Im neunzehnten Jahrhundert wollten die Vorkämpfer gegen den Antisemitismus die Juden noch missionieren. Heute ist das undenkbar. Eine Erwiderung auf Robert Spaemann. Von Michael Brenner
Man stelle sich einen Moment lang vor, es hätte in Europa weder mittelalterliche Ritualmordvorwürfe noch frühneuzeitliche Judenvertreibungen und auch keine Pogromnacht vom November 1938 gegeben und unsere Stadtbilder würde daher neben den Kathedralen von mittelalterlichen Synagogen geprägt sein, von deren Fassaden auf der einen Seite die triumphierende Synagoga mit siebenarmigem Leuchter und aufrechtem Zepter, auf der anderen die gedemütigte Ecclesia mit zerbrochenem Kreuz und verbundenen Augen herabblickten. Man stelle sich weiter vor, eine dominierende jüdische Gemeinde hätte Jahrhunderte lang eine ins Getto gedrängte und durch diskriminierende Gesetze eingeschränkte kleine Christengemeinde mit Zwangspredigten in die Synagogen zitiert und Glaubensdisputationen angeordnet, an deren Ende die Bekehrung zum Judentum stehen sollte.
Und wenn dies alles nichts half, hätten jüdische Herrscher die perfiden Christen vor die Wahl gestellt, entweder unters Beschneidungsmesser zu eilen oder des Landes verwiesen zu werden. Man stelle sich zuletzt vor, dass in einem Staat, dessen Bürger zu mehr als 90 Prozent Juden wären, zur Vernichtung der ein Prozent der Bevölkerung zählenden christlichen Minderheit aufgerufen würde und die Oberrabbiner des Landes es wagten, sich öffentlich nur für die sich zum Judentum bekehrenden Christen einzusetzen. In einem solchen Lande lebte nach dem erfolgten Genozid dann noch ein kleines Häufchen von Christen, die über keine nennenswerten Theologen oder Philosophen mehr verfügten und alle ihre Priester aus dem Vatikan importieren müssten. Diesen Christen erklärte man nun, Geschichte hin, Geschichte her, in unserer Heilvorstellung habt ihr nun mal euren Platz, daher werden wir weiterhin wie bisher versuchen, unter euch zu missionieren, friedlich versteht sich, und als Freunde.
In seiner vehementen Kritik der Absage des Zentralkomitees der deutschen Katholiken an die Judenmission (F.A.Z. vom 20. April) klammert Robert Spaemann eine Geschichte aus, die sich in etwa umgekehrt zu den oben geschilderten Vorstellungen zugetragen hat. Die Frage der Bekehrung der Juden zum Christentum auf ihre theologischen Ursprünge zu reduzieren kommt einer Missachtung der historischen Verhältnisse gleich.
Juden bekehren nicht mehr
Um die Position der Juden in dieser Sache zu verstehen, muss man zunächst ihr eigenes Verständnis in Bezug auf die Bekehrung anderer etwas differenzierter darstellen. Spaemann sagt, auch das frühe Judentum war missionarisch. Das ist richtig, doch seit zweitausend Jahren ist es dies eben nicht mehr. Das rabbinische Judentum kennt zwar die Möglichkeit zum Übertritt, doch wird dieser keineswegs leichtgemacht, der Bekehrungswillige muss vom Rabbiner mehrere Male abgewiesen werden, bevor er beginnen kann, den Weg ins Judentum zu finden.
Unter Berufung auf einen Rabbiner behauptet Spaemann weiter, die Juden beteten selbst in ihrer Liturgie für die Bekehrung der Nichtjuden. Erstens wird dies so explizit wie in der Karfreitagsbitte nirgends im jüdischen Gebetbuch gesagt, und zweitens ist selbst ein vager Bekehrungswunsch im Judentum nicht an eine bestimmte Gruppe gerichtet, mit der die eigene Heilserwartung verbunden ist. Bekehrung ist, um daran keinen Zweifel zu lassen, für Juden ein negativ geprägter Begriff. Kaum jemand hat dies klarer formuliert als der Aufklärungsphilosoph Moses Mendelssohn, der selbst zur Zielscheibe christlicher Bekehrungsaufrufe wurde und der, im Gegensatz zu seinem das Wort prägenden König Friedrich dem Großen, tatsächlich glaubte, dass Anhänger aller Religionen im wahrsten Sinne des Wortes nach ihrer Façon selig werden können. Ist Gott deswegen Bigamist oder gar Polygamist? Nein, aber Gott ist eben auch kein Christ.
Spaemanns Vorstoß kann nicht aus dem Kontext einer neuen päpstlichen Politik gelöst werden, die bereits für Verstimmungen im katholisch-jüdischen Dialog gesorgt hat. Er streut nun neues Salz in die offenen Wunden. Dieser Dialog ist nach dem Holocaust mühsam erarbeitet worden. Das zwanzig Jahre nach Ende des Krieges und der Katastrophe für das europäische Judentum zunächst von Papst Paul VI. und danach von 2221 katholischen Bischöfen aus allen Teilen der Welt auf dem II. Vatikanischen Konzil unterschriebene Dokument Nostra aetate definierte erstmals eine grundlegend veränderte Haltung der katholischen Kirche gegenüber dem Judentum. Vom Band mit dem Stamme Abrahams ist hier die Rede, von der Liebe Gottes, die noch immer für die Juden Geltung habe, und schließlich auch von der Verurteilung "aller Hassausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von irgendjemandem gegen die Juden gerichtet haben".
Dennoch würde dieses Dokument, wäre es heute Diskussionsgrundlage des christlich-jüdischen Gesprächs, kaum jemanden zufriedenstellen. Da heißt es etwa, dass Jerusalem seine Heimsuchung nicht erkannt habe und dass "die jüdischen Obrigkeiten mit ihren Anhängern auf den Tod Christi gedrungen" hätten, dass – ganz selbstverständlich – die "Kirche das neue Volk Gottes" sei. Zu Recht hat die französische Bischofskonferenz in einer der bisher überhaupt beachtenswertesten Erklärungen auf diesem Gebiet 1973 dargelegt: "Man muss in der Stellungnahme des Konzils eher einen Beginn als eine Endphase sehen."
Johannes Paul II. war schon weiter
Dass auch nach solchen Erklärungen noch ein weiter Weg zu gehen war, drückte der unlängst verstorbene jüdische Theologe Ernst Ludwig Ehrlich aus: "Antisemitismus verurteilt heute jeder. Dass Jesus ein Jude war, hat sich inzwischen auch herumgesprochen. Die eigentlichen Probleme liegen anderswo." Bisher sind die meisten jüdischen Vertreter dieses Dialogs selbstverständlich davon ausgegangen, dass der eingeschlagene Weg fortgesetzt würde und die verbliebenen eigentlichen Probleme, zu denen vor allem die Judenmission gehört, ebenfalls aus dem Weg geräumt würden. Papst Johannes Paul II. hat dies durch zahlreiche Gesten, nicht zuletzt während seines denkwürdigen Israel-Besuchs, glauben lassen. Bei seinem Nachfolger war man sich nach der Wiederzulassung der Karfreitagsbitte und nach der Wiederaufnahme eines den Holocaust leugnenden Bischofs in den Schoß der Kirche nicht mehr so sicher, ob auch er diesen Weg beschreitet. Es scheint jedoch, dass die vatikanische Diplomatie darum bemüht ist, jeden Schaden vom katholisch-jüdischen Gespräch abwenden zu wollen und die Geschehnisse als Missverständnis darzustellen. Angesichts dieser Bemühungen müssen Spaemanns Äußerungen vor allem dem Vatikan ungelegen kommen.
Spaemann behauptet, die traditionelle Fürbitte für die Juden, damit auch sie "Jesus Christus als Retter aller Menschen erkennen", sei eine israelfreundliche Korrektur gewesen, das Freihalten der ersten Kirchenbänke für potentielle jüdische Konvertiten betrachtet er als Zeichen des besonderen Ausdrucks der Freundschaft gegenüber den Juden. Diese Einstellung ist gewiss nicht neu. Während des neunzehnten Jahrhunderts waren die bedeutendsten Vorkämpfer gegen den Antisemitismus oft auch die prominentesten Judenmissionare. Franz Delitzsch gründete sein Institutum Judaicum zur Erforschung jüdischer Geschichte und Literatur wie auch zur Ausbildung von Judenmissionaren. Und selbst der bekannteste Gegner des politischen Antisemitismus, der liberale Historiker Theodor Mommsen, wünschte sich eine Taufe der Juden aus politisch-historischen Gründen, da man nun einmal im christlichen Abendland lebte. Nach dem Holocaust ist eine solche Forderung noch weitaus kritischer zu bewerten als am Ende des neunzehnten Jahrhunderts.
Wenn die Päpste von Johannes XXIII. bis Johannes Paul II. ihr Verhältnis gegenüber den Juden neu bedacht haben, so ist dies vor dem Hintergrund einer langen und oftmals tragisch verlaufenen Familiengeschichte zu sehen. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken hat dies verstanden. Angesichts der Veränderungen, die sich in der katholischen Kirche in dieser Beziehung seit Jahrzehnten beobachten ließen, nimmt sich Spaemanns Eingreifen nicht nur für Juden als unverständlicher Rückschritt aus.
Wie zentral ihm das Festhalten an der Judenmission ist, erkennt man aus Spaemanns Satz, er könne einer Kirche nicht mehr angehören, die derartigen Empfehlungen des Zentralkomitees deutscher Katholiken folge. Dies ist schweres Geschütz. Übertroffen wohl nur von der Behauptung, zu Zeiten Bubers und Rosenzweigs habe der Austausch zwischen Christen und Juden deswegen zu stärker vertieften Einsichten als heute geführt, "weil der Relativismus noch nicht alles durchdrang". Könnte es vielleicht auch sein, dass der Austausch deswegen damals ertragreicher war, weil es vor Auschwitz noch einen jüdischen Partner gab, weil eine nennenswerte deutsch-jüdische Gemeinde existierte, die über Philosophen und Theologen verfügte? Doch die Geschichte scheint Spaemann wenig zu interessieren. Wenn er im Namen der Israelfreundschaft und Brüderlichkeit für das Festhalten an der Mission unter den Juden argumentiert, ist man an jene Schlagzeile einer jüdischen Zeitung am Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts erinnert, die in Bezug auf die damaligen missionarischen Gedanken eines Delitzsch und Mommsen seufzte: "Gott schütze uns vor unseren Freunden."
Michael Brenner
bekleidet den Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur am Historischen Seminar der Universität München. Zuletzt erschien seine "Kleine Jüdische Geschichte".
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.04.2009 Seite 31