Samstag, 11. Juli 2009

Warum ich nach Halle emigriere

In Leipzig, der Heldenstadt von 1989, triumphieren heute wieder Marx und Co. In der Kulturpolitik wird die Verharmlosung und Verklärung der DDR vorweggenommen. Von Erich Loest

Überall in der Bundesrepublik Deutschland werfen die Wahlen von 2009 ihre Schatten voraus. Besonders diffizil ist es in Leipzig, denn hier wird alle Welt des Oktobers von 1989 gedenken, den Sturz der DDR und der SED feiern. Gleichzeitig will die Linkspartei zur stärksten Fraktion im Stadtparlament aufsteigen. Vermutlich bereite ich mich am besten auf die Schlammschlachten vor, indem ich mich mit drei jüngeren Niederlagen beschäftigte. Die erste: Franz Häuser, der aus Limburg zugezogene Rektor unserer Universität, stand vor einigen Jahren öffentlich über sein Wirken Rede und Antwort. Vom Masterstudium war die Rede, vom Ausländeranteil unter den Studenten und vielem mehr. Dann wurde er gefragt, wann wohl endlich das mächtige Marx-Relief an der Frontseite des Hauptgebäudes demontiert werden würde. Häuser behauptete, das dürfe man keinesfalls abnehmen, sonst falle das Haus, an dem es hinge, zusammen; beim ins Auge gefassten Neubau werde man das Problem lösen. Ich stürzte ans Mikrofon, ohne dass mir das Wort erteilt worden wäre, erklärte, das Monstrum hinge nicht, sondern stünde fest auf eigenen Stützen, und was Häuser da verkündet habe, sei übel und dreist. Magnifizenz blickten ungerührt. Später schrieb ich, Häuser habe gelogen. (Später schrieb mir Häuser, er sei von Fachleuten getäuscht worden – beiderseits sorry.)

Mit den Schöpfern der Großbronze fetzte man sich in der Nikolaischule

Die Bronze blieb, Demontage-Termine, so die Fußballweltmeisterschaft mit ausländischen Gästen auch in Leipzig, verstrichen. Kurz vor dem Abriss des Plattenbaus wurden die 33 Tonnen in drei Teile zerschnitten, um sie transportieren zu können, und von der Universitätsleitung an einem nahezu geheimen Ort zwischengelagert. Ich schlug vor, die Bruchstücke dort abzulegen oder aneinanderzulehnen, wo die Trümmer der 1968 gesprengten Universität und ihrer Kirche in eine Kiesgrube geschüttet worden waren, am Stadtrand nahe dem Völkerschlachtdenkmal. Andere Ideen reichten vom Einschmelzen bis zur Montage an der Moritzbastei im Stadtzentrum; das lehnte die Verwaltung ab. Mit zweien der drei Schöpfer der Großbronze fetzte ich mich in der Aula der Nikolaischule. Linksparteiliche Leserbriefschreiber fanden in der "Leipziger Volkszeitung" freie Räume, einer stellte zutreffend fest, Marx sei berühmter als Loest. Dem Argument, Marx werde in seiner Geburtsstadt durch ein Museum geehrt, setzte ich entgegen: Trier und die Pfalz wären ja auch nicht durch vierzig Jahre kommunistischer Wirtschaft in den Ruin getrieben und die Porta Nigra keineswegs im Geiste des Klassenkampfs gesprengt worden.

Eines Tages stand in der Zeitung, die drei Teile seien in einer Nachtaktion aus ihrem Verlies auf das Gelände der ehemaligen Hochschule für Körperkultur gebracht worden, dort sollten sie aufgestellt werden, die Dresdner Wissenschaftsministerin Stange, SPD, habe dafür 300 000 Euro bewilligt. Wütend schrieb ich einen offenen Brief an sie und Oberbürgermeister Jung, ebenfalls SPD, und forderte sie auf, diesen Plan zu vereiteln und so Schande von der Stadt der friedlichen Revolution von 1989 abzuwenden. Tagelang schien Jung auf meiner Seite zu sein, stolperte in Formfehler, zäh wurde offen und in Politzimmern gefeilscht. In der ideologischen Tiefprovinz Leipzig vollzog sich eine Politposse von letztem Rang.

Schließlich siegte Franz Häuser, der Beharrliche, der Aussitzer. Von ganzem Herzen frohlockte die Linkspartei. Im vergangenen Oktober verkündete die Lokalzeitung: "Marx ist wieder da." Nach hitzigen Debatten sei das Bronzerelief am neuen Standort der Öffentlichkeit übergeben worden. Reden habe es nicht gegeben und Sekt schon gar nicht. Eine aus Edelstahl gefertigte Tafel erläutere Geschichte und Funktion des Kunstwerks. Von Vernichtungsaktion und Gewalttaten der SED sei auf dieser Tafel die Rede. "Während der Übergabe stürmt es. Der Wind verfängt sich in der Bronze. Es rumpelt in ihr. Das werden doch nicht Signale aus dem Jenseits sein?, fragt Häuser." Die Lokalzeitung abgründig: "Warum nicht?"

Die zweite Niederlage: Der Maler Werner Tübke hatte im Auftrag der SED ein Riesengemälde geschaffen, "Arbeiterklasse und Intelligenz", das den Sieg des Kommunismus über Aufklärung und Humanismus an der Leipziger Universität feierte. Es hing schlecht im alten Plattenbau – quasi Rücken an Rücken mit der Marx-Bronze –, mit dem Abriss fand es ans Licht und wurde im Museum der bildenden Künste mit Pomp ausgestellt. Der Kustos der Universität, Rudolf Hiller von Gaertringen: "Es gibt den konkreten Vorschlag, das Gemälde am rekonstruierten Seminargebäude vor den Hörsälen zu plazieren." Franz Häuser: "Das Bewusstsein für die Licht- und Schattenseiten der Vergangenheit ist unabdingbare Voraussetzung für eine entschlossene Gestaltung von Gegenwart und Zukunft, was eine Auseinandersetzung mit der sozialistischen Vergangenheit der Universität einschließt. Dieser in vieler Hinsicht auch schmerzhafte Prozess der Aufarbeitung steht noch am Anfang. Die Beschäftigung mit einem so bedeutenden Werk wie Werner Tübkes ,Arbeiterklasse und Intelligenz' könnte ein guter Ansatz sein, diese Arbeit zu intensivieren."

Dem Manne könnte geholfen werden, meinte ich und wendete mich der Person Paul Fröhlichs zu, den Tübke in seine Ruhmes-Bildpersonnage aufgenommen hatte. "Die Krake lacht", schrieb ich. "Ohne Zweifel: Paul Fröhlich hat zu DDR-Zeiten der Stadt Leipzig und seiner Universität geschadet wie kein Zweiter. Er schaffte es, die bürgerlich-humanistische Universität zu zerschlagen und zu einer marxistisch-leninistischen umzubauen. Er vertrieb die Professoren Ernst Bloch und Hans Mayer und schickte Studentenpfarrer Schmutzler ins Zuchthaus. Er war maßgeblich beteiligt, den Befehl Walter Ulbrichts umzusetzen, die klassizistische Universität, in vielen Teilen benutzt, in den beschädigten ausbaufähig, zu sprengen. Als erster Akt sank die Paulinerkirche, eine Barbarei ohnegleichen. Mit Malern und Nichtmalern saß ich neulich zusammen, wir machten uns Gedanken, wie man Paul Fröhlich malen könnte. Wir erwogen, ihn als klassenkämpferische Krake darzustellen, vielarmig. Wie er Köpfe widerborstiger Studenten und Professoren abbeißt und nach Bautzen spuckt, woher er gekommen, wie er Dächer von Bürgerhäusern abnagt und an die Grundmauern pisst, wie er und Hans Vogelsang, sein oberster SED-Richter, mit Schädeln aus den Paulinergrüften Kegeln spielen – vom Wehrmachtskoch zum Stadtsadisten."

Jahrelang suchte ich nach einem Maler, der nicht die Sieger der Karl-Marx-Universität, sondern ihre Opfer darstellen wollte. Nach mancherlei Absagen kam ich mit Reinhard Minkewitz ins Gespräch. Die Professoren Bloch und Hans Mayer, Pfarrer Schmutzler, Studentenratsvorsitzender Natoneck und der Student Ihmels, der in Bautzen umkam, sollten für viele stehen. Format wie bei Tübke, viel kleiner freilich, eine ausbaufähige Studie. Die alte Universität. Gebrochene Schollen davor. Als das Gemälde mit einigen Vorstudien im Galerie-Hotel nahe der Eisenbahnstraße vom Hausherrn Klaus Eberhard gezeigt wurde, war das Haus berstend voll. Schulterklopfen. Ich dachte: Daran kann eine Universitätsleitung doch nicht vorübergehen! Aber Häuser und Hiller von Gaertringen blieben beinhart. Vier Monate lang hing das Minkewitz-Bild in der Galerie, ebenso lange stand es bei mir im Keller. Unterdessen schenkte ich es dem Museum in Mittweida. In der neuen Universität werden Paul Fröhlich und seine Kumpane zu sehen sein, aber niemals Ihmels, Schmutzler, Bloch und Mayer.

Wer SPD wählt, wählt einen Kommunisten

Die dritte Niederlage: Die sächsische SPD beschließt, sich für die Landtagswahl 2009 jeder Koalitionsaussage zu enthalten. Vorher war ein Antrag von fünf Leipzigern, die Zusammenarbeit mit der Linkspartei auszuschließen, gescheitert. Der Landesparteitag erklärt es als Hauptziel, eine schwarz-gelbe Koalition zu verhindern. Das bedeutet: Wenn ich die Sozialdemokraten ankreuze, wähle ich die Linken mit. Seit meiner Ankunft in der Bundesrepublik 1981 stimme ich für die SPD. Wenn ich sie diesmal wähle, leiste ich Vorschub für einen kommunistischen Ministerpräsidenten. Kultusminister könnte Volker Külow werden, ein ehemaliger Stasi-Spitzel. Auf den Straßen der untergehenden Weimarer Republik skandierten Rotfrontkämpfer: "Wer hat uns verraten – Sozialdemokraten!" Das könnte zum Slogan für die Bürgerrechtler von 1989 werden. Für mich ist die sächsische wie die Leipziger SPD unwählbar.

Als die Dienstzeit unseres Kulturbürgermeisters Georg Girardet zu Ende ging, vermasselte Oberbürgermeister Jung die Kandidatur eines Nachfolgers, indem er sowohl den Grünen als auch der Linkspartei Avancen machte. Girardet, amtsmüde, musste bleiben. Nun suchte keineswegs die SPD-Fraktion nach einem Nachfolger, vielmehr bat sie die Linksfraktion, dies zu übernehmen, und sichert blanko zu, sich dann ihrem Urteil anzuschließen. Die Kandidatur fähiger Leute von außerhalb war damit praktisch ausgeschlossen und fand nicht statt. Die SPD-Fraktion degradierte sich vorauseilend zum Juniorpartner. Ich versuche mir die Rede eines Linksbürgermeisters zum 9. Oktober 1989 vorzustellen – so viel Phantasie bringe ich beim schlechtesten Willen nicht auf.

Fazit: Wenn die Linkspartei 2009 zur stärksten Fraktion im Leipziger Stadtrat wird, sollte sie honorieren, in welch enormer und hartnäckiger Weise sich Franz Häuser für ihre ideologische Rehabilitierung und Mobilmachung eingesetzt hat. Es wäre nur gerecht, würde sie ihn zum Ehrenbürger vorschlagen. Bis dahin bin ich konsequenterweise nach Halle emigriert.

Der Schriftsteller Erich Loest veröffentlichte zuletzt eine Neufassung seines Romans "Löwenstadt".

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.04.2009 Seite 35