Samstag, 11. Juli 2009

Vom „Bösen“ spricht man nicht

Was die Kirchen zum Amoklauf zu sagen haben / Von Thomas Jansen

Frankfurt, 20. März. Warum konnte es zu einer Schreckenstat wie dem Amoklauf von Winnenden kommen? Wer auf diese Frage in den vergangenen Tagen eine Antwort suchte, konnte sich über einen Mangel an psychologischen, soziologischen und pädagogischen Beiträgen nicht beklagen. Und auch an Vorschlägen, wie solchen Taten künftig vorzubeugen sei, fehlte es nicht: strengere Waffengesetze, mehr Schulpsychologen und ein Verbot von gewaltverherrlichenden Computerspielen. Doch wer sich fragte, ob in dem Amoklauf vielleicht nicht doch auch Grundsätzlicheres zum Vorschein gekommen sein könnte als eine laxe Handhabung der Waffengesetze oder eine Überforderung des Täters durch seine Eltern, etwa das, was Theologen das Böse oder die Sünde nennen, sah sich weitgehend alleingelassen.

Es war der baden-württembergische Kultusminister Helmut Rau, der als erster Politiker in einer größeren Öffentlichkeit den Amoklauf als Manifestation des Bösen bezeichnete. Das Böse sei ausgebrochen, und es sei vorher nicht zu erkennen gewesen, sagte Rau einen Tag nach dem Amoklauf im Zweiten Deutschen Fernsehen. Ein Patentrezept, so lautete seine Schlussfolgerung, mit dessen Hilfe sich Taten wie die des Tim K. verhindern ließen, gebe es nicht. Dass der praktizierende Protestant Rau, von Haus aus nicht etwa Theologe, sondern Anglist und Politologe, kaum Nachahmer unter seinesgleichen fand, lässt sich noch leicht erklären: Das Eingeständnis der eigenen Ohnmacht ist für Politiker, die vom Wähler normalerweise an ihren Taten oder zumindest an ihren Forderungen gemessen werden, meist mit einem Risiko behaftet.

Verwunderlicher ist es schon, dass auch Kirchen und Theologen in ihren Äußerungen den Begriff des Bösen meist übergingen oder allenfalls am Rande erwähnten. In den Stellungnahmen des EKD-Ratsvorsitzenden Bischof Huber und des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Zollitsch, findet sich kein Hinweis darauf, dass es in beiden Kirchen durchaus so etwas wie eine Lehre vom Bösen gibt. Man wolle Schmerz und Fassungslosigkeit "Raum geben" sagte Huber. Die Tragödie übersteige die "menschliche Vorstellungskraft", sagte Zollitsch. Der Landesbischof der Evangelischen Kirche in Württemberg, July, erinnerte angesichts des Amoklaufs in einem Beitrag für die Wochenzeitung "Rheinischer Merkur" an die christliche Rede von Schuld und Vergebung und zitiert die entsprechende Bitte aus dem Vaterunser. Eine andere Bitte aus diesem wichtigsten Gebet der Christenheit, "und erlöse uns von dem Bösen", erwähnt er hingegen nicht. Auch im ökumenischen Gedenkgottesdienst am Mittwoch vergangener Woche in Winnenden, an dem unter anderen der Bischof von Rottenburg-Stuttgart, Fürst, teilnahm, tauchte der Begriff des Bösen nur einmal kurz auf, von der Sünde war, bezogen auf den Amoklauf, überhaupt nicht die Rede. Im "Wort zum Sonntag", dem kirchlichen Forum mit der größten Breitenwirkung, sprach eine evangelische Pfarrerin darüber, wie sie mit ihren Konfirmanden die Passionsgeschichte gelesen hat, und schlägt anschließend einen Bogen zum Amoklauf. Auch sie kommt ohne "das Böse" und "die Sünde" aus.

Schließlich gab es auch kirchliche Stellungnahmen, die sich nahtlos in die politische Debatte einfügten. Die hannoversche Bischöfin Käßmann sprach sich in einem Gespräch mit der Zeitung "Neue Presse" dafür aus, dass Schulen mehr Sozialpädagogen beschäftigen und die Klassenstärken verringert werden sollten.

Warum machten Vertreter beider Kirchen nach dem Amoklauf von Winnenden einen solch großen Bogen um den Begriff des Bösen? Weil er für die christliche Botschaft eben doch nicht entscheidend ist? Weil sie den richtigen Zeitpunkt noch nicht für gekommen hielten oder weil sie fürchteten, das Vokabular könne die Menschen abschrecken? Der fehlende Anlass kann es jedenfalls nicht gewesen sein.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21.03.2009 Seite 6


 

Im Gespräch: Joachim Wanke, Bischof von Erfurt "Das Geheimnis des Bösen ist unerklärbar"

Bischof Wanke, woher kommt das Böse in der Welt?

Die Frage nach der Herkunft des Bösen angesichts eines guten Gottes bleibt für den Menschen ein dunkles Rätsel. Manche Begleitumstände einer bösen Tat, wie jetzt wieder der Amoklauf in Winnenden, mögen sich begreiflich machen lassen. Doch vor dem harten Kern der Fragen Was ist das Böse? Woher kommt es? bleiben wir ratlos.

Gott ist also gut, der Mensch böse?

Wenn wir Christen ein dualistisches Weltbild ablehnen, in dem das Böse gleich ursprünglich wäre wie das Gute, aber auch ein Weltbild, in dem das Böse seinen Ursprung in Gott selbst hat, dann bleibt nur der Weg, eine auf Freiheit und Entscheidung ruhende Verneinung des Guten als Quellgrund des Bösen anzusehen. Dieser "Mangel" an Bejahung des Guten kann unterschiedliche Gestalt annehmen, nicht nur eine individuelle, sondern auch eine strukturelle, die man mit dem Stichwort "Verblendungszusammenhang" kennzeichnen könnte.

Gibt es nur "das Böse" oder auch "den Bösen"?

Wenn eine Freiheitstat am Anfang des Bösen steht, wird verständlich, dass im christlichen Glauben "das Böse" immer auch eine personale Dimension hat. Doch ist die Rede von der Personalität des Bösen, etwa als Satan oder Teufel, nicht mit menschlichem Person-Sein gleichzusetzen. Wo es nur noch reine Verneinung gibt, kann es an sich keine Personalität, keine Kommunikation geben. Für mich ist das Böse so etwas wie ein "schwarzes Loch", das alles in sich verschlingt, aber keinen Lichtstrahl aus sich herauslässt.

In allen europäischen Sprachen ist das Wort für "Teufel" aus dem griechisch-biblischen Wort "diábolos" abgeleitet. Gäbe es ohne das Christentum den Teufel nicht?

Religionsgeschichtlich gesehen, ist der Teufel kein Eigengut des Christentums. Auch das, was mit dem Wort Sünde bezeichnet wird, ist anderen Religionen durchaus bekannt. Für das Christentum eigentümlich ist die Einordnung der mit Teufel und Sünde bezeichneten Wirklichkeiten in das Ganze der christlichen Welt- und Heilssicht.

Das "Vater unser", das von Jesus überlieferte Grundgebet der Christenheit, endet mit der Bitte um Erlösung "von dem Bösen". Warum?

Weil Jesus – wie der Evangelist Johannes bemerkte – "wusste, was im Menschen ist". In jedem Menschen, auch dem heiligsten, steckt eine Potenz der Verneinung, eine Möglichkeit, sich dem Leben zu verweigern.

Was ist mit der Rede von der "Erbsünde" gemeint? Ist das Böse immer schon als Möglichkeit im Menschen, oder kommt es von außen in ihn hinein?

Die Rede von der Erbsünde, als theologisches Denkmodell besonders von Augustinus entwickelt, will die grundsätzliche Erlösungsbedürftigkeit jedes Menschen festhalten. Übrigens hat Erbsünde nichts mit Geburt und Fortpflanzung zu tun. Die Heilige Schrift will mit ihren Erzählungen vom Paradies aussagen, dass der Mensch von seinem Schöpfer ohne Sündenanfälligkeit gedacht ist. Durch eine Anfangsentscheidung des freien Menschen, wie immer diese auch zu denken ist, sind alle Menschen in "Mithaftung" genommen. Dieses Phänomen der "Einschließung unter die Sünde" (wie Paulus das nennt) ist uns nicht fremd, denken wir nur an politische und sonstige Mithaftung für Verhältnisse, die ich persönlich nicht verursacht habe, die ich aber mitzutragen habe.

Im Johannes-Evangelium heißt es von dem Teufel, er sei der "Herrscher dieser Welt". Was ist damit gemeint?

In der Sprache des Johannes ist "Welt" die Chiffre aller Gottfeindlichkeit. Jesus entmachtet durch sein Kommen jede gottwidrige Herrschaft. Die Bibel rechnet mit der Herrschaft Satans, weiß ihn aber durch Jesus besiegt, so wie ein feindliches Heer besiegt ist, aber man durchaus noch im Nachhutgefecht mit dem schon besiegten Gegner fallen kann.

Während der Feier der Taufe und der Feier der Osternacht werden die Gläubigen gefragt, ob sie "dem Satan widersagen". Warum?

Weil die Unterstellung unter das schon hier und jetzt in jedem Glaubenden angebrochene Reich Gottes einer Entscheidung bedarf. Der Ruf in die Nachfolge Christi spricht die Freiheit des Menschen an, die von Gottes zuvorkommender Gnade umfangen wird. Darum gehört von Anfang an das Taufgelöbnis mit der Absage an den Satan zum Taufritus. In der Feier der Osternacht wird dieses Gelöbnis gleichsam aktualisiert.

Die Auferweckung Jesu von den Toten deutet die Kirche als Sieg über Sünde und Tod. Die Geschichte der Menschheit spricht eine andere Sprache.

Hier mag der Vergleich mit dem helfen, was 1989/90 politisch im Osten passiert ist. Die Bedingungen für ein freies, selbstbestimmtes Leben waren nach der friedlichen Revolution gegeben, aber nicht alle haben die damit gegebenen Möglichkeiten ergriffen. Ostern ist für mich so etwas wie ein "Herrschaftswechsel". Natürlich hinkt der Vergleich, weil er innerhalb menschlicher Geschichte bleibt. Diese ist noch nicht in Gottes Welt endgültig eingemündet, wie manche Ideologien, auch manche Terroristen uns glauben machen wollen. Trotz der bitteren Erfahrungen aus Geschichte und Gegenwart gilt für den Christen: Gott hat im Auferstandenen einen schöpferischen Neuanfang gesetzt: Das Alte ist vergangen – siehe, Neues ist geworden. Das kann freilich nur Gott. Aus dieser Perspektive vermag man auch in der Dunkelheit österlich zu leben.

Im Neuen Testament ist weitaus häufiger als im Alten Testament von "Dämonen" die Rede und von Menschen, die von unreinen Geistern "besessen" sind. Ist das eine zeitbedingte, einem längst überholten Weltbild verpflichtete Rede oder eine heute noch gültige Einsicht in die Befindlichkeit des Menschen?

Die Bibel ist kein Lehrbuch der Psychologie, und natürlich ist ihre Sprache von zeitbedingten Vorstellungen geprägt. Auch wir haben heute "Vorurteile", die anzufragen sind, etwa den grassierenden Unschuldswahn. Dass freilich ein Mensch "besetzt" sein kann, ist für mich außerhalb jedes Zweifels. Man muss jedoch aufpassen: Die Rede von Besessenheit streift schnell die Grenze zum Aberglauben. Wir wissen um die furchtbaren Folgen etwa des Hexenwahns.

Kardinal Ratzinger hat 1983 vor einer "rationalistisch verflachten Theologie des Teufels und der Welt der Dämonen" gewarnt, sollten beide nur noch als Chiffre für die inneren Gefährdungen des Menschen dienen. Ist diese Warnung noch immer aktuell?

Ohne Zweifel, wie mein Hinweis auf den "Unschuldswahn" zeigt. Der Mensch ist nicht nur durch persönliche Schuld gefährdet, sondern auch durch "Strukturen des Bösen". Was das sein könnte, erahnt man als aufmerksamer Betrachter des Zeitgeschehens durchaus. Die Rebellion gegen Gottes Schöpfungsordnung ist alles andere als ein Kavaliersdelikt. Sie gibt dem Bösen gleichsam ein Gesicht. Freilich geht das Böse nicht völlig in Einzelpersonen und deren Bosheit auf. Für mich ist die Redeweise vom Teufel ein bleibendes Festhalten am Geheimnis des Bösen, das letztlich unerklärbar ist. Aber noch einmal: Wer verloren in einer Eisspalte liegt, sinnt nicht über deren Ursprung nach. Er müht sich vielmehr, mit allen Kräften die rettende Hand zu ergreifen, die sich ihm entgegenstreckt.

In welchen Gestalten begegnet Ihnen das Böse?

Vor allem im eigenen Leben, in dem sich immer wieder die Täuschung breitmacht, selbst Gott sein zu können. Es begegnet in Taten der Inhumanität, die menschliche Würde, die das Leben selbst zerstören. Es begegnet in Verhältnissen, in denen Freiheit unterbunden, die Wahrheit unterdrückt und jede Hoffnung auf Veränderung zum Guten geraubt wird. Freilich ist zu bedenken: Dort, wo das Licht stärker wird, werden auch die Schatten tiefer. Das Böse ist ein Epiphänomen. Es begleitet das Gute, das es gottlob nie verschlingen kann.

Wie kann man diese Wirklichkeit überwinden?

Durch die Demut, von jedem ideologischen Experiment zu lassen, die Welt mit Gewalt gut zu machen. Bischof Franz Kamphaus hat das Wort geprägt: Religion ist dazu da, Gott zu verehren, nicht Gott zu spielen. Die Anerkennung Gottes und das Vertrauen auf ihn als Quelle alles Guten ist eine Hilfe, an der Welt, so wie sie ist, nicht zu verzweifeln, sondern im Gegenteil: immer wieder neu Biotope des Guten zu bauen.


 

      Das Gespräch mit dem Bischof von Erfurt führte Daniel Deckers.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21.03.2009 Seite 6