Von Professor Dr. Dr. h. c. Otfried Höffe Einst exportierten die Briten ihr "common law", heute versucht die amerikanische Regierung im Verein mit den landestypischen Großkanzleien ihrem Recht weltweit die Vormacht zu sichern. Doch die Kontinentaleuropäer haben Gründe, ihrem Recht die Treue zu halten.
In Zeiten der Globalisierung konkurrieren nicht nur Wirtschafts- und Finanzordnungen miteinander, sondern auch Rechtsordnungen, auf Seite des Westens vor allem das kontinentaleuropäische und das angloamerikanische Recht. Daher drängt sich die rechtspolitische Frage auf, wie sich das eigene, also kontinentale Recht gegen das Vordringen des angloamerikanischen Konkurrenten wehren kann. Der strategische Grundsatz liegt auf der Hand: Da es im Wettstreit auf Kompetenz und Macht ankommt, besteht derjenige den weltweiten Wettbewerb am besten, der sich seiner Stärken besinnt und diese offensiv verteidigt.
Einen bloßen Gegensatz bilden die beiden Rechtsfamilien des Westens nicht. Denn im Hintergrund beider steht das römische Recht. Nach gängiger Meinung bindet sich England aber auch an eine ältere Quelle, die gemeinsamen Rechtsüberzeugungen der Bevölkerung, das "Gemeinsame Recht". In Wahrheit ist es ein Common Law, weil es nach der normannischen Invasion von den im Lande umherreisenden Richtern der königlichen Gerichte gegen die Besonderheiten der einzelnen Landesteile durchgesetzt worden ist.
Freilich gab es schon vor der Rezeption des römischen Rechts in England einen innungsmäßig organisierten Juristenstand, der sich die Ausbildung des juristischen Nachwuchses auf dem Boden des einheimischen Rechts vorbehielt. Wie in der Frühzeit die Medizin, so war das englische Rechtswesen lange Zeit ein zunftartig organisiertes Unternehmen, das sich gegen äußere Einflüsse abschottete. Infolgedessen wurde das Recht nicht als Wissenschaft gelehrt, man lernte es vielmehr als Handwerk. Wie es Aristoteles von den Tugenden sagt, so lernt man das englische Anwalt- und Richtersein durch Einübung, an Vorbildern und durch Nachahmung. Noch heute genießen die Richter, die in die oberste Klasse der etwa 200 auf Lebenszeit berufenen Richter aufgestiegen sind, höchstes Ansehen in der Gesellschaft.
Das Rechtsverständnis im anglo-amerikaníschen Raum hat der längjährige amerikanische Bundesrichter und Rechtstheoretiker Oliver Wendell Holmes auf den Punkt gebracht: Das Recht sei nichts anderes als der Inbegriff der Voraussagen, wie die Gerichte entscheiden werden. In der Tat besteht das englische, von den Vereinigten Staaten weithin aufgenommene Common Law vornehmlich in einer Methode der richterlichen Urteilsfindung, der Anwendung früherer Entscheidungen auf neue Fälle. Es ist ein Präzedenzien- und Fallrecht.
Im Gegensatz dazu herrschen in Kontinentaleuropa systematisch aufgebaute Rechtsbücher vor, unter deren Bestimmungen jeder Einzelfall zu subsumieren ist. Dort dominiert das Richterrecht, hier das Gesetzesrecht. Wegen dieser Andersartigkeit im Gegenstand kann die angloamerikanische Rechtsanbindung ihren Charakter als Rechtshandwerk beibehalten. Das dürfte auch der tiefere Grund dafür sein, dass sich eine deutsche Juristenfakultät von einer amerikanischen Law School unterscheidet. Selbstverständlich werden auch hierzulande Fälle erörtert. Weil das Recht aber in Kodifikationen vorliegt, muss man auch, sachlich gesehen sogar zuvor, deren Systematik und Grundbegriffe kennenlernen. Eine erfreuliche Folge ist bekannt: Dank ihrer guten Ausbildung gehören deutsche Rechtsstudenten an den amerikanischen Law Schools zu den besten.
Der holzschnittartige Gegensatz von Fallrecht und Kodifikationsrecht schwächt sich freilich bei näherer Betrachtung ab: Einerseits gibt es auch innerhalb des angloamerikanischen Rechtskreises zahlreiche Gesetze, sogar Kodifikationen, die dem Präzedenzrecht vorgeordnet sind. Dieser Grund und zusätzlich der Umstand, dass das Common Law im Wesentlichen aus einer Methode der richterlichen Rechtsfindung besteht, erleichtern die Zusammenarbeit: Sowohl in internationalen Gerichten als auch in Schiedsgerichten können kontinentaleuropäische und angloamerikanische Juristen in der Regel gut zusammenarbeiten.
Auf der anderen Seite braucht der europäische Richter mehr Kompetenz, als sie im berühmten Montesquieu-Wort anklingt, der Richter sei der Mund des Gesetzes. Lange Zeit herrschte zwar das "positivistische Subsumtionsdogma" vor, wonach die richterliche Entscheidung in nichts anderem bestehe als der Ein- und Unterordnung des Einzelfalles in und unter eine vorgegebene Norm. In Wahrheit braucht es in vielen Fällen zusätzlich einen kreativen, methodisch komplexen Zwischenschritt: Der Richter muss sich als Erstes überlegen, welche Norm überhaupt anzuwenden ist. Da es nicht selten mehrere Normen sind, muss er sie sodann gegeneinander abwägen. Schließlich fällt der Einzelfall nicht so schlicht unter die allgemeine Regel wie eine geometrische Figur unter ihre Konstruktionsvorschrift. Infolgedessen hat der Richter eine auf den Einzelfall hin speziellere Norm zu erarbeiten. Erst unter sie kann er den Einzelfall subsumieren.
In noch höherem Maß wird der Richter rechtsschöpferisch, wenn er Gesetzeslücken zu schließen oder Generalklauseln wie "Treu und Glauben" oder "gute Sitten" auszufüllen hat. Dass er sich bei diesen Aufgaben an früheren Entscheidungen vor allem der höheren Gerichte zu orientieren hat, versteht sich. Zusätzlich zur Gesetzeskenntnis braucht er jedenfalls eine Kenntnis dieser Entscheidungen und vor allem eine Urteilskraft, die sich ihrem Wesen nach auf dieselbe Rechtsklugheit beläuft, die einen guten Common-Law-Richter auszeichnet.
Der Gegensatz zwischen kontinentalem und angloamerikanischem Recht schwächt sich überdies wegen der Praxis des Europäischen Gerichtshofes ab: Weil die Vorschriften des Handelsrechts oft allgemein formuliert sind und zahlreiche Generalklauseln enthalten, hat der Richter eigenständig eine Rechtsfortbildung vorzunehmen. Hinzu kommt jene methodische Ähnlichkeit mit dem Präzedenzrecht, die man von den höchsten Gerichten der einzelnen Länder kennt: Der Europäische Gerichtshof verweist in seinen Entscheidungen auffallend häufig auf die eigene frühere Rechtsprechung.
Gegen die Annahme eines methodisch unüberbrückbaren Gegensatzes spricht auch, dass trotz der unterschiedlichen Regeln juristischer Argumentation die entscheidungstragenden Gründe sich oft sehr ähneln. So hat sich das englische Recht der unerlaubten Handlung (tort of negligence) und der ungerechtfertigten Bereicherung (unjust enrichment) nach kontinentalen Vorbildern weiterentwickelt.
Das angloamerikanische Recht sucht sich nicht erst heute über die Welt auszubreiten. In der ersten neuzeitlichen Globalisierungsquelle, im Zeitalter des Kolonialismus, hatte sich Großbritannien gegen die europäischen Konkurrenten als überlegene See-, Kolonial- und Handelsmacht durchgesetzt. London wurde zum Zentrum eines veritablen Weltreiches, das man unbescheiden schlicht "Commonwealth of Nations", also (globales) "Gemeinwesen", zu nennen pflegt. Natürlich nahmen die englischen Seeleute, Kolonialbeamten und Händler ihre heimatlichen Gewohnheiten mit, also ihre vordezimalen Gewichts- und Maßeinheiten, die Zeit der Londoner Sternwarte in Greenwich als "Normalzeit", ihre Sprache und vor allem das Recht. Denn diese und weitere Faktoren halfen, die Pax Britannica, die an britischen Interessen orientierte Friedensordnung, weltweit aufzubauen und zu sichern. Vor allem die Rechtsbestimmungen bleiben nach den Unabhängigkeitserklärungen wirksam. Von Anglo-Kanada über die Vereinigten Staaten und die Karibik, über kleinere Gebiete wie die Falkland-Inseln und Gibraltar, über ostafrikanische Staaten bis nach Südasien und Ozeanien ist das englische Recht bis heute prägend, wenn nicht dominant.
Im englischsprachigen Kanada herrscht zivilrechtlich das Common Law. In den Vereinigten Staaten gehören mit Ausnahme Louisianas alle Gliedstaaten zu dieser Rechtsfamilie. In Äthiopien ist das Zivilprozessrecht englisch bestimmt. In Indien wirkt trotz zahlreicher Reformen das britische Recht fort. In Sri Lanka beruhen das Vertrags- und das Handelsrecht sowie das Strafrecht im Wesentlichen auf englischem Recht. Auf dasselbe Recht gehen die Grundlagen des malaysischen Rechtssystems zurück. Und in Australien beruht das Privatrecht auf den Grundsätzen des Common Law, das Gerichtswesen ist nach englischem Vorbild ausgestaltet.
Innerhalb der Common-Law-Familie haben die Amerikaner erheblichen Einfluss gewonnen. Selbst auf dem europäischen Kontinent, sowohl in Osteuropa wie, hier notgedrungen subtiler, in Westeuropa, versuchen sie wie einst die Briten mit dem Export ihres Rechts ihre politische und wirtschaftliche Macht auszuweiten und zu sichern, nicht zuletzt die der großen Anwaltskanzleien.
Tauchen im westlichen Denken Gegensätze auf, werden sie rasch zum Gegenstand intensiver Debatten. Auf die Konkurrenz der beiden Großfamilien des Rechts trifft diese Regel nicht zu: Das Verhältnis von Common-Law-Recht und Kodifikationsrecht ist bislang kein großes Thema der Rechtsphilosophie. Zwar haben sich einige der großen deutschsprachigen Juristen, wie Gustav Radbruch und Hans Kelsen, mit der nichtkontinentalen Rechtsfamilie des Westens befasst. Unter den anglophonen Theoretikern wie Herbert L. A. Hart oder Ronald Dworkin herrscht dagegen Desinteresse vor. In der Sache ist das vor allem bei dem Rechtstheoretiker Dworkin erstaunlich, da er sein Plädoyer für Bürgerrechte auf Prinzipien stützt, etwa den Grundsatz, dass niemand aus seinem Verbrechen einen Vorteil ziehen darf. Für derartige Prinzipien, aber noch mehr für Grundrechte, sofern sie in den Zusatzartikeln der amerikanischen Verfassung erscheinen, wäre das deduktive, europäische Rechtsdenken zumindest eine Option. Statt diese auch nur zu nennen, geschweige denn zu erörtern, praktiziert Dworkin ausgiebig die Methode des amerikanischen Common Law: Er untersucht Einzelfälle.
Der Gerechtigkeitstheoretiker John Rawls nimmt zwar ebenfalls den Gegensatz von kontinentalem und angloamerikanischem Recht nicht in den Blick, aber nicht aus großprovinziellem Habitus, sondern aus zwei guten Gründen. In ideengeschichtlicher Hinsicht kennt die von Rawls neuformulierte Vertragstheorie zwei englische Vorläufer, Thomas Hobbes und John Locke, und zwei kontinentaleuropäische, Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant. Dabei schlägt sich Rawls nicht etwa auf die englische, sondern auf die europäische Seite. Wichtiger als der geistesgeschichtliche Hinweis ist aber das systematische Argument: Auf der Ebene der Prinzipien, bei der Begründung von Gerechtigkeitsprinzipien, spielt der Unterschied zwischen Common Law und Kodifikation keine wesentliche Rolle. Allenfalls kann man in der Suche nach Prinzipien ein stillschweigendes Votum für das deduktive, also europäische Rechtsdenken sehen.
Die Europäische Union hat es mit sich gebracht, dass die Einzelstaaten nach und nach entmachtet werden. Dieser Vorgang geht mit der Angleichung des Rechts einher. Der EG-Vertrag spricht von "Harmonisierung", "Koordinierung" oder "Vereinheitlichung" nationaler Rechtsvorschriften. Zunächst ging es dabei um das ordnungsgemäße Funktionieren des Binnenmarktes. Mittlerweile, nach der Entwicklung der Wirtschaftsgemeinschaft zur Politischen Union, verfolgt man das anspruchsvollere Ziel eines gemeinsamen "Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts". In Gestalt eines das Jus Communitatis (Gemeinschaftsrecht) ergänzenden Jus Commune (Gemeinwesenrecht) strebt die Union eine Europäisierung der Rechtsordnung an. Zu diesem Zweck beansprucht sie das Recht auf eine eigenständig gestaltende Rechtspolitik.
Die genannte Entmachtung der Einzelstaaten vollzieht sich in Form einer Selbstentmachtung. Nicht eine europäische Hegemonialmacht hat die Union in die Welt gesetzt und fortentwickelt. Von unten, den europäischen Demokratien und ihren Bürgerschaften aufgebaut, bleiben die Bürgerschaften der eigentliche Souverän und ihre Einzelstaaten die Primärstaaten. Für die allfällige Rechtsangleichung legt sich daher das Prinzip der Subsidiarität nahe.
Das zugrundeliegende lateinische Wort "subsidium" bedeutet in diesem Zusammenhang nicht Hilfe, sondern Beistand. Es gebietet Zurückhaltung und erlaubt erst dann ein Eingreifen, wenn die Fähigkeiten des Hilfsbedürftigen erschöpft oder primäre Hilfsinstanzen überfordert sind. Auf die Aufgabe der Rechtsangleichung angewandt, verlangt das Subsidiaritätsprinzip, dass sie nicht Selbstzweck wird, sondern dienende Funktion hat. So lassen sich auf der einen Seite gemeinsame rechtsphilosophische Prinzipien verteidigen, etwa die Privatautonomie der Wirtschaftssubjekte und der Gedanke des Schuldstrafrechts. Andererseits kann man im Zivilrecht, im Strafrecht und im Prozessrecht nationale Besonderheiten beibehalten. Im Wirtschaftsrecht beispielsweise ist es nicht nötig, die Produktstandards zu harmonisieren. Die subsidiäre Alternative besteht in zueinander geöffneten, aber weiterhin national regulierten Märkten: Während sich die Harmonisierung auf allgemeine Fragen beschränkt, folgen der freie Verkehr von Produkten und die Freizügigkeit von Personen dem "Vertrauensprinzip" genannten Prinzip gegenseitiger Anerkennung.
Wie stark der nationale Anteil vernünftigerweise bleiben soll, ist eine Frage der Zweckmäßigkeit. Intern ist zu fragen, ob die Interessen der Bürger und die der Wirtschaft, auch die der Wissenschaft und der Kultur eine Rechtsangleichung erfordern. Ein Beispiel für das nicht subsidiäre, vielmehr harmonisierende Vorgehen bietet das Patent- und Markenrecht, ein anderes Beispiel, durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes befördert, das sich allmählich herausbildende europäische Verwaltungsrecht. Auf dem Feld des Rechts der Religionen und der Religionsgemeinschaften hält man sich dagegen klugerweise zurück.
Extern ist dagegen zu überlegen, ob sich aus dem europäischen Interesse, im Kampf der Rechtsordnungen nicht überrollt zu werden, eine innereuropäische Rechtsangleichung aufdrängt, die über die interne Zweckmäßigkeit hinausreicht. Zwei Gründe sprechen für diesen Weg: Die Europäer müssen verhindern, dass sie auf der globalen Ebene gegeneinander statt miteinander auftreten. Zusätzlich müssen sie jenem Expansionsdruck seitens des amerikanischen Rechts entgegenwirken, bei dem sich die amerikanische Regierung und die Großkanzleien ("law firms") gegenseitig stärken.
Bevor der Wettstreit zwischen kontinentalem Recht und Common Law nochmals aufgegriffen wird, ist es an der Zeit, an weitere Gemeinsamkeiten zu erinnern. Vergleicht man die beiden Rechtsfamilien mit anderen Rechtsordnungen in der Welt, so zeichnen sie sich durch einen gemeinsamen rechtsethischen Hintergrund aus. Er besteht vor allem aus der Hochschätzung der individuellen Rechtsperson, einem gemeinsamen Verständnis der Menschen- und Grundrechte, der Überzeugung von dem Vorrang der parlamentarischen Demokratie sowie dem Gedanken einer Vertragsfreiheit. Beiden Rechtskreisen gemeinsam ist auch die Vorstellung der Gewaltenteilung und damit einer unabhängigen Justiz.
Betrachtet man die Unterschiede, so muss man realistischerweise mit einem erheblichen Nachteil für das kontinentale Recht beginnen: Dank der für Europa typischen Neugier studieren viele europäische Juristen in den Vereinigten Staaten. Europäische Rechtswissenschaftler und Rechtsphilosophen nehmen die amerikanischen Debatten selbstverständlich wahr. Dieser Offenheit Europas steht in der "neuen Welt" – von Ausnahmen wie John Rawls abgesehen – ein sehr geringes Interesse an der "alten Welt" gegenüber: Anglophone Juristen schätzen intensive Debatten, aber nur mit anglophonen Kollegen. Die Bereitschaft, die Grenzen ihres (zweifellos facettenreichen) Kirchspiels der Anglophonie zu überschreiten, ist längst nicht gegeben. Und erlaubt sich ein amerikanischer Bundesrichter ausnahmsweise, europäische Gesetze oder Argumente zu berücksichtigen, so wird er von patriotischen Parlamentariern heftig kritisiert. Angesichts der weltweiten Dominanz der englischen Sprache hat Kontinentaleuropa einen weiteren Nachteil: Sein kultureller Vorteil, die Vielfalt seiner Sprachen, verkehrt sich in einen rechtspolitischen Nachteil.
Im Recht selbst verfügt Kontinentaleuropa über bemerkenswerte Vorzüge, denen sich weltoffene englische Rechtsphilosophen schon vor Jahrhunderten nicht verschlossen. Unter den scharfen Kritikern des Common Law finden wir so überragende Denker wie Thomas Hobbes, der sich gegen den damals führenden Edward Coke wandte, und Jeremy Bentham, den Begründer des Utilitarismus, der sich von dem bis heute als Autorität anerkannten William Blackstone absetzte.
Das angloamerikanische Fallrecht ist weitaus unübersichtlicher als das kontinentale, nach systematischen Gesichtspunkten kodifizierte Gesetzesrecht. Weiterhin sind Gerichtsverfahren, wenigstens in Deutschland, in der Regel erstaunlich kurz. Drittens braucht, wer zu Schadenersatz verurteilt wird, nicht die aus den Vereinigten Staaten bekannten astronomisch hohen Summen zu befürchten. Wer zu Unrecht verklagt wird, muss sich, viertens, nicht unter dem Druck von Sammelklagen, Prozesskosten und Ausforschungsbeweisen zu etwas zwingen lassen, was allem Rechts- und Gerechtigkeitsbewusstsein widerspricht: zu einem ungerechtfertigten Vergleich. Fünftens sorgt beispielsweise das in Deutschland bestehende System der Handelsregister, das in Zusammenarbeit von Amtsgerichten, Rechtspflegern und Notaren betrieben wird, für Rechtssicherheit. Um diese zu erreichen, müssen andere Länder bemerkenswerte Anstrengungen unternehmen und haben trotzdem mit dem sogenannten Identitätsdiebstahl Probleme.
In rechtstheoretischer Sicht ist ein anderer Aspekt noch wichtiger. Wo individualisierte Rechtskonflikte vorliegen, wie im Strafrecht, bei Eigentumsfragen und bei der Haftung, ist auch ein Präzedenzrecht gut vertretbar. Es versagt dagegen auf Rechtsgebieten, die einen generalistischen Zugriff verlangen. Für traditionelle Rechtsgebiete taugt auch das Common Law, vor neuen Rechtsaufgaben kapituliert es. Für ein Sozialversicherungsrecht, ein Verwaltungsrecht oder ein Staatsorganisationsrecht hat es so gut wie nichts zu bieten. Daher ist es kein Zufall, dass im Einflussbereich des Common Law, trotz zahlreicher Bemühungen, der Weg zu einem eigenständigen Verwaltungsrecht weit und der zu einer eigenständigen Verwaltungsgerichtsbarkeit noch weiter ist.
Auch auf anderen Gebieten hat das europäische Kodifikationsdenken für (legislatorische) Kreativität das größere Potential. Deshalb darf man mit dem einleitend erwähnten strategischen Grundsatz schließen – jetzt als Empfehlung formuliert: Im weltweiten Wettbewerb der Rechtsordnungen hat das kontinentale Recht gute Gründe, sich dem offensiven Auftreten des angloamerikanischen Rechts nicht kleinmütig zu beugen. Warum sollte es nicht stattdessen die eigenen Stärken selbstbewusst verteidigen?
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Der Verfasser ist Leiter der Forschungsstelle Politische Philosophie und kooptiertes Mitglied der Juristischen Fakultät der Universität Tübingen.
Andy Warhol, Shadows III, 1979. Aus einer Serie von sechs Siebdrucken (II.A, 218), 77,5 × 109,2 cm © 2009 The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts/ARS, New York.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.05.2009 Seite 7