Amerikanische Teenager haben Jay Ashers Roman "Tote Mädchen lügen nicht" verschlungen. Jetzt erscheint das Jugendbuch über den Selbstmord einer Schülerin auf Deutsch.
In diesen Tagen kommt in Deutschland ein Buch heraus, das keine Expertenstudie, kein statistisches Nachschlagewerk, sondern ein Jugendroman ist. Er heißt "Tote Mädchen lügen nicht", und sein Autor ist der dreiunddreißigjährige Kalifornier Jay Asher. Seit das Buch im Oktober 2007 in den Vereinigten Staaten erschien, hat es sich dort gut hundertsechzigtausendmal verkauft, und das, obwohl es anfangs kaum Verlagswerbung gab: Teenager haben vielmehr Teenagern davon erzählt. "Thirteen Reasons Why", so der Originaltitel, ist im amerikanischen Handel immer noch ausschließlich als Hardcover erhältlich. Es war bis auf den dritten Platz der "New York Times"-Bestsellerliste gerückt. Seine Rechte sind inzwischen in vierzehn Länder verkauft worden. In Deutschland trifft der Roman auf ein Publikum, jung wie alt, das sich beim Lesen wahrscheinlich kaum von den Ereignissen in Winnenden lösen kann – auch wenn es gar nicht um ein "High School Shooting" geht, sondern um den Selbstmord einer Schülerin.
Am Montag hat Alice Schwarzer, die Herausgeberin der Zeitschrift "Emma", einen streitbaren Artikel über Winnenden veröffentlich. Sie hat den Amoklauf "das erste Massaker mit dem Motiv Frauenhass in Deutschland" genannt – weil von den neunzehn toten und verletzten Opfern in der Albertville-Realschule achtzehn weiblich gewesen seien. Auf der Flucht habe der Täter dann wahllos und auch auf Männer geschossen. "Tim K. soll ,Depressionen' gehabt haben", schreibt Alice Schwarzer. "Wir alle kennen depressive Frauen. Morden sie? Nein, höchstens sich selbst."
Morden sie? In den Tagen seit den Ereignissen von Winnenden hat man zwei andere Fragen wieder und wieder gehört. Die eine lautet: Hätten wir die Warnsignale des Schulamokläufers rechtzeitig erkennen können? Und die andere: Warum sind es eigentlich immer Jungs oder junge Männer? Experten haben daraufhin erklärt, dass es sehr wohl Amokläuferinnen gibt, wenn ihre Zahl auch gering ist: Eine Studie aus dem Jahr 2006, die neunundneunzig Amokläufe an Schulen auf der ganzen Welt seit 1974 aufgeschlüsselt hat, zeigt, dass es viermal Täterinnen waren. Und obwohl die Gewaltbereitschaft junger Mädchen zuletzt gestiegen ist, was wiederum andere Studien belegen: Die Aggression psychisch belasteter Frauen, und das bringen Alice Schwarzers bittere Worte zum Ausdruck, scheint sich also eher nicht nach außen, sondern nach innen zu richten. Doch auch Jungen, dass darf man dabei nicht vergessen, begehen Selbstmord. Sie tun es sogar häufiger als Mädchen.
In "Tote Mädchen lügen nicht" geht es um einen jungen Menschen, der sich isoliert fühlt, jedes Vertrauen verliert und irgendwann beschließt, in den Tod zu gehen – aber nicht ohne noch zu dokumentieren, welche Signale es für diesen Selbstmord gegeben hat. Ihr hättet es erkennen können, diese Botschaft hinterlässt die junge Hannah Baker dreizehn Menschen aus ihrem Umfeld: zwölf Mitschülern und einem Lehrer. Ihr hättet mich aufhalten können, denn die Signale waren da, als ich mir die Haare abschnitt und auf Gängen herumgeschrien habe. Ihr hättet nur hinsehen, hinhören müssen, ihr hättet nur einmal nachdenken müssen, was ihr mir antut. Dann hättet ihr vielleicht verhindern können, dass es so weit kommt und ich Tabletten nehme.
Aber dazu ist es nun zu spät. Und daher müssen die dreizehn Menschen, die Anteil am Schicksal Hannahs hatten, dem Mädchen zwei Wochen nach seinem Freitod so genau zuhören, wie sie es vorher eben nicht taten: Hannah Baker hat vor ihrem Tod Kassetten besprochen, dreizehn Stück, für jeden eine: für den Jungen, der sie zum ersten Mal küsste und danach bei seinen Freunden damit prahlte; für das Mädchen, das sie benutzte, um selbst heller strahlen zu können; für einen anderen Jungen, der ihr Briefgeheimnis brach; für einen dritten Jungen, der ungefragt ein Gedicht von ihr druckte und an der Schule verteilte; für eine Freundin, die keine war; und schließlich für den Lehrer, der ihr riet, doch einfach auf sich beruhen zu lassen, was sie umtrieb, und der in seinem Büro sitzen blieb, als Hannah aufstand und sagte: Ich schließe jetzt mit meinem Leben ab. Dreizehn größere und kleinere Verletzungen kommen so zusammen. Erst in der Summe der Teile wird ein Bild daraus, das nur Hannah erkannte, die anderen aber nicht, aus Teilnahmslosigkeit, Arroganz, Dummheit – oder weil es zu schwer war, die Verletzung überhaupt zu erkennen.
Jay Asher hat es weder sich noch seinen Figuren leichtgemacht. Er hat auch Hannah Baker als ungerecht, unfair und unzugänglich beschrieben: Das bewahrt sein Buch davor, eine banale Anleitung zum Seelenklempnern zu sein. Das ist vielleicht auch das Geheimnis, warum das Buch an amerikanischen Highschools von Hand zu Hand wanderte. Es ist nicht pädagogisch, nicht altklug, nicht berufsjugendlich, es ist kompliziert. Was hat "Tote Mädchen lügen nicht" inspiriert, warum rückt einem das Buch so nah? "Mich hat die Geschichte einer jungen Verwandten beschäftigt, die sich das Leben zu nehmen versucht hat", erzählt Jay Asher im Gespräch. Und dass er sich mit seiner Frau und anderen Freundinnen hingesetzt hat und sie fragte, was in deren Schulzeit geschehen sei, das sie nicht bewältigen konnten. Gerüchte, antworteten sie, Gerede, Rufmord und Klatsch. Als er selbst noch in der Highschool war, hat Asher an einem Präventivkurs zur Verhinderung von Selbstmorden teilgenommen. Auch im Buch wird eine Broschüre verteilt, die "Warnsignale suizidgefährdeter Menschen" heißt. "Ich wollte, dass es kein zu großes Ereignis ist, das Hannah umtreibt", sagt Asher. "Ich wollte, dass es viele kleine Dinge sind." Ein Herz, das immer wieder bricht, und mit jedem Mal wird der Knacks größer.
Natürlich hat Jay Asher von den Ereignissen in Winnenden gehört, die Bilder waren auch auf CNN zu sehen, weil jedes "High School Shooting" außerhalb des Landes die Amerikaner offenbar darin versichert, nicht allein mit diesem Phänomen zu sein (sie führen die eingangs genannte Statistik von 2006 mit großem Vorsprung an). Asher versteht auch, warum sein Jugendbuch in eine ungefähre Nähe zu dem Unglück rückt, er selbst aber sieht Parallelen zu einem ganz anderen Fall: Megan Meier, ein Mädchen mit Zahnspangen aus einem Vorort von St. Louis, erhängte sich im Oktober 2006 in ihrem Kleiderschrank, nachdem sie auf ihrer MySpace-Seite von einem Jungen namens Josh Evans gemobbt worden war. "Die Welt wäre ein besserer Ort ohne Dich", lautete Joshs letzter Eintrag. Vorher hatte er über eine längere Zeit im Netz mit Megan geflirtet. Nur: Diesen Jungen gab es gar nicht. Eine Nachbarstochter hatte sich "Josh Evans" gemeinsam mit ihrer Mutter und einer Bekannten ausgedacht. Dass Megan Psychopharmaka nahm, hatten die Beteiligten offenbar gewusst. Die Nachbarsmutter ist im vergangenen November wegen Computerbetrugs verurteilt worden – es war der erste amerikanische Prozess gegen "Cyberbullying" überhaupt. Auch bei Megan, sagt Jay Asher, habe kein großes Ereignis den Anstoß gegeben, sondern ein Satz: dahingesagte Worte für andere, für das dreizehnjährige Mädchen der letzte Treffer.
Es wundert nicht, dass in Amerika nach Megan Meiers Selbstmord heftig über das Internet und seine anonyme Grausamkeit diskutiert wurde, genau wie man jetzt im Fall Winnenden im Computer von Tim K. nach Spuren gesucht hat. In "Tote Mädchen lügen nicht" allerdings spielt das Internet überhaupt keine Rolle. Das Wort fällt auf den 283 Seiten des Buchs kein einziges Mal. Dafür spielen Postkarten eine Rolle, Briefchen, Listen, Schuljahrbücher, Gedichte: Asher hat eine analoge Geschichte geschrieben. Hannah Baker verschickt ein Paket mit Kassetten, die, so verfügt sie, von Adressat zu Adressat weitergereicht werden sollen – andernfalls habe sie dafür gesorgt, dass ihr peinlicher Inhalt veröffentlicht werde. Das ist das Erzählmodell des Buchs, angeregt, sagt Jay Asher, von Audioguides, wie sie seit einiger Zeit in Museen verteilt werden und Besucher über eine Stimme im Kopfhörer von Artefakt zu Artefakt leiten. Hannah hat auch eine Karte beigelegt, die ihre Zuhörer (und den Leser) an die Orte des Geschehens führt und immer näher heran an ein dunkles Geheimnis, an eine Mitschuld Hannahs bei einem anderen Verbrechen, dessen Zeugin sie war, ohne einzugreifen.
Liest Jay Asher aus seinem Debüt an Schulen oder in Buchläden vor, stehen nachher Jungs und Mädchen bei ihm an, um davon zu erzählen, wie sie die Lektüre verändert habe. Einige gründeten Diskussionsrunden und Buchclubs an ihren Schulen. Andere sendeten E-Mails: "Ich habe bestimmte Stellen in Hannahs Geschichte angestrichen", schrieb ein Mädchen, "und meinem Cousin geschickt. Er hat mir dann die Hilfe besorgt, die ich brauchte, um mit meiner Depression fertig zu werden." Ein anderes Mädchen gestand: "In den letzten Jahren habe ich mit dem Gedanken an Selbstmord gekämpft, alles, was Sie erwähnt und gezeigt haben, war so genau: die Gerüchte, die Jungs, das Drama, alles. Und ich habe mich so viel besser gefühlt, weil ich wusste, dass jemand es versteht." Und ein Junge schrieb: "Ich war sehr gemein zu anderen, ein Schwein. Seit Ihrem Buch habe ich begonnen, anderen zuzuhören und höflicher zu sein."
Ein Mann hat "Tote Mädchen lügen nicht" geschrieben, ein Junge erzählt es: Clay, der in Hannah verliebt war und sie vielleicht in ihn, aber als die beiden das merkten, war es zu spät und Hannah schon zu weit abgetrieben, um noch erreichbar zu sein. Der Roman endet damit, dass Clay einem anderen Mädchen, einem Drifter mit komischen Haaren, nachläuft. Er weicht nicht mehr aus, er nimmt Kontakt auf. In der entscheidenden Passage, als Clay das Geheimnis Hannahs erfährt, bricht er, den Walkman auf den Ohren, im Auto eines Freundes zusammen. Da sitzen die beiden nebeneinander, fast wortlos, fast reden sie, aber noch nicht richtig. Und deshalb beginnt in diesem Buch auch eine andere Geschichte, die jetzt weitererzählt werden muss, jenseits des Papiers, und die handelt von Jungs. Tobias Rüther
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.03.2009 Seite 33