Von Karl Kardinal Lehmann
Als Ministerpräsident Koch mir die Mitteilung von der Verleihung des Hessischen Kulturpreises machte, war ich zuerst von dem Wagnis überrascht, von staatlicher Seite aus Vertreter der bei uns vorherrschenden Religionen gemeinsam auszuzeichnen. Trotz gewisser Bedenken stimmte ich zu, da mir der interreligiöse Dialog seit vielen Jahren wichtig ist. Als ich ziemlich spät von der Ablehnung des Preises durch Professor Dr. Fuat Sezgin und der Nominierung von Dr. habil. Navid Kermani hörte, habe ich dies ohne Widerspruch zur Kenntnis genommen. Ich besaß einige Bücher von ihm und lernte Navid Kermani vor gar nicht langer Zeit auch persönlich kennen.
Als ich Anfang April den Text von Navid Kermani über den gekreuzigten Jesus Christus von Guido Reni ("Neue Zürcher Zeitung" vom 14. März) las, war mir seit meinem Studium und durch die eigene Koranlektüre längst bewusst, dass der Islam trotz der hohen Anerkennung Jesu harte Aussagen macht zum Faktum der Kreuzigung und zur christlichen Wertschätzung des Kreuzes. Mit dieser Äußerung Kermanis konnte ich durchaus leben, wenn mich auch die Schärfe und Schroffheit des Urteils überraschte. Man muss dazu freilich den ganzen Text lesen.
Navid Kermani hat in unserer pluralistischen Gesellschaft das Recht, seine Meinung zu den Glaubensüberzeugungen anderer Religionen zu äußern. Dies habe ich nie in Frage gestellt. Im Schreiben an Ministerpräsident Koch vom 24. April habe ich jedoch die schwierige Situation dargestellt, in die mich dieser Text im Zusammenhang der Preisverleihung bringt. Ich habe sehr klar zum Ausdruck gebracht, "dass der Essay freilich eine gewisse dialektische Struktur hat und auch paradoxe Elemente enthält". Ich habe den Schluss, den manche als so "anrührend" empfinden, wohl in seiner schriftstellerischen Kunstfertigkeit gesehen – aber gerade so konnte er die grundsätzlichen massiven Urteile im ersten Teil nicht wettmachen. Ich vermisste schon rein sprachlich Sensibilität und Respekt vor dem christlichen Glauben, auch wenn Navid Kermani diesen nicht teilen muss. Diese Rücksicht gehört auch zur Religionsfreiheit in unserem Land.
Gewiss sollte ich den Preis auch als Theologe und jemand, der das interreligiöse Gespräch zu fördern versuchte, aber nicht zuletzt als Bischof der katholischen Kirche bekommen. Ich musste mir vorstellen, welche Bildunterschriften zu lesen wären, wenn ich in dieser Situation und möglicherweise noch im Bischofsgewand neben Navid Kermani den Preis entgegengenommen hätte. In der Berichterstattung wäre dann zu erfahren gewesen, dass Navid Kermani Kreuzen gegenüber prinzipiell negativ eingestellt ist und sie rundherum ablehnt. Ich malte mir schon die Kommentare derer aus, die mich deswegen verhöhnt hätten, heute aber über mich herfallen, weil ich mir dieses Szenario ersparen wollte.
Schließlich – und dies war der Kern meiner Überlegungen – habe ich auch das Recht, mir mein Urteil zu bilden, ob ich mir dies alles, gerade auch als Bischof und Theologe, gefallen lassen muss. Schließlich habe ich mich schon seit bald fünfzig Jahren als Theologe um das Verständnis des Kreuzes bemüht, es bedeutet mir viel im täglichen Leben, und ich verehre es öffentlich bei vielen Gottesdiensten. Ich hoffte, dass mein Glaubensbekenntnis genügend respektiert wird. Im Übrigen hätten auch meine Mitchristen nicht verstanden, wenn ich mich ohne eine weitere Klärung für eine solche Auszeichnung auf die Bühne gestellt hätte. Als Bischof stehe ich für den Glauben der Kirche und meiner Mitchristen.
Mit keinem Wort habe ich den Ausschluss von Navid Kermani vom Preis auch nur insinuiert, geschweige denn erwartet oder gar angemahnt. Ich habe auch keinen diffamierenden Brief über ihn geschrieben, aber ich habe deutlich zum Ausdruck gebracht, dass ich unter diesen Umständen den Preis nicht in Empfang nehmen kann. Ich bat den Ministerpräsidenten und damit die Jury um eine "Lösung" des Dilemmas. Deutlich habe ich freilich betont, dass ich dabei keine billigen oder faulen Kompromisse annehmen kann. Vielleicht könnte – so dachte ich – Kermani ja auch seine Äußerungen erläutern. Aber ihn darum zu bitten, konnte nicht meine Aufgabe sein. Als ich meinen Brief an Ministerpräsident Koch schrieb, hatte ich noch die Hoffnung auf eine solche Lösung. Es gab also durchaus einen Spielraum dafür. Dieser Versuch ist jedoch gescheitert.
Das Ausmaß von Fehlinformationen und Indiskretionen, Beleidigungen und Schmähungen hat mich trotz mancher Erfahrungen sehr überrascht. Wenn nicht eine grundlegende Achtung vor der Glaubensüberzeugung anderer und Respekt vor der Andersheit des Anderen bestehen, steht es schlecht um ein wirkliches Gespräch der Religionen untereinander. Nur wenn alle Partner sich wirklich um ein tieferes Verstehen und eine wechselseitige Verständigung bemühen, hat das Wort Dialog einen Sinn. "Politische Korrektheit" ist für ein aufrichtiges interreligiöses Gespräch kein Mittel.
Ich bin vor allem als "liberaler" Kirchenmann und Theologe getadelt worden, von dem man diese Eindeutigkeit nicht erwartete. Offensichtlich war die Wut und Enttäuschung umso größer. "Liberal" wollte ich immer sein, wenn dies heißt: hören und achten auf den Anderen, auch wenn er mir sehr fremd ist und bleibt; in jedem Fall das wirklich Gemeinsame suchen; Bindungen und Loyalitäten des Partners nicht ignorieren; Unterschiede nicht verkleistern; verstehende Toleranz walten lassen. Dazu gehört auch, dass man manches Unverständnis, das vielleicht auch an den Grenzen des eigenen Deutenkönnens liegen mag, ohne Groll erträgt. "Liberal" konnte für mich aber nie heißen, dass ich deswegen keinen eigenen Standort einnehmen darf, dass die Frage nach der Wahrheit ausgeklammert wird und damit eben im Kern alles gleich-gültig ist und wird.
Diese Liberalität fürchte ich eher, denn sie hat schon zu viel zugelassen. Eine leere, hohle Toleranz leistet gerade in Konfliktsituationen keinen wirklichen Ausgleich. Die negative Religionsfreiheit schließt, mindestens in der gesellschaftlichen Dimension, das Gewähren positiver Religionsfreiheit ein. Wie sollte denn sonst überhaupt ein religiöser Dialog möglich sein?
Der jetzige Konflikt darf nicht umsonst sein. Er zeigt noch dringlicher die Notwendigkeit eines echten Dialogs unter den Religionen. Dieser muss aber an der Wahrheit und damit an den Inhalten der Glaubensüberzeugungen interessiert sein. Die Hilflosigkeit, mit der in der öffentlichen Diskussion über Kirche und Kreuz geredet wird, spricht Bände und fordert auch für die christliche Verkündigung und die Theologie große Nachdenklichkeit. Es wird hier zugleich deutlich, was "Dialog" nicht heißt: Übergehen und Missachtung der Unterschiede, Sichbegnügen mit einer abstrakten Gemeinsamkeit, Eliminierung des eigenen Profils.
Jeder Dialog muss zuerst klären, wie man miteinander umgeht, gerade bei Differenzen. Hat man dies schon einmal verlässlich geklärt, ist man weit gekommen. Deshalb darf man den religiösen Dialog nicht überfordern. Die bescheideneren, aber klärenden Grenzen eines jeden religiösen Dialogs müssen wir wohl noch gemeinsam besser entdecken.
Dies wollen wir auch in dem Konflikt um den Hessischen Kulturpreis erreichen. Den jetzt von der Politik und der Jury angenommenen und verkündigten Aufschub der Preisverleihung und den Versuch eines persönlichen Gespräches der vorgesehenen Preisträger mit Navid Kermani, zunächst ohne Öffentlichkeit, haben Kirchenpräsident Professor Dr. Peter Steinacker und ich vorgeschlagen. Wir wollen den Fortgang eines wahren Dialogs, den wir ja in der Ökumene seit Jahrzehnten praktizieren.
Ich möchte meinerseits, auch zur Stärkung und Bewährung meines eigenen Glaubens, an den vielleicht etwas bescheidener gewordenen Zielen des interreligiösen Dialogs festhalten. Dafür habe ich vom 28. April bis zum 7. Juli 2009 die Stiftungsprofessur an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz angenommen, und zwar mit dem Thema "Weltreligionen – Verstehen, Verständigung, Verantwortung". Diesem Thema widme ich mich gemeinsam mit neun Experten. Am Ende wird meine eigene Vorlesung stehen, die schon lange den Titel trägt: "Notwendigkeit, Risiken und Kriterien für den interreligiösen Dialog heute und in Zukunft."
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.05.2009 Seite 10