Samstag, 11. Juli 2009

Im Windschatten von Madame George


 

Schallplatten und Phono Ist das Jazz? Schon bei "Astral Weeks" wusste man das nicht. Jetzt hat Van Morrison seine legendäre Platte von 1968, mit der er einst die Grenzen des Blues aufhob, neu und live eingespielt.

Alles Wollen entspringt aus Leiden – oder umgekehrt. Und nur eine Handvoll Auserwählter beherrscht die Kunst, dem Ausdruck zu verleihen, allerdings auch nur für eine kurze Zeit, denn selbst deren Körper verlieren bald jene Exaltation gewordene Not, aus dem Geiste höllischer Qualen künstliche Paradiese erschaffen zu müssen. Wohl in diesem Sinne hat Van Morrison davon gesprochen, dass die Stücke von seiner Platte "Astral Weeks" (1968) eine Art "Licht am Ende des Tunnels" für ihn seien. Damit ist die heilende Kraft der Musik angesprochen, die er seit "Into the Music" (1979) auf zunehmend ritualisierte Weise beschwört, wobei sich zuweilen der Eindruck aufdrängte, das poetologische Moment seines Werks nehme in dem Maße überhand, in dem die reale Schöpferkraft nachlässt.

Sei's drum: Auf "Astral Weeks" hat er sich vermittels der Musik allemal zu einer irrwitzigen Leib-Seele-Einheit zusammengerissen, die sich in Drei-Akkord-Oden im 6/4-Takt erlöst. Drei Sitzungen genügten, mit wildfremden Jazzern, die ob der genialischen Spannungsbögen irritiert durch die Stücke mäandern, strolchen und dümpeln. Die Befürchtung, diese vollkommene Unvollkommenheit, die "Astral Weeks" mit seinen Vibraphon-Wetterleuchten, Geigen-Schauern und Gitarren-Rinnsalen zu einer Art Naturerscheinung der dritten Art macht, im Bügelfaltenhosen-Live-Sound vorgesetzt zu bekommen, war groß, als "Astral Weeks Live at the Hollywood Bowl" angekündigt wurde. Hatte die zwölfköpfige Band etwa auch all die liebgewonnenen Spielfehler einstudiert? Würde eine solche Live-Fassung überhaupt anders denn als bloßer Abglanz des Originals wirken können?

Das Wiederhören des Originals erregte zudem einen ganz anderen Zweifel: Wenn es etwas gibt, worum es auf "Astral Weeks" im Kern geht, dann darum, ein geradezu übersinnlich-animalisches Bewusstsein der eigenen Jugend in die Welt herauszubrüllen, zu flüstern und zu grunzen. "I'm dynamite", heißt es in "Sweet Thing", das die Wendung "I shall never grow so old again" zum Mantra hat. "The Way Young Lovers Do" sagt im Titel schon alles und hat einen Refrain, an dem man stimmlich und emotional nur scheitern kann. Wie klug mag es da sein, mit dreiundsechzig Jahren nochmals das zu suchen, was sich ein Dreiundzwanzigjähriger im Raubtiersprung erobern konnte: ewige Jugend, getrunken an kristallklaren Gebirgsbächen, die "the love that loves to love" murmeln?

"Live at the Hollywood Bowl" ist dennoch eine wunderbare Aufnahme geworden, die sich mit deutlich transparenteren Arrangements am Vorbild orientiert, ohne es sklavisch zu imitieren. Die Sequenz der Stücke hat eine Umstellung erfahren. "Madame George" steht nun am Ende, "Listen to the Lion" von der Platte "St. Dominic's Preview" (1972) und "Common One" aus dem gleichnamigen Album (1980) fungieren als Epilog. Das sind wohl Fingerzeige, denn im ersten Stück geht es um die Unmöglichkeit, zum Wesenskern der Liebe vorzustoßen, ohne Schmerz als integralen Teil unseres Selbst zu begreifen. Im zweiten um das Paradies.

Betrachtet man die Gesangsperformance im Detail, so hat Van Morrisons Stimme erwartungsgemäß an keiner Stelle die rhythmische Verve und delirierende Luzidität von damals. Sang er früher in die Nasenwurzel, was seiner Stimme jenen leicht metallisch-angeriebenen Parmesanreiben-Sound verlieh, so scheint er sie heute fast zu trinken – bere la voce, wie man es in manchen Schulen des Belcanto nennt und lehrt. Dadurch bewegt sich sein nach wie vor voluminöses Organ in einem viel engeren und dunkleren Ausdrucksband, das die bluesigen Wurzeln der Stücke stärker betont.

Tritt man etwas zurück und lässt das Album als Ganzes auf sich wirken, dann überrascht der kontemplative Fluss, der sich dort einstellt, wo einst ewig die Landstraße ans Meer lockte. Doch der Schein trügt: Es ist ja gar nicht "Astral Weeks", sondern "Live at the Hollywood Bowl", was wir hören. Der Mann, der da singt, könnte sein eigener Großvater sein, und die Oden an die Unzerstörbarkeit der Jugend sind nun dem Gedanken geweiht, dass "Leben" heißt, das Sterben zu lernen. Ein metaphysischer Widerspruch ist das nicht. Aber bemerkenswert ist es schon, dass man beides mit denselben Liedern und Worten sagen kann – "Dry your eyes and say goodbye to Madame Joy".      Alessandro Topa


 

Van Morrison, Astral Weeks: Live at the Hollywood Bowl. Listen to the Lion Records/Blue Note 6326713 (EMI)

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 03.03.2009 Seite 32