Samstag, 11. Juli 2009

Kierkegaards kaiserliche Botschaft

Zwischen Identifizierung und Kritik: Kafka als Leser des dänischen Denkers

Die deutsche Kierkegaard-Rezeption setzte spät ein. Mit Hofmannsthal, Rilke, Kassner und Lukács hatte sie schon an Fahrt gewonnen, als sich vor hundert Jahren der Diederichs-Verlag entschloss, eine zwölfbändige Gesamtausgabe herauszubringen, verantwortet von Hermann Gottsched und Christoph Schrempf. Als 1909 die ersten Bände erschienen, "Furcht und Zittern" mit der "Wiederholung" sowie "Der Augenblick", konnten sie noch im selben Jahr in die zweite Auflage gehen. Die gesamte Ausgabe ließ sich aber erst 1922 abschließen.

"Die Krankheit zum Tode" war 1849 erschienen. In schonendem Umgang mit der Erstübersetzung durch A. Bärthold rechtfertige Hermann Gottsched seine eigene Version im Nachwort zum achten Band der Werkausgabe von 1911. Aber schon für die Neuauflage griff der Mitherausgeber Christoph Schrempf energisch ein. Kierkegaard handelt in diesem Buch zwar von der Verzweiflung als Sünde, stellt sie aber auch als eine Existenzmöglichkeit dar, die niemals gehabt zu haben geradezu ein Unglück wäre: Ihre Dialektik liegt darin, dass sie, als unwissende Verzweiflung, die schlimmste Krankheit ist, dass sie aber andrerseits einen Ausweg aus der Trivialität des Wahrscheinlichen bietet. Im zweiten Abschnitt stellt Kierkegaard die Sünde als Potenzierung der Verzweiflung vor und illustriert sie mit einer Erzählung, die die "Möglichkeit des Ärgernisses" zeigen soll.

Glaube eines Tagelöhners

"Wenn ich mir einen armen Tagelöhner denke und den mächtigsten Kaiser, der je gelebt hat, und dieser mächtigste Kaiser bekäme plötzlich den Einfall, einen Boten zu dem Tagelöhner zu schicken, der nie davon geträumt hatte und in dessen Herz nie der Gedanke aufgestiegen war, daß der Kaiser von seinem Dasein wisse, und der sich unbeschreiblich glücklich preisen würde wenn er den Kaiser bloß einmal sehen dürfte, was er dann Kindern und Kindeskindern als die wichtigste Begebenheit seines Lebens erzählen würde / wenn der Kaiser zu diesem Tagelöhner einen Boten schickte und ihn wissen ließe, daß er ihn zum Schwiegersohn haben wolle: was dann? Dann würde der Tagelöhner menschlicherweise etwas oder sehr verlegen werden und sich geniert fühlen, es würde (und das ist menschlich), ihm menschlich, wie etwas höchst Sonderbares, etwas Verrücktes vorkommen, worüber man am allerwenigsten zu einem anderen Menschen reden dürfe, da er selbst schon in seinem stillen Sinn nicht weit von der Erklärung ist, auf die alle Nachbarn und Bekannten möglichst bald lebhaft verfallen würden, nämlich: daß der Kaiser ihn zum Narren halten wolle; so daß er zum Gelächter für die ganze Stadt würde, in die Witzblätter käme und die Geschichte von seiner Vermählung mit des Kaisers Tochter auf dem Jahrmarkt verkauft würde.

Doch soll er Schwiegersohn des Kaisers werden, so muß es wohl bald eine äußere Tatsache werden, so daß sich der Tagelöhner mit seinen Sinnen davon überzeugen kann, wieweit es dem Kaiser Ernst damit ist, oder ob er den armen Menschen bloß zum besten haben, für sein ganzes Leben unglücklich machen und ihm zum Irrenhaus verhelfen will; denn das quid nimis ist zur Stelle, das so schrecklich leicht in sein Gegenteil umschlagen kann. Eine kleine Gunsterweisung würde der Tagelöhner fassen können, die würde in der Kleinstadt, von dem hoch geehrten gebildeten Publikum, von den alten Weibern, von den 500 000 Menschen verstanden werden, die in jener Kleinstadt wohnen, die freilich hinsichtlich der Volksmenge sogar eine sehr große Stadt sein mag, dagegen in Hinsicht auf Sinn und Verstand für das Außerordentliche eine sehr kleine Kleinstadt ist / aber das mit dem Schwiegersohn werden, das ist viel zu viel.

Und gesetzt nun, es wäre nicht von einer äußeren Tatsache die Rede, sondern von einer inneren; so daß also kein Faktum dem Tagelöhner zur Gewißheit verhelfen kann, sondern der Glaube selbst das einzige Faktum ist, so daß also alles dem Glauben überlassen wird, ob jener Mann genug demütigen Glauben hat, es glauben zu dürfen, denn frecher Mut kann zum Glauben nicht helfen; wieviele Tagelöhner gäbe es dann wohl, die diesen Mut hätten? Wer aber diesen Mut nicht hätte, würde sich ärgern; das Außerordentliche würde ihm wie ein Spott über ihn klingen. Er würde dann vielleicht offen und ehrlich eingestehen: so etwas ist mir zu hoch; ich kann es nicht fassen; d.h. daß ich es gerade heraussage, es ist eine Torheit."

Dass Franz Kafka zu den Kierkegaardlesern gehörte, weiß man. "Er bestätigt mich wie ein Freund" - diese affirmative Form der Lektüre konnte er auf Dauer nicht durchhalten. Was er im August 1913 ins Tagebuch schrieb, war seine Reaktion auf eine Auswahlausgabe aus den Tagebüchern. Darin war ebenso von Kierkegaards rätselhafter Ver- und Entlobung mit Regine Olsen die Rede wie auch von seinem heiklen Verhältnis zum Vater. In den späteren Jahren ging Kafka allerdings mehr und mehr auf Distanz, er nannte sie "abscheuliche, widerwärtige Bücher", ihr Autor sei "ein Stern, aber über einer mir fast unzugänglichen Gegend". Man weiß aus Kafkas Briefen, welche Bücher des Dänen kannte, etwa wenn er Ende 1917 an Oskar Baum schrieb: "Ich kenne nur ‚Furcht und Zittern'." Das war die Zeit seiner intensivsten, allerdings nicht länger affirmativen Lektüre, während des Aufenthaltes in Zürau bei der Schwester Ottla im nordwestlichen Böhmen. Aus "Furcht und Zittern" ist es vor allem die Abraham-Gestalt, die Kafka fesselte, aber er hat auch andere Schriften wahrgenommen, außer den schon genannten "Entweder Oder", die "Stadien auf dem Lebensweg", die "Wiederholung" und den "Augenblick". Material zu dieser Konstellation hat wohl zuletzt die Hildesheimer Dissertation von Helge Miethe bereitgestellt (Sören Kierkegaards Wirkung auf Franz Kafka. Motivische und sprachliche Parallelen, erschienen Marburg: Tectum 2006), in der auch die Geschichte der kaiserlichen Botschaft berücksichtigt wird. Ungeachtet ihres philologischen Vorgehens wird darin aber die neuere, Kafka unbekannte Übersetzung von Emanuel Hirsch zitiert. Dabei ist die Gottschedsche Ausgabe von 1911 in Kafkas Bibliothek erhalten, mit einer Anstreichung und einem Besitzvermerk, der das Buch als Eigentum von Karel Projsa ausweist, eines Freundes von Ottla. Dass es aber Kafkas eigener Büchersammlung angehört hat, halten die Experten für wahrscheinlich.

Wie in Kafkas 1917 geschriebenem Text "Eine kaiserliche Botschaft" wird in der zitierten Erzählung aus der "Krankheit zum Tode" eine Art konjunktivisches Phantasma inszeniert, als eine Parabel der märchenhaften Unglaubwürdigkeit, jedenfalls der Unwahrscheinlichkeit: Der mächtigste Kaiser, der den ohnmächtigsten seiner Untertanen als Schwiegersohn haben möchte – das wird bei Kierkegaard zum Experiment des Absonderlichen, des Absurden, das eine Probe auf die Glaubensfähigkeit wird. Was Kafka in die Phantasie einer im wörtlichen Sinn unendlich großen, unentrinnbaren Großstadt auseinanderlegt, ist die säkularisierte, phantastische Variante einer Allegorie auf den "kleinstädtischen" Krämergeist, mit einer boshaften Anspielung auf Kopenhagen. Was dem bloßen Verstand bloßes Ärgernis bleibt, wird bei Kierkegaard im Mut des Glaubens zum Sprung.

Das Paradox und der Liebhaber

Kafkas Text wurde wohl im März 1917 im sogenannten Oktavheft C als Teil der fragmentarisch bleibenden Erzählung "Beim Bau der chinesischen Mauer" festgehalten; er erschien 1919 in der jüdischen "Selbstwehr" und ging schließlich in den Band "Ein Landarzt" ein. Da es sich um einen der dichtesten Texte dessen handelt, was landläufig als "kafkaesk" bezeichnet wird, hat es nicht an Vermutungen über Vorlagen oder Quellen gefehlt, die man unter anderem in chassidischen Geschichten zu finden glaubte. Für Kafkas Kenntnis der Tagelöhnergeschichte aus der "Krankheit zum Tode" fehlt der Beweis, dass er das in seinem Bücherschrank vorhandene Buch gelesen hat. Und die für den Herbst 1917 belegte Wiederbegegnung mit Kierkegaard müsste um ein mindestens halbes Jahr vorverlegt werden. Aber die Parallelen zwischen den Texten können für sich stehen – "Etwas verteidigen heißt immer es disrekommandieren", schreibt Kierkegaard in der zitierten Schrift.

So kann von einer Nähe nicht die Rede sein, ohne die Distanz zu berücksichtigen. Kafka konnte Kierkegaards radikaler Religiosität nicht folgen – so wenig wie die anderen Leser in dieser Zeit. Kafka teilte mit ihnen, mit Rilke, Kassner, Hermann Broch, zwar das Interesse an der raffinierten literarischen Vermittlung dieser "Existenz-Mitteilungen", am Spiel der Pseudonyme. Aber wie kein anderer unter den Kierkegaardlesern seiner Zeit verband ihn mit diesem die Affinität zum Paradoxen, zur Zumutung des Widerspruchs. Kierkegaards Paradox ist ihm, so die "Philosophischen Brosamen", "die Leidenschaft des Gedankens, und der Denker, der ohne das Paradox ist, der ist wie ein Liebhaber ohne Leidenschaft: ein mittelmäßiger Patron". Kafka ist darin vielleicht der gelehrigste, aber freilich auch der widerständigste Schüler Kierkegaards: Das Paradoxon ist ihm nicht eine Form der Wahrheit, sondern eine literarische Praxis, hinter der keine verbürgte Wahrheit gegeben ist. Im Februar 1918 hält er fest: "Ich bin nicht von der allerdings schon schwer sinkenden Hand des Christentums ins Leben geführt worden wie Kierkegaard und habe nicht den letzten Zipfel des davonfliegenden jüdischen Gebetsmantels noch gefangen wie die Zionisten." Leer bleibt daher auch der Inhalt der kaiserlichen Botschaft – nicht sie selbst, nur von ihr kann erzählt werden.      Mathias Mayer

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.04.2009 Seite N3