen, dann bekomme man Hinweise auf Paul McCartneys Tod?
Nur eines noch: Wie übermittelt mir der HD 800 das Lied, das mir von allen das allerliebste ist? Es ist ein ganz schlichtes, anrührendes Countrylied, ich traue mich kaum, es zu sagen: „Under One Roof“ von den ansonsten ja komplett indiskutablen Rubettes. Wie viele Finessen stecken doch in dieser von einer würdig-sonoren Stimme vorgetragenen, tragischen und damals, 1976, durchaus schon mutigen Schwulengeschichte, die sich sachte, aber dann sehr nachdrücklich ins, so würde Joachim Kaiser jetzt vielleicht sagen: bewegend Anklagende steigert!
Die Probleme des Lautheitsdiffusfeldübertragungsmaßes
Das reicht. Der HD 800 hat mich überzeugt. Er ist ein fabelhafter Kopfhörer, der selbst die simple Musik, die ich bevorzuge, mehr als getreulich übermittelt, irgendwie mehr aus ihr macht und, das ist fast das Entscheidende, dank seiner offenen Bauweise einem das Gefühl vermittelt, man höre die Musik über Lautsprecher. Ein Kopfhörer, der gar nicht wie ein Kopfhörer klingt - könnte man sich dann nicht gleich zwei Boxen am Kopf befestigen? Das wäre nicht das Gleiche. Mir kommt es so vor, als könnte mir der HD all meine Platten noch einmal neu erschließen, mir meine Sammlung noch einmal schenken; und dafür sind tausend Euro nicht zu viel.
Ob ich mir das Ding auch wirklich zulege, hängt aber wesentlich davon ab, ob meine Frau, die spätabends gelegentlich auf dem Sofa einschläft, während ich noch Discjockey spiele, sich mit dem einen großen Nachteil des HD 800 anfreunden kann: Die Schalldämpfung ist gering; man hört, auch wenn man das Ding gar nicht selber auf dem Kopf hat, ziemlich laut mit, lauter als beim HD 420, der deswegen auch schon manchen nächtlichen Kleinzwist verursacht hat.
Eines aber kann ich jetzt schon versprechen: Angeblich ist man für eine neue Liebe ja bereit, eine neue Sprache zu lernen. So weit würde ich nicht gehen. Aber ich würde mich, um den HD 800 ganz zu verstehen, in die Probleme des Lautheitsdiffusfeldübertragungsmaßes einarbeiten. Es würde dann auch sicherlich meine letzte Liebe sein, denn wenn er so lange hält wie der HD 420, dann bin ich älter als siebzig.
Text: F.A.S.Bildmaterial: Kat Menschik