War die Aufhebung der Exkommunikation der Priesterbruderschaft St. Pius X. ein Amtsfehler oder nicht doch ein Beitrag zum Kirchenfrieden? Von Stephan Otto Horn
Peter Hünermann, Gründungspräsident der Europäischen Gesellschaft für Katholische Theologie, hat in der "Herder Korrespondenz" vom März 2009 den "Versuch einer Schichtenanalyse der aktuellen Krise" vorgelegt. Er beschreibt die Hintergründe der Lefebvre-Bewegung und der Haltung Roms ihr gegenüber. Vor allem prüft er die Entscheidung von Papst Benedikt, die Exkommunikation der vier Bischöfe der Pius-Bruderschaft aufzuheben, und kommt zum Schluss, der Papst habe eine gravierende Fehlentscheidung getroffen. Sie zeige, dass er nicht mehr voll für die Geltung des Zweiten Vatikanischen Konzils einstehe. So glaubt er in Benedikt XVI. selbst den entscheidenden Grund für die derzeitige Krise in der Kirche gefunden zu haben.
Als Präfekt der Glaubenskongregation bemühte sich Kardinal Ratzinger früh um Erzbischof Lefebvre und dessen Bewegung, nachdem dieser seine ursprüngliche Zustimmung zu einzelnen Konzilsdokumenten zurückgezogen hatte. Um ein Schisma zu verhindern, galt es, rasch und entschieden zu handeln. So trat Ratzinger in Verhandlungen mit Lefebvre ein.
1988, das Jahr des scheinbaren Erfolgs in den Bemühungen um Einigung, wurde schließlich doch zum Datum des Scheiterns der Gespräche. Erzbischof Lefebvre widerrief seine Unterschrift unter einen mit Kardinal Ratzinger vereinbarten Text und begann, mit der Weihe von vier Bischöfen seinen eigenen, zum Schisma tendierenden Weg zu gehen. Er tat dies, obwohl er wissen musste, dass er sich und den Beteiligten dadurch nach dem Kirchenrecht automatisch die Beugestrafe der Exkommunikation zuzog. Diese wurde durch ein römisches Dekret bestätigt. Nach gut zwanzig Jahren, am 21. Januar 2009, mitten in der Weltgebetsoktav um die Einheit der Christen, hob Papst Benedikt diese Strafe auf.
Er hob damit eine Strafe auf, die auf Umkehr zielt und erlassen werden muss, wenn sie ihr Ziel erreicht hat, nämlich den Schuldigen zur Aufgabe seiner Widersetzlichkeit zu führen. Die Exkommunikation ist eine außerordentlich schwere Beugestrafe, da sie das Leben eines Christen sehr beeinträchtigt. Er darf keine Dienste mehr bei einer gottesdienstlichen Feier verrichten, keine Sakramente empfangen oder spenden und keine kirchlichen Ämter und Dienste mehr ausüben. Hünermann sieht in der Aufhebung der Exkommunikation für jene, die an der illegitimen Weihe im Jahr 1988 beteiligt waren, jedoch darüber hinaus die Gewährung der Kirchengemeinschaft und somit die Aufhebung des Schismas.
Dies bedeutet einen schwerwiegenden Irrtum. Wie der Kirchenrechtler Winfried Aymans erläutert, bedeutet Exkommunikation "eine umfassende Rechtsminderung des Betreffenden hinsichtlich seiner Teilnahme am kirchlichen Leben, namentlich am Empfang der Sakramente. Exkommunikation ist also nicht Ausschluss aus der Kirche, sondern Ausschluss vom sakramentalen Leben in der Kirche." Dementsprechend ist ihre Aufhebung auch nicht Wiederaufnahme in die Kirchengemeinschaft. Die Bischöfe, deren Exkommunikation aufgehoben wurde, gehören auch gemäß dem Dekret von Papst Benedikt dadurch nicht in voller Weise der Kirche an. Ihre volle Communio wird erst für die Zukunft erhofft. So heißt es im Dekret: "Es ist zu hoffen, dass diesem Schritt (der Aufhebung der Exkommunikation) die baldmögliche Verwirklichung der vollen Gemeinschaft von Seiten der gesamten Bruderschaft St. Pius X. mit der Kirche folgt."
Nach Can. 1347 – § 2 des Codex Iuris Canonici steht die Aufhebung einer Beugestrafe am Ende eines Weges der Umkehr, sie gehört zum Augenblick, in dem die Widersetzlichkeit (contumacia) aufgegeben ist, und bedeutet dann die Erfüllung eines Rechtsanspruchs. Hünermann vertritt nun die Auffassung, bei den vier Bischöfen der Pius-Bruderschaft liege keine Reue vor, und so sei der Akt der Aufhebung der Exkommunikation ungültig. Aber trifft dies wirklich zu? Die Aufhebung der Exkommunikation bedeutet gewiss einen ungewöhnlichen und mutigen Schritt von Papst Benedikt. Er sieht eine außerordentliche Situation vor sich: die Möglichkeit und Hoffnung, einen Weg zur Umkehr, der schon beschritten wurde, aber bei weitem noch nicht zu Ende gegangen ist, durch eine Aufhebung der Exkommunikation als Akt der Barmherzigkeit (also nicht aus einem Rechtsanspruch heraus) in entscheidender Weise fördern zu können.
In seinem Dekret stützt er sich für seine Entscheidung darauf, dass sich die betroffenen vier Bischöfe nach dem Schreiben vom 15. Dezember 2008 verpflichtet haben, "keine Mühe zu scheuen, um die Gespräche mit dem Heiligen Stuhl in den noch offenen Fragen zu vertiefen und dadurch zu einer vollständigen und befriedigenden Lösung des entstandenen Problems zu gelangen". Zugleich verweist er auf ihre im gleichen Schreiben betonte Anerkennung des Petrusprimats. Bereitschaft zum Dialog, Bejahung der päpstlichen Autorität: das konnte Papst Benedikt zu Recht als Zeichen für eine gewisse Bereitschaft betrachten, die Widersetzlichkeit aufzugeben. Die volle und endgültige Umkehr konnte er sich am ehesten von den Gesprächen über ein authentisches Verständnis des Vatikanum II und der daraus am Ende resultierenden Bejahung des Konzils erhoffen. Benedikt XVI. ging mit seiner Entscheidung über den Wortlaut des bestehenden Gesetzes hinaus. Aber liegt sie nicht doch in der Linie des tieferen Sinnes des Gesetzes und des Kirchenrechts? Handelte der Papst nicht in der vom Evangelium vorgezeichneten Haltung des Hirten, der die neunundneunzig Schafe zurücklässt, um das eine verlorene zu suchen?
Zu den offenen Fragen gehören vor allem die Vorbehalte der Bruderschaft gegenüber bestimmten Dekreten des Zweiten Vatikanischen Konzils. Bischof Fellay hatte sich mit den anderen drei Bischöfen der Pius-Bruderschaft zu allen Konzilien bis zum Ersten Vatikanum bekannt, dann aber offen geschrieben: "Aber wir kommen nicht umhin, in Bezug auf das Zweite Vatikanum unsere Vorbehalte zum Ausdruck bringen." Mit diesen Vorbehalten ist eine außerordentliche Entschiedenheit verbunden, nicht nur das Credo zu bekennen, sondern auch den Antimodernisteneid von Pius X. Hünermann liest daraus ab, dass "hier in keiner Weise eine Veränderung" stattgefunden habe. Die Schwierigkeiten des beabsichtigten Dialogs treten hier unübersehbar hervor. Ob er zu einem guten Ende geführt werden kann, ist nicht vorauszusehen. Aber konnte Papst Benedikt die Gesprächsbereitschaft ignorieren?
Wie wir gesehen haben, nimmt Peter Hünermann an, die Aufhebung der Exkommunikation bedeute die Beendigung des Schismas der Lefebvre-Bewegung und die Wiederaufnahme der vier exkommunizierten Bischöfe in die Kirchengemeinschaft. Da der Papst diesen Akt vollzog, ohne die Zustimmung zu jenen Teilen des Zweiten Vatikanischen Konzils zu verlangen, die von ihnen abgelehnt werden, folgert Hünermann, dass der Papst das Konzil nicht mehr voll bejahe, sondern von der vollen Annahme des Vatikanum II dispensiere. Das bedeute einen gravierenden Amtsfehler, der sich gegen Glaube und Sitte richte, "deren Wahrung dem Nachfolger Petri in besonderer Weise für die universale Kirche anvertraut ist".
In Wirklichkeit bedeutet die Aufhebung der Exkommunikation nicht die Wiederaufnahme in die Kirchengemeinschaft. Der Papst dispensiert damit auch nicht von der vollen Annahme des Zweiten Vatikanischen Konzils, sondern eröffnet mit diesem Akt den Weg für ein Gespräch mit der Pius-Bruderschaft über die offenen Fragen und damit vor allem über jene Teile des Konzils, die für sie strittig sind, um eine Versöhnung und die künftige Gewährung der vollen Gemeinschaft vorzubereiten. So kann Hünermanns Auffassung zurückgewiesen werden, der Papst habe "durch seine Amtsführung das Vertrauen der Gläubigen in den Dienst des Petrus als Zeugen von Glaube und Sitte zutiefst erschüttert" und er bringe "durch seine Entscheidung die Kirche in Gefahr, Bischöfe und Priester zu haben, die sich nicht zu Glauben und Sitte der katholischen Kirche bekennen". Vielmehr hat Papst Benedikt mit seinem Akt gegenüber einer nicht mehr so kleinen Gemeinschaft in voller Treue zum Konzil ein mutiges Zeichen für den ökumenischen Dialog gegeben. Diese Absicht lässt er am Schluss des Dekrets zum Ausdruck bringen. Das "Geschenk des Friedens soll – am Ende des weihnachtlichen Festkreises – auch ein Zeichen des Papstes sein, um die Einheit in der Liebe der Universalkirche zu fördern und das Ärgernis der Spaltung zu überwinden".
Papst Benedikt XVI. hatte in seiner "Neujahrsansprache an das Kardinalskollegium und die Mitglieder der Römischen Kurie beim Weihnachtsempfang" vom 22. Dezember 2005 das Thema der Deutung des Zweiten Vatikanischen Konzils behandelt. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, seine Stellung zum Zweiten Vatikanum in den Blick zu nehmen und zu sehen, wie er eine Linie vorgibt, die gerade für die Lösung der Probleme, welche die Pius-Bruderschaft umtreibt, von grundlegender Bedeutung ist.
Der Papst sieht in seiner Ansprache die Verwirrungen der nachkonziliaren Zeit und die nur langsam sich einstellenden guten Früchte des Konzils als Ergebnis zweier einander entgegengesetzter Grundkonzeptionen von Auslegung. Die eine nennt er "Hermeneutik der Diskontinuität und des Bruches". Er weist dabei darauf hin, dass eine solche Hermeneutik "das Risiko eines Bruches von vorkonziliarer und nachkonziliarer Kirche" in sich trage, und zeigt, dass ihre Vertreter, indem sie über die Konzilstexte hinausgehen und nicht ihnen, sondern ihrem Geist folgen wollen, keine klare Linie finden können, sondern "Raum für Spekulationen" schaffen. Die zweite Hermeneutik nennt er nicht, wie man es erwarten möchte, "Hermeneutik der Kontinuität", sondern "Hermeneutik der Reform", betont also ihre dynamische Dimension. Er leitet sie aus der Konzeption von Johannes XXIII. für das Zweite Vatikanische Konzil ab. Dabei verweist er auch auf ein Wort des Papstes: "Es ist notwendig, die unumstößliche und unveränderliche Lehre, die treu geachtet werden muss, zu vertiefen und sie so zu formulieren, dass sie den Erfordernissen unserer Zeit entspricht." Das heißt für Benedikt XVI., die Wahrheit in ihrem Sinn und ihrer Tragweite zu bewahren, sie aber zugleich neu zu verstehen und zu leben.
Peter Hünermann begrüßt die Überzeugung des Papstes, dass die Kirche "sich, vom Glauben geleitet, in der modernen Welt neu positionieren musste". Zugleich beklagt er aber, dass dieser bei der Darstellung der Diskontinuität "zwar auf die ‚Progressisten'", in keiner Weise aber auf die Traditionalisten anspiele. Es zeige sich damit, "dass Benedikt XVI. das Konzil bejaht, die Gefährdung der Rezeption des Konzils aber völlig einseitig sieht". Er erkühnt sich sogar zu behaupten: "Der Papst sieht die Akzeptanzkrise der Kirche in der modernen Welt und ist der Überzeugung, dass in der Rückgewinnung ganz traditioneller Kreise die Zukunft der Kirche liegt." Bedeutet das nicht, dass nach seiner Auffassung Benedikt XVI. einen scharfen Kurswechsel für die Kirche der nachkonziliaren Epoche im Sinn hat?
Hünermann bietet für seinen Verdacht freilich nur einen äußerst schwachen Beleg. Er zeigt sich irritiert, dass der Papst, wie soeben angedeutet, bei der Kritik der Hermeneutik der Diskontinuität nicht auch auf Traditionalisten anspiele. Aber er übersieht, dass der Papst sich nicht damit begnügt, die beiden Hermeneutiken der Diskontinuität und des Bruches auf der einen und der Reform auf der anderen Seite einander gegenüberzustellen. Überraschenderweise denkt Benedikt XVI. nämlich noch ausgiebig über die Möglichkeit einer Form der Hermeneutik der Diskontinuität nach, die nicht zugleich eine Hermeneutik des Bruches ist. Hier findet sich die von Hünermann vermisste sehr ausführliche Auseinandersetzung mit traditionalistischen Positionen.
Papst Benedikt nimmt hier eine Anregung von Papst Paul VI. aus dessen Rede zum Abschluss des Konzils auf. Er bezieht sich dabei nicht auf die großen dogmatischen Texte, sondern auf jene, in denen die Konzilsväter das Verhältnis von Kirche und Moderne neu bestimmen mussten. Hier führten die ganz unterschiedlichen geschichtlichen Situationen zu einem "Zusammenspiel von Kontinuität und Diskontinuität auf verschiedenen Ebenen", als "Entwicklungsprozess des Neuen unter Bewahrung der Kontinuität". Es würde zu weit führen, die Erwägungen des Papstes im Detail nachzuzeichnen. Jedenfalls berührt er die Themen Kirche und moderner Staat, religiöse Toleranz, Religionsfreiheit, Gewissens- und Glaubensfreiheit; Themen also, die einen ersten Platz im Gespräch mit der von Lefebvre herkommenden Bewegung einnehmen werden. Der Papst kommt zum Schluss: "Das Zweite Vatikanische Konzil hat durch die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen dem Glauben der Kirche und bestimmten Grundelementen des modernen Denkens einige in der Vergangenheit gefällte Entscheidungen neu überdacht oder auch korrigiert, aber trotz dieser scheinbaren Diskontinuität hat sie ihre wahre Natur und ihre Identität bewahrt und vertieft. Die Kirche war und ist vor und nach dem Konzil dieselbe."
Wir sehen, wie es dem Papst gelingt, die Diskontinuitäten in einer tieferen Kontinuität aufgehoben zu sehen. So gibt er die Linie vor, in der der Heilige Stuhl die Gespräche mit der Pius-Bruderschaft führen kann. Ihm liegt daran, sie argumentativ zur Anerkennung des Zweiten Vatikanischen Konzils zu bewegen. Im Ganzen zeigt sich, dass Papst Benedikt die Hermeneutik des Konzils in der Linie fortführt, die Papst Johannes XXIII. und Paul VI. vorgezeichnet haben. Er hält den Kurs des Konzils. Für die Auslegung ist ihm maßgebend im Bereich der dogmatisch geprägten Texte eine Hermeneutik der Kontinuität und der Reform, im Bereich jener Texte, die sich auf die Fragen der Begegnung von Kirche und moderner Welt beziehen, eine Hermeneutik tieferer Kontinuität inmitten von Diskontinuität.
Peter Hünermann zeigt sich der Richtigkeit seiner Analysen so sicher, dass er gegen Ende seiner Ausführungen in aller Schärfe zu sagen wagt, es sei "unabdingbar, dass die (vom Papst) getroffenen Entscheidungen nichtig sind". Noch einmal erhebt er die gravierende Anklage, das Handeln von Papst Benedikt stelle einen skandalösen Amtsfehler dar. Er mildert sie dann aber doch beträchtlich ab, indem er nun hinzufügt: "meines Erachtens – und ich betone: salvo meliori iudicio (vorbehaltlich eines besseren Urteils)". Es wird Peter Hünermann ehren, wenn er die Suche nach einem besseren Urteil von neuem aufnimmt.
Stephan Otto Horn ist emeritierter Professor für Fundamentaltheologie der Universität Passau.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.04.2009 Seite N4