Ohne die Wende wäre das Leben eines fünfzehnjährigen Schülers aus einem Dorf bei Leipzig ganz anders verlaufen. Die Frage ist, wie. Von Marcus Jauer
Am Abend, an dem die Mauer fiel, hatte ich Tanzstunde. Wir standen vor dem Haus der Pioniere, Jungs bei den Jungs, Mädchen bei den Mädchen, und warteten. Im Sommer war Dirty Dancing im Kino gelaufen. Der Film war bei unseren Mädchen sehr gut angekommen, und so hatten sie unseren Tanzlehrer überredet, uns neben Walzer auch Mambo beizubringen. Er war ein älterer Herr, der sich die Haare quer über die Stirn kämmte, aber er hatte Geduld. Ich trug an diesem Abend ein grellbuntes Hemd, das mir zu Hause noch passend erschienen war, für das mir aber jetzt, wo wir auf der Straße standen, langsam der Mut abhanden kam. Ich weiß noch, wie ich unter meinem Anorak zu schwitzen begann. Dann kam Atze und sagte, die Mauer sei offen.
Er hieß eigentlich Thomas, aber er achtete darauf, dass jeder ihn Atze nannte. Er hatte sich den Spitznamen wie eine Eigenschaft zugelegt. Der schräge Atze. Manchmal fing er mitten im Unterricht an zu singen, und wenn ihn die Lehrerin ermahnte, sang er weiter. Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder. Als ich ihn vor zehn Jahren zum letzten Mal gesprochen habe, sagte er, dass er fort wolle aus der kleinen Stadt, in der unsere Schule stand. Aber solange er sich um den Hund kümmern müsse, den sein Vater ihm hinterlassen habe, ginge das nicht. Er kam nicht mehr weg. Dabei war er als Erster losgefahren.
Er raste mit seinem Moped auf uns zu, riss sich den Helm vom Kopf. Es sei wahr, sagte er, er habe es eben im Fernsehen gehört. Die Mauer sei auf. Er wollte sofort los, und wir sollten mit. Aber wir zögerten. Wir standen um das Moped herum und überlegten, wie weit es überhaupt ist in den Westen und was man macht, wenn man da ist. Ich musste denken, wie sauer das Mädchen, mit dem ich tanzte, jedes Mal war, wenn ich nur die Schritte für den Mambo nicht beherrschte. Wäre ich jetzt in den Westen gefahren, ich hätte gar nicht wiederkommen müssen. Also ist Atze allein aufgebrochen an dem Abend, mit seinem Moped, so weit er kam, auf der Autobahn. Alle anderen sind zur Tanzstunde gegangen. Dirty Dancing im Pionierhaus. Das war mein Mauerfall.
Ich war damals fünfzehn Jahre alt. Ich bin jetzt vierunddreißig. Inzwischen lebe ich länger ohne Mauer als mit. Ich habe in München studiert, ich arbeite bei einer westdeutschen Zeitung, ich kann mir aussuchen, worüber ich schreibe. Meine besten Freunde kommen aus dem Westen, meine liebsten Bücher, die Musik, die ich höre, die Filme, die ich sehe. Den schönsten Sonnenaufgang meines Lebens habe ich in Nepal erlebt. Es war vier Uhr morgens, alles um mich war in blaues Grau gehüllt. Ich stand vor einer Hütte und schaute auf einen achttausend Meter hohen Berg, an dessen Spitze sich ein hellroter Streif zeigte. Er kam von der Sonne, die hinter meinem Rücken aufging. Ich weiß natürlich, dass ohne diesen Sonnenaufgang eben ein anderer der schönste meines Lebens gewesen wäre. Ich bin aber froh, dass es dieser war.
Im Herbst ist es zwanzig Jahre her, dass das Land, in dem ich geboren wurde, sich aufzulösen begann. Manchmal denke ich, dass alles, was mit ihm zu tun hatte, aus meinem Leben verschwunden sein müsste. Dann sehe ich alte Fotos, und ich merke, dass es nicht so ist. Dann ist mir dieses Land wieder so nah, als würde es noch existieren. Ich frage mich, was ich gemacht hätte, wenn die Mauer nicht gefallen wäre. Was wäre aus mir geworden?
"Das ist nicht so schwierig", sagt einer meiner Freunde. Er kommt aus dem Westen, da fallen ihm manche Sachen leichter. "Entweder, du warst dabei, oder du warst nicht dabei."
"Wobei?"
"Bei der Stasi."
"Es gab in diesem Land aber mehr als zwei Berufe", sage ich.
"Das weiß ich auch", sagt er.
Die Gegend, in der ich aufgewachsen bin, liegt im Süden von Leipzig. Es gibt keine Hügel dort, und an manchen Punkten ist die Landschaft so flach, dass sich einem bis zum Horizont nichts entgegenstellt. Das liegt daran, dass alles, was es dort gegeben hat, Häuser, Bäume, Landschaft, in einer Grube verschwunden ist. Meine Gegend ist Braunkohleland.
Hinter dem Dorf, in dem wir wohnten, gab es einen Tagebau, vor dem uns nur eine Straße noch schützte. Nachts konnten wir das Quietschen der Baggerketten hören. Der See, in dem wir im Sommer badeten, war an sieben Stellen von rauchenden Schloten umgeben, Kraftwerke, Brikettfabriken, eine Schwelerei, und wenn im Winter Schnee fiel, färbte der Ruß ihn bald grau. Ich weiß noch, wie wir in der Schule einmal einen Aufsatz geschrieben haben über das Jahr 2000, wenn alle Kohle aus der Erde geholt sein würde. Wir sollten uns vorstellen, wie schön es dann sei, die Gruben zu Seen geflutet, Strände, Häfen, Promenaden, Radwege entlang der Ufer, neuer Wald. Im Grunde ist es genauso gekommen. Nur eben anders.
Jedes Jahr vor den großen Ferien fragte unsere Klassenleiterin ab, was wir werden wollen. Sie ging durch das Alphabet, jeder sagte einen Beruf, und sie notierte ihn in einem Buch. Wusste einer nichts zu sagen, notierte sie das auch. Alle Wünsche wurden auf dem Elternabend verlesen, wobei die Lehrerin gleich darauf hinwies, dass unsere Volkswirtschaft so viele Automechaniker und Kindergärtnerinnen nicht gebrauchen könne und dass einige Jungs darüber nachdenken sollten, in die Armee zu gehen und einige Mädchen in die Brikettfabriken. Es war wie mit jeder Wahl in diesem Land, am Ende musste das Ergebnis stimmen.
Beim ersten Mal gab ich an, dass ich Koch werden wolle, keine Ahnung, warum, beim nächsten Mal Zootechniker. Ich mochte Tiere und dachte, ich käme so einmal an etwas Exotisches heran. Auch wenn mein Vater meinte, dass man als Zootechniker Elefanten nur den Dreck nachräumt, es wäre Elefantendreck gewesen. Das letzte Mal, dass wir gefragt wurden, bevor dann keiner mehr fragte, wollte ich tropische Landwirtschaft studieren. Die Lehrerin hatte von so einem Studium noch nie gehört. Aber ich wusste, dass es in Leipzig angeboten wurde und dass man damit später zum Beispiel nach Angola oder Moçambique kam, Länder, die als irgendwie sozialistisch galten. Ein Berufswunsch wie ein Ausreiseantrag. Ich frage mich, wie ich darauf gekommen bin. Ich wollte doch gar nicht weg.
Kurz nachdem ich geboren wurde, hatten meine Eltern in einem Plattenbauviertel eine Wohnung bekommen. Hinter unserem Haus gab es lange noch eine Baugrube, an der wir uns nach dem Kindergarten trafen und mit Dreck bewarfen. Später zogen wir ein paar Orte weiter auf den Bauernhof meiner Großeltern, dessen Scheune wir zu einem Haus ausbauten. An den Wochenenden schachteten, siebten oder räumten, oder wir fuhren die Baustoffversorgungen der Gegend ab auf der Suche nach Zement oder Bier für die Maurer. Die Wasserhähne und Türgriffe in unserem Haus stammten aus dem Westen, wo wir Verwandte haben, die ein Weingut betreiben. Jeden Sommer durfte meine Oma dort für ein paar Wochen arbeiten, wenn wir sie danach vom Bahnhof abholten, hatte sie so viele Taschen dabei, dass sie ein Abteil für sich allein brauchte. Ich habe immer gewusst, dass fünfzig Jahre vergehen müssen, bevor ich sehen darf, wovon sie erzählte. Aber ich erinnere mich an kein Bedauern, das länger anhielt, als ein Westkaugummi schmeckte.
Mein Vater leitete einen landwirtschaftlichen Betrieb für Milchproduktion, von dem er stets nur als der Anlage sprach. Als Kind war ich davon überzeugt, dass darin auf verschiedene Ställe verteilt mindestens zwanzigtausend Kühe lebten, aber so viele können es nicht gewesen sein, jedenfalls war die Anlage sehr groß. Sie lag auf freiem Feld. Am Ende einer Betonstraße gab es ein Pförtnerhäuschen, in dem meine Oma saß, nachdem mein Vater sie von ihrer Arbeit im Braunkohlewerk befreit hatte, dahinter lag der Zwinger des kaukasischen Schäferhundes, den ich manchmal ausführte. An den Wochenenden fuhren mein Vater und ich mit dem Dienstwagen die einzelnen Ställe ab, um nach dem Rechten zu sehen. Trafen wir dabei Leute an, die Milch klauten für ihre Tiere zu Hause, hatte mein Vater eine Art, sie zu befragen, die auch für den unangenehm war, der nur zuhören musste. Der Betrieb war Eigentum des Volkes, aber so führte er ihn nicht. Einmal habe ich während der Ferien im Stall gearbeitet, überall, wo ich hinkam, wurde ich als Sohn des Chefs behandelt, was nicht hieß, dass es mir darum besser ging, im Gegenteil. Aber ich habe mich nicht beschwert. Ich verstand es als Test. Mein Vater hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass ich diese Anlage einmal leiten könne, wenn ich wollte. Dann wäre ich heute Herr über zwanzigtausend Kühe.
Irgendwann fand mein Vater Gefallen an der Vorstellung, zu reiten. Ich weiß nicht, wie er seinen Vorgesetzten gegenüber begründete, wofür er in einer Milchviehanlage vier Pferde brauchte, dazu einen Stall und einen Mann, der sich ausschließlich um sie kümmerte, aber von da an ritten mein Vater und ich am Wochenende häufiger aus. Einmal kamen wir dabei an einen Fluss mit einer Brücke, von der nur die Pfeiler noch standen. Wir stiegen ab, weil wir ein paar Minuten am Ufer sitzen wollten, aber wir fanden nirgends eine Stelle, die Pferde anzubinden. Da waren überall nur Büsche, die Zweige hielten die Zügel nicht. Wir mussten wieder aufsteigen. Als mein Vater auf seinem Pferd saß, sagte er, er werde morgen hier einen Haken anbringen lassen. Es war ein Witz, aber er konnte ihn wahr werden lassen, und in dem Moment begriff ich, was Macht ist und welche Versuchung in ihr liegt. Wir haben beide gelacht.
"Ich denke, du hättest Karriere gemacht", sagt einer meiner ältesten Freunde. Er kennt mich noch aus der Schule, er hat nicht lange überlegt.
"Warum?", frage ich.
"Steckt das nicht in jedem?"
"Dann steckt es auch in dir."
"Ich hätte aber die Menschen nicht ertragen, auf die ich da getroffen wäre."
Die erste Funktion, um die ich mich bemühte, war die des Klassensprechers, der damals Gruppenratsvorsitzender hieß. Es muss in der sechsten oder siebten Klasse gewesen sein, es gab mehrere Bewerber, jeder Schüler schrieb einen Namen auf einen Zettel, die Lehrerin sammelte sie ein und trug die Stimmen an der Tafel ab. Es war eine geheime Wahl, und ich habe gewonnen. Ich kann nicht mehr sagen, welche Befugnisse ein Gruppenratsvorsitzender hatte, ich machte nie Gebrauch davon, ich wollte es vor allem sein. Jedes Jahr bewarb ich mich wieder, jedes Jahr wurde ich gewählt, außer einmal, als die Mädchen meinten, ich sei faul, und mein Gegenkandidat für jede Stimme fünfzig Pfennig zahlte, da wurde ich Agitator. Als Agitator musste ich jeden Freitag zu Beginn des Unterrichts berichten, was die Woche über in den Zeitungen gestanden hatte, und weil mir das oft erst am Abend davor einfiel und meine Mutter die Zeitungen da schon weggeworfen hatte, war ich im Jahr darauf wieder Gruppenratsvorsitzender. Ich war bei den Jungpionieren, den Thälmannpionieren und der Freien Deutschen Jugend. Ich habe immer gedacht, dass ich niemanden kannte, der nicht dabei war. Aber das stimmt nicht.
Es gab das Mädchen, neben dem ich ein paar Jahre lang in der Schule saß. Sie kam aus demselben Dorf und verstand auch Späße, über die sonst nur Jungs lachen. Wenn ich mich beim Diktat verschrieb, borgte sie mir ihren Tintenkiller, den sie von ihren Verwandten aus dem Westen geschickt bekam. Sie ging zur Christenlehre, bewahrte kleine Jesusbilder in ihrem Schulheft auf, und wenn unsere Klasse am 1. Mai an der Tribüne vorbeizog, dann fehlte sie. Fragte die Lehrerin am nächsten Tag, warum sie nicht gekommen sei, sagte sie, ihre Eltern hätten es nicht erlaubt. Irgendwann stellte ihre Familie einen Ausreiseantrag. Als er genehmigt wurde, hatte sie achtundvierzig Stunden Zeit zu gehen. Ich weiß noch, wie sie in der Pause kam, um sich zu verabschieden. Ihr Name war Manuela Schließauf, kein schlechter Name für eine, die aufbricht.
Als sie später auf Besuch zurückkehrte und sich in der Schule alle um sie drängten, ihre Schuhe bewunderten, ihre Frisur, ihre Klamotten, habe ich nicht mit ihr gesprochen, weil ich mich nicht klein machen wollte vor jemandem aus dem Westen. Als im Herbst vor zwanzig Jahren die ersten Leute in Leipzig auf die Straße gingen, habe ich im Staatsbürgerkundeunterricht den Führungsanspruch der Partei verteidigt, weil ich glaubte, dass jemand auf den Sozialismus aufpassen muss. Und als wir nach dem Mauerfall zum ersten Mal zu den Verwandten in den Westen fuhren, habe ich sie gefragt, ob sie sich jetzt freuen, weil sie uns besiegt haben. Ich kann gar nicht sagen, wie ich zum Bürger dieses Staates geworden war. Mir gefiel das Kämpferische der Arbeiterlieder, der Zug der Massen bei den Demonstrationen, mir gefiel die Vorstellung, dass es eine Aufgabe gibt, die uns alle verbindet. Es wäre leicht gewesen, mich für etwas zu gewinnen, in dem ich mich verloren hätte. Das ist es inzwischen nicht mehr.
Ich wohne heute allein in einer Wohnung, die fast doppelt so groß ist wie die Plattenbauwohnung, in der ich anfangs mit meinen Eltern und meinem Bruder wohnte. Es gibt in meinem Leben keine Aufgabe, die mich über meine Arbeit hinaus mit anderen verbindet. Ich habe für nichts Verantwortung außer für mich selbst. Ich habe nicht einmal ein Haustier. Als mich letztens jemand fragte, was ich für die Gesellschaft tue, habe ich gesagt, ich sei in der gesetzlichen Krankenkasse. Es war ein Witz, aber auch die Wahrheit.
Fortsetzung auf der Seite 2
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 07.05.2009 Seite B1
Fortsetzung von der vorherigen Seite Was aus mir geworden wäre
"Ich denke, du wärst Tierarzt geworden", sagt meine Mutter, die noch immer auf unserem Bauernhof lebt, dessen Garten sie jeden Sommer in eine blühende Landschaft verwandelt, "vielleicht hättest du es sogar in den Zoo geschafft."
"Ich meine nicht nur den Beruf."
"Ich denke, du hättest mit fünfundzwanzig geheiratet, du hättest jetzt Kinder, und wir hätten dir den Stall zu einem Haus ausgebaut."
"Aber wäre ich glücklich gewesen?"
"Wenn du es gewollt hättest, ja."
Es gibt eine Erinnerung an ein Gespräch mit meinem Vater, darüber, was aus mir werden soll. Was es auch sei, sagt er, es wäre gut, wenn ich dafür mit achtzehn in die Partei ginge. Ich konnte nicht erkennen, ob er es richtig fand oder nur hilfreich, und es störte mich, dass eine Sache, die als freiwillig galt, es auf einmal doch nicht war. Aber davon abgesehen, könnte ich nicht sagen, warum ich heute nicht in der Partei wäre.
Ich weiß noch, wie mein Vater manchmal abends von der Parteiversammlung nach Hause kam. Er trug das Lied noch auf den Lippen, das die alten Männer zum Abschied gesungen hatten. Die Partei, die Partei, die hat immer recht. Er konnte sie sehr gut nachahmen. Er spürte, dass sie einen Sohn in ihm sahen. Er glaubte, er könne mit ihnen spielen, ich habe geglaubt, dass er mit ihnen spielt. Er hat sich geirrt, und als er das nach der Wende sah, ist er darüber sehr erschrocken. Aber auch das holt man nicht mehr zurück.
Und noch etwas. Eine Szene, die ich vergessen hatte. Sie fiel mir erst jetzt wieder ein. Es muss in der achten oder neunten Klasse gewesen sein, als mitten in der Stunde die Tür aufging. Unser Direktor trat ins Zimmer und mit ihm ein anderer Mann. Sie holten einen Jungen aus dem Unterricht, später noch einen und noch einen. Mein Freund Wito war der Letzte. Er arbeitet heute als Segellehrer auf Mallorca. Wir kennen einander schon aus dem Kindergarten. Von dort stammt auch das früheste Bild, das ich von ihm habe. Darauf schleift er die verhasste neue Strickjacke, die seine Eltern ihm gekauft hatten, auf der Straße hinter sich her, von einer Pfütze zur anderen. Ich habe ihn nie eingeschüchtert erlebt, aber als er in die Klasse zurückkam, konnte ich sehen, dass er geweint hatte. In der Pause ging ich zu ihm. Er sagte nur, dass der Mann vom Wehrkreiskommando gewesen sei und ihn in die Armee zwingen wolle, als Offizier, für zehn Jahre. Ich wusste von der Armee, nur was mein Vater erzählt hatte, davon, was die Alten dort mit den Neuen machen. Er erzählte es lustig, aber das war es nicht. Ich stand da, und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Irgendetwas hatte mich verschont. Irgendetwas wartete auf mich.
Im Herbst vor zwanzig Jahre ist die Mauer gefallen. Ich kann nicht sagen, was aus mir geworden wäre. Ich weiß nur, ich wäre heute vierunddreißig Jahre alt. Ich bin heute vierunddreißig Jahre alt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 07.05.2009 Seite B2
Nach der Party Kleines Glossar des Neuen Deutschland
Ampelmann Realsozialistisches Inbild der DDR. Einen Arm vorgestreckt, den anderen um die Arbeitstasche gelegt, eilt er mit Riesenschritten zum Werkstor. Wenn er steht, ist es ein Volkspolizist, der mit ausgebreiteten Armen für Ordnung sorgt. Einen Begriff von Muße, Schlendern, Kontemplation haben diese Männlein nicht. Und sie sehen alle aus, als ob sie "Erich" hießen.
Ballack Die deutsche Elf hatte 2:1 gewonnen in der EM-Qualifikation gegen die Schotten im September 2003, alle waren zufrieden. Nur Günter Netzer griff Michael Ballack an. Letzterer sei nicht prädestiniert für eine Führungsrolle, schrieb Netzer, denn er sei "in der DDR aufgewachsen. Dort zählte das Kollektiv, das hat den Weg für Genies verstellt." Ballack möge sich ein Beispiel an einem Teamkollegen nehmen, der alles getan habe, "was man von Ballack erwartet – Bälle fordern, Rhythmus bestimmen, Mitspieler in Szene setzen". Gemeint war Bernd Schneider, geboren und aufgewachsen in Jena.
Cindy Auch bekannt als Mandy, Jacqueline, Grace, Grit, Peggy, Polly, Sindy, Jordana oder Aline, in der männlichen Form als Danilo, Ronny, Devid oder Silvio geläufig. Beliebter ostdeutscher Vorname, der im Westen von Menschen als Provinzlertum und Weltflucht verlacht wird, die ihre Kinder Friedrich, Paul, Heinrich, Gregor, Charlotte, Henriette oder nach anderen deutschen Kurfürsten und Prinzessinnen des neunzehnten Jahrhunderts benennen.
DT 64 Was die Abkürzung bedeutete, wusste eigentlich keiner, für eine kurze Zeit aber galt der Radiosender DT 64 in Berlin als der beste im ganzen Lande. Ins Leben gerufen anlässlich des "Deutschlandtreffens der Jugend 1964" – daher der Name –, war DT 64 die Jugendwelle der DDR, die so richtig kritisch auch erst wurde, als die DDR schon gewaltig wankte. Nach der Wende blieb das Programm zunächst erhalten; die geplante Einstellung sorgte für eine Welle der Proteste von Ostdeutschen und Westdeutschen, die sich mitreißen ließen. Letztlich vergeblich – der Name DT 64 verschwand, seine Spuren finden sich heute im RBB-Programm Fritz und in der MDR-Welle Sputnik.
Einheitsdenkmal Der nächste Aufreger im deutsch-deutschen Dauerzwist. Ein ideales Schlachtfeld für den ästhetischen und historischen Nahkampf. Es hat nur noch keiner gemerkt. Also los, Professoren, Patrioten, deutsche Umzügler: auf den Schlossplatz mit Gebrüll!
Fidschi Ostdeutsche Bezeichnung für Asiaten, früher meist Vertragsarbeiter aus der SR Vietnam, heute Betreiber von Thai-Imbissen oder Kiosken. Da "Fidschi" im Vokabular von Rechtsradikalen wie jedes zweite Wort diskriminierend verwendet wird, ist es politisch inkorrekt, von Fidschis zu reden, obwohl das Wort im Alltag analog gebraucht wird zum westdeutschen Sammelbegriff "Türke" in "Ich hol mir noch was vom Türken". Fidschis sind tatsächlich einfach ausnehmend höfliche, fleißige, scheinbar nie schlafende oder Urlaub machende Menschen, die wie die meisten Ostdeutschen auch lieber im Südpazifik leben würden.
Grass, Günter Auch wenn er das selbst vielleicht anders sieht, aber zu dem fällt uns diesbezüglich nichts mehr ein.
Hauptstadt Am 19. April 1999 zog die Regierung von Bonn nach Berlin – begleitet von heftigen Debatten. Besonders im Westen schimpfte man über verschwendete Steuergelder. Die Verabschiedung des Bonn-Berlin-Gesetzes markiert das Ende dieses erbitterten Streits. Viele Gegner der Entscheidung für Berlin werden heute nur noch ungern auf ihre Fehler von damals angesprochen. Aber auch wenn noch heute sechs Bundesministerien in Bonn sitzen, Berlin ist die Nummer eins.
Inoffizieller Mitarbeiter Im Gegensatz zu anderer Ministeriumsmitarbeit ist die Inoffizielle Mitarbeit beim Ministerium für Staatssicherheit mit wenig Prestige, meistens sogar mit sozialer Ächtung verbunden; die Rufschädigung ist kaum wiedergutzumachen. Die vielen Klagen gegen die Titulierung "IM" deuten darauf hin, dass die Ausschnüffelei selbst von denen, die sie vielleicht begangen haben, als Unrecht betrachtet wird, unabhängig davon, wie es zur Mitarbeit kam: aus Überzeugung, Opportunismus oder auf Druck.
Jugendweihe Für den Protestantennachwuchs ist es erst Jungschar, dann Konfirmation. Der katholische Präpubertant hat es nicht zwingend so bastelgruppenfreudig, ehe ihn Erstkommunion, dann Firmung initiieren. Die DDR machte es gleich gründlich: mit Jugendstunden als Vorbereitung auf die Jugendweihe, die in Jugendweihefeiern kulminierte, einem staatssozialistischen Ringelreihen, dessen Höhepunkt ein dreifaches "Ja, das geloben wir!" bildete, in Richtung Kräfteeinsatz für die große Sache. Hinterher gab es für die "jungen Bürger" daheim Kaffee und Kuchen. Wie bei den Katholiken und Protestanten im Westen.
Kohl, Helmut Wäre 1989 beinahe von den eigenen Leuten gestürzt worden, aber die rechtzeitig vorgenommene Öffnung der Grenze zwischen Österreich und Ungarn und was danach kam, rettete ihn vor dem Abstellgleis und promovierte ihn in die deutsche Geschichte. Im aufrechten Überschwang versprach er "blühende Landschaften" in den neuen Ländern, wo man aber zu viele Versprechungen und zu viel Überschwang gehört hatte, früher immer und es misstrauisch für einen Trick hielt. War aber nicht so gemeint gewesen.
Letscho Universelle aus Tomate, Zwiebel und Paprika bestehende Zutat für die Ostküche, die als einziger der volkseigenen Bereiche auch nach der Wende unverändert ihr Niveau halten konnte. Kulinarische Spitzenprodukte wie Broiler, Würzfleisch oder Eierschecke sind offensichtlich auch mit Westprodukten herzustellen. Darüber hinaus hat sich in weiten Teilen Brandenburgs inzwischen eine aufwändige Friteusenküche etabliert.
Merkel, Angela Bildete mit Familienministerin Claudia Nolte die politische Charmeoffensive der letzten Unionsregierungen. Auf Dauer aber erwiesen sich Merkels spezielle, am Tag des Mauerfalls neuerlich eingeübte Fähigkeiten, nämlich das einigermaßen regungslose Ausharren unter hohen Temperaturen, als weiterführender. Weder Treibhausklima noch weltökonomische Stresstests bringen sie ins Schwitzen, was von ihren Parteifreunden West hinter doppelt verschlossenen Türen aber als sozialistisch induzierte Passivität und typisch ostige Ignoranz denunziert wird, weil sie in den achtziger Jahren weder Tom Wolfe gelesen noch "Wall Street" gesehen hat. Dabei begreift sie die Sauna bloß als Brutkasten der neuen Zeit.
November Die ursprüngliche Bedeutung (lat. "novem") führt in die Irre, denn dann müsste der November der neunte Monat im Jahr sein. Von Interesse ist hier ohnehin nur der neunte Tag des elften Monats, also der 9. November, im Gegensatz zum elften Tag des neunten Monats, also der 11. September, welcher ebenfalls ein historisches Datum ist und den 9. November aus der allgemeinen Aufmerksamkeit fast ein wenig verdrängt hat. Wer den Mauerfall für ein bedeutendes Ereignis hält, müsste eigentlich verzweifeln, dass der 9. November kein Feiertag ist, aber das hat sich Deutschland selbst vermasselt. Zu ungut sind die Erinnerungen, die sich sonst zu diesem Datum einstellen (vor allem die Pogrome gegen die Juden 1938). So musste der 9. November gedenkpolitisch dem 3. Oktober Platz machen, der nur gewählt wurde, weil man Angst hatte, dass am 9. November 1990 die DDR schon so kollabiert wäre, dass man sich auf westlicher Seite eine Fusion vielleicht noch einmal überlegt hätte – und einen Wirtschaftsminister, der gesagt hätte, die DDR könne nur beitreten, wenn sie ein "Konzept" vorlege, gab es damals nicht.
Ostrock Nach der Wende überaus populäre Musikrichtung in den neuen Bundesländern, in denen vor der Wende vor allem Westrock oder Westpop oder Westgotik (Depeche Mode) gehört wurde. Stilistisch eher dem Schlager- oder Liedermachermilieu entsprungen, waren die Lieder bei den Fans mit Erinnerungen an Jugendweihfeiern älterer Geschwister und anderen nun wehmütig vermissten Kollektivstrafen verbunden. Im Lauf der neunziger Jahre wurden Ostrockpartys unter der jüngeren Generation zu einem beliebtem Retrophänomen, dem Westdeutsche anders als bei sonstigem DDR-Style einmal völlig ahnungs- und hilflos gegenüberstanden. "Alt wie ein Baum" sangen in Ostalgie-Shows Menschen, die wirklich alt (und auch sonst) wie Bäume aussahen und so stets mahnend die wahren Gründe für die friedliche Revolution im Bewusstsein der Nachgeborenen hielten.
Palast der Republik Als die DDR glaubte, sie hätte das Schlimmste hinter sich, spendierte sie sich eine Volks-Mall mit Asbestfüllung im Kaufhausstil der siebziger Jahre. Drinnen tagten die SED-Genossen, aber man durfte auch tanzen, bowlen, Konzerte anhören und essen. Als die DDR starb, wurde auch der Trumm todkrank. Sein Abriss war eine Erlösung. Seither kämpfen viele Ost-Berliner, an ihrer Spitze die ehemalige Einheitspartei PDS, mit Zähnen und Klauen gegen jede Art von Neubebauung des Ortes, besonders das Schloss alias Humboldt-Forum. Dabei ist das Berliner Schloss nichts anderes als der wahre Palast der Republik.
Quotenossi Abschätzige Bezeichnung für alle, die vermeintlich einzig ihrer ostdeutschen Herkunft ihre Position verdanken, der sie nach allgemeinem Urteil nicht gewachsen sind – von Wolfgang Lippert bis Wolfgang Tiefensee. Gesellte sich nach der Wende zur Quotenfrau, zum Quotenschwulen, zum Quotenmigranten und anderen der besonderen Förderung Verdächtigten. Man fragt sich, wieso bis heute die meisten wichtigsten Posten im Lande mit männlichen, heterosexuellen Westdeutschen besetzt sind, obwohl die doch gar nicht richtig gefördert werden.
Rotkäppchen Ist der beliebteste Sekt der DDR gewesen, allerdings war er immer knapp. Das, worauf man mit ihm anstoßen konnte, nämlich den Sieg des Sozialismus, hat nie stattgefunden. Nach der Wende wurden die Rotkäppchenmacher vom Westen verspottet, von der Treuhand fast plattgemacht. Dann lernten sie in Windeseile, wie die Marktwirtschaft funktioniert, kauften den westdeutschen Konkurrenten Mumm und füllen heute als deutscher Marktführer siebzig statt sechs Millionen Flaschen pro Jahr ab. Jetzt erst ist Rotkäppchen am Ziel und zur Volksbrause geworden.
Saarland War als Doppelheimat von Oskar Lafontaine und Erich Honecker in der Mitte der achtziger Jahre eine Art westdeutsches Nicaragua. Ludwig Harig erträumte den Tag, an dem das ganze Deutschland von zwei Saarländern regiert werde und sah seinen Freund Oskar schon in Bonn amtieren. An der Saar kämpften Herbert Wehner und Ernst Thälmann gegen Hitler, viel später wurden die ersten deutsch-deutschen Städtepartnerschaften ersonnen, hierhin verschlug es nach 1989 verwirrte Spitzenfunktionäre Ost auf der Suche nach ideologischer Wärme West. Saarländer und DDR-Bürger standen sich aus historisch-materialistischen Gründen nahe: Im wilden Westen wie im nahen Osten war die D-Mark knapp, daher schätzte man am Wagen die Anhängerkupplung und pflegte die Fähigkeit, nach Feierabend Handwerk und Landwirtschaft in Eigenregie zu betreiben. Heute ist das Saarland ebenso vergessen wie die DDR.
Topfzwang Süß sahen sie aus, die Krippenkindlein, ordentlich nebeneinander aufgereiht auf ihren Töpfchen. So lief das damals im Osten, es lief im Kollektiv, und im Westen war man entsetzt ob des Drucks auf die Kleinsten, ordentlich zu drücken (was auch dabei helfen sollte, den Verbrauch an Windeln zu begrenzen). Es war der Kriminologe Christian Pfeiffer, der 1998 das Topfthema in die Schlagzeilen brachte. Die besondere Anfälligkeit der ostdeutschen Jugend für rechtsradikale Propaganda führte Pfeiffer direkt auf die gemeinsam erlittene Erfahrung des Zwangstopfens zurück. Der braune Dreck in den Köpfen wäre demnach ein Resultat desjenigen in den Töpfen.
Unrechtsstaat Man kann sich mit der SED-Obrigkeit lange darüber streiten, ob es Unrecht war, was in der DDR passierte. Wenn aber Bärbel Bohley, relativ unwidersprochen, sagen durfte: "Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat", dann muss man sie fragen: Ist das etwa nichts? Nie zufrieden, diese Leute!
Volksbühne Unfugladen am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz. Um 1990 herum theatralische Wärmestube für verhärmte PDSler und übriggebliebene Altproletanarchisten. Später Jahrmarktsbude, in der mit zerhackten Stücken nach linksranzigen Speckseiten, noch später mit Popdiskurspapierschnitzelkügelchen nach dem Kapitalismus geworfen wurde. Im Parkett: lauter Einverstandene. Auf der Bühne: Leute, die den Einverstandenen im Parkett dauerprovokativ einbleuen, einverstanden zu sein. Das Theater in Deutschland, das sich am meisten mit sich selbst langweilt – dies aber auf fanatische Weise. Hausherr Castorf geht auf die sechzig zu. Friede seiner Masche.
Wagner, Franz Josef Lange bevor er zum berüchtigten "Bild"-Briefeschreiber wurde, verdingte sich der "Gossen-Goethe" kurzzeitig beim hastig aus dem Boden gestampften ostdeutschen Revolverblatt "Super". Dort druckte er, ganz Wendehals, 1991 die unvergessliche Schlagzeile: "Angeber-Wessi mit Bierflasche erschlagen. Ganz Bernau ist glücklich, dass er tot ist." Als "Super" im Juli 1992 eingestellt wurde, war niemand unglücklich.
Xenophobie Kurz vor der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 sagte der einstige Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye, es gebe Städte in Brandenburg und auch anderswo, wo er keinem, der eine andere Hautfarbe hat, raten würde hinzugehen. "Er würde es möglicherweise lebend nicht wieder verlassen." Über solche "No-go Areas" wurde heftig gestritten, bevor das Sommermärchen und das allgemeine Glück darüber, was für weltoffene und großzügige und fremdenunfeindliche Gastgeber die Deutschen sein können, sie wieder aus der Welt schaffte. Sie schießen trotzdem immer wieder aus dem Boden.
Yankee Aus naheliegenden Gründen hat es in der DDR kaum ein Amerikaner zu etwas gebracht. Ausnahme war der Sänger und Schauspieler Dean Reed, der es aus Colorado über Lateinamerika und die Sowjetunion bis in den Arbeiter-und-Bauern-Staat schaffte, wo er gern mit Pferd und Gitarre im Kino auftrat. Die Karriere endete mit Selbstmord in einem See bei Berlin. Nach der Wende interessierte sich Tom Hanks für die Geschichte, die er verfilmen möchte. Erste Informationsgespräche mit Weggefährten, unter anderem Egon Krenz, hat er bereits geführt.
Zonen-Gabi Schlechte Jeansjacke, schlechte Dauerwelle, schlechte Augen: Das Titelbild mit der gerade siebzehn Jahre jungen "Zonen-Gabi", die stolz ihre erste Banane (eine geschälte Gurke) präsentiert, war der Beitrag der "Titanic" zum Mauerfall. Als das restliche Deutschland glaubte, endlich ein Volk zu sein, spielte das Satiremagazin schon genüsslich den Spalter, blies zur Jagd auf bärtige Bürgerrechtler und schrieb sich die endgültige Teilung des Landes auf die Fahne. "Zonen-Gabi" wurde zum Klassiker und Jahre später wieder aktuell, als Gabriele Zimmer PDS-Chefin wurde.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 07.05.2009 Seite B2
Wir waren das Volk Die Losung der Montagsdemos ist Legende. Hunderttausende riefen sie am Ende. Doch wer rief sie zuerst? Eine Suche. Von Hubert Spiegel
Am 3. Oktober 1989 erhält Erich Honecker ein verschlüsseltes Fernschreiben aus Leipzig. Wort für Wort kann der Staatsratsvorsitzende darin nachlesen, was Tausende Bürger am Vorabend bei ihrem Marsch durch die Innenstadt im Chor gerufen hatten: "Neues Forum zulassen", "Wir bleiben hier", "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit", "Jetzt oder nie", "Gorbi, Gorbi" und "Freiheit für die Inhaftierten". Aber der Satz, der das Ende von Honeckers Regime bedeuten sollte, der Satz, der zusammen mit den Bildern von den Leipziger Montagsdemonstrationen um die Welt ging, der Satz "Wir sind das Volk", dieser Satz taucht in Honeckers Geheimbericht nicht auf.
Vier Worte, die die Welt verändert haben. Aber wie sind sie da hingekommen?
"Das kann man sich doch ganz leicht vor Augen führen", sagt Hartmut Zwahr. "Sie laufen in einer großen Menschenmenge mit, dann drehen Sie sich im Laufen zu den anderen um, legen die Hände als Trichter um den Mund und rufen laut, was Ihnen gerade eingefallen ist. Und dann nimmt die Menge Ihre Parole auf, oder sie nimmt sie nicht auf."
So könnte es gewesen sein. Aber wessen Hände haben den Trichter gebildet, als zum ersten Mal der Ruf "Wir sind das Volk" erklang, damals im Herbst des Jahres 1989 in Leipzig? Von wem stammt der Satz? War er eine geniale Eingebung in einem historischen Moment, oder wurde er gezielt in die Welt gesetzt, ausgetüftelt im innersten Zirkel der Bürgerrechtler? Und wieso kann sich heute niemand daran erinnern, wann er ihn zum ersten Mal gehört hat, ob am 2. oder am 9. Oktober, ob drinnen in der Nikolaikirche oder draußen auf dem Vorplatz? Vergisst die Friedliche Revolution ihre Väter?
"Ob das ein Ausruf der Oppositionellen oder der Ausreisewilligen war, lässt sich nicht mehr entscheiden. Aber zweifellos stammt der Satz aus dem Umfeld der Nikolaikirche", sagt Rainer Eckert, Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums in Leipzig. Doch dieses Umfeld war diffus, es hatte keine feste Struktur, war nie straff organisiert und wurde für die Staatssicherheit deshalb auch nie greifbar. Dass eine Handvoll überwiegend junger Leute, verstreut auf Städte wie Leipzig, Dresden und Plauen, ausreichte, um eine Bewegung in Gang zu setzen, der sich am Ende Millionen DDR-Bürger anschlossen, überstieg das Vorstellungsvermögen der Stasi. Sie suchte nach einem Phantom, das es nicht gab. Das Volk, so glaubte sie, spricht nicht von selbst, es murrt höchstens.
"Das MfS wusste gar nicht, wen es verhaften sollte, um die Bewegung lahmzulegen", sagt Uwe Schwabe. "Es gab keinen Kopf, keine Anführer. Das war ein Volksaufstand, das hatte niemand von uns in der Hand." Aber es gab diejenigen, die Transparente trugen, und die anderen, die den Transparenten folgten. Es gab die wenigen, die vor den Demonstrationen alte Bettlaken beschrifteten und Flugblätter entwarfen, und es gab die anderen, die in die Sprechchöre einfielen. Es gab die vielen, die demonstrierten, als die Botschaft in Prag besetzt war und Ungarn die Grenze zu Österreich öffnete, und es gab die wenigen, die schon in den Monaten und Jahren zuvor gegen die "illegitime Staatsmacht aufbegehrten", wie Rainer Eckert sagte. "Reden Sie mal mit Uwe Schwabe", hatte Eckert gesagt, der könne wissen, von wem der Satz stammt.
"Die Frage habe ich mir auch schon oft gestellt", sagt Schwabe. Zusammen mit Rainer Müller hat er auf der Abschlusskundgebung des Sächsischen Kirchentags am 9. Juli 1989 das berühmte Transparent getragen, auf das in chinesischen Schriftzeichen das Wort "Demokratie" geschrieben stand. Wenige Monate zuvor hatte er mit Freunden zwölftausend Flugblätter gedruckt, auf denen zum Besuch einer Demonstration für Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit aufgerufen wurde. Ein Spitzel verriet die Verfasser, und am Tag der Demonstration saß Schwabe in Untersuchungshaft. Heute gehört er zum Vorstand des Archivs Bürgerbewegung, ist Mitarbeiter des Zeitgeschichtlichen Forums und publiziert zur Geschichte der Friedlichen Revolution. Jemand wie er müsste es wissen.
Schwabe holt ein Flugblatt hervor, das am 9. Oktober verteilt wurde. Es trägt die Überschrift "Appell" und ruft zu Gewaltlosigkeit auf. In den vorangegangenen Tagen war es zu Zusammenstößen zwischen Volkspolizei und Demonstranten gekommen. In der Leipziger Volkszeitung hatte ein Kampfgruppenleiter unverhohlen mit Waffengewalt gedroht, und Honecker hatte die Demonstranten als "Rowdys" bezeichnet. Der Staat kriminalisierte seine Bürger. Die SED-Führung befürchtete einen "neuen 17. Juni", und wie damals wurde auch jetzt wieder daran gedacht, Panzer gegen das Volk einzusetzen.
Noch am Abend des 13. Oktober befahl Honecker die Verlegung von Fallschirmjägern der NVA und Spezialkräften des MfS nach Leipzig und wies die dortige Bezirksbehörde der Volkspolizei an, "unter allen Umständen" weitere "Massendemonstrationen im Zentrum Leipzigs" zu verhindern. Auf einem später aufgefundenen Tonband ist der damalige Innenminister Dickel zu hören, der vor den aus der ganzen DDR nach Berlin einbestellten Bezirksleitern der Volkspolizei erklärt, er würde am liebsten selbst nach Leipzig gehen "und diese Halunken zusammenschlagen, dass ihnen keine Jacke mehr passt. Ich war 1953 verantwortlich hier in Berlin . . . Mir braucht keiner zu sagen, wie man mit dem Klassenfeind umgeht. Umzugehen, schießen, liebe Genossen, und dass die Panzer dann vor der Bezirksleitung und dem ZK stehen, das wäre noch die einfachste Sache. Aber solch eine komplizierte Situation nach vierzig Jahren DDR?"
Die Lage ist also zum Zerreißen gespannt, als sich in Leipzig ein kleiner Zirkel trifft, um jenes Flugblatt zu verfassen, das Schwabe jetzt in den Händen hält. Die Sitzung fand vermutlich drei Tage vor der Kundgebung statt, also am 6. Oktober, und es ist möglich, dass jemand einen Entwurf mitgebracht hat. Aber das weiß Schwabe nicht, und auch Rainer Müller, der bei der Sitzung dabei war, wird sich am nächsten Tag nicht genau erinnern können. Ja, wird er sagen, wahrscheinlich habe es einen Entwurf gegeben, der dann gemeinsam diskutiert worden sei. Vielleicht wisse Christoph Wonneberger mehr: "Reden Sie mal mit Wonneberger."
Der Appell vom 9. Oktober ist ein beeindruckendes Dokument. "Wir haben Angst", heißt es dort. "Angst um uns selbst, Angst um unsere Freunde, um den Menschen neben uns und Angst um den, der uns da in Uniform gegenübersteht. Wir haben Angst um die Zukunft unseres Landes. Gewalt schafft immer nur Gewalt. Gewalt ist unmenschlich. Gewalt kann nicht das Zeichen einer neuen, besseren Gesellschaft sein . . . An die Einsatzkräfte appellieren wir: Enthaltet Euch der Gewalt! Reagiert auf Friedfertigkeit nicht mit Gewalt!" Und dann, in der nächsten Zeile, ist gesperrt der Satz zu lesen: "W i rs i n de i nV o l k ! Gewalt unter uns hinterlässt ewig blutende Wunden!"
Uwe Schwabes These klingt plausibel. Sie basiert auf einem Dreischritt. Damit aus dem Ausruf "Wir sind ein Volk", der an die Volkspolizei und die Kampfgruppen der Stasi gerichtet war, der an die SED gerichtete Ruf "Wir sind das Volk!" werden konnte, bedurfte es nur der Änderung einer Silbe und eines Bindegliedes, das von der Replik auf Honeckers Wort von den Rowdys gebildet wurde: "Zuerst riefen die Demonstranten ,Wir sind keine Rowdys!'. Und dann riefen sie ,Wir sind das Volk!'". So könnte es gewesen sein. Aber welcher Leipziger rief den Satz als Erster? "Reden Sie mal mit Hartmut Zwahr. Der forscht über die Parolen der Friedlichen Revolution."
Rainer Müller kann sich noch gut erinnern, wie er vor dem 9. Oktober von morgens bis abends unterwegs war, um Papier für die Flugblätter aufzutreiben. Etliche Gefährten aus dem Umfeld der Nikolaikirche saßen im Gefängnis, und die Anwälte, die sie engagiert hatten, arbeiteten allesamt für die Stasi. Im Jahr zuvor hatte Müller einen Beruf ergriffen, den es gar nicht gab. In der Schule war er der Beste seines Jahrgangs gewesen, aber zum Abitur wurde er nicht zugelassen. Er lernte Maurer, verweigerte den Dienst in der NVA, engagierte sich für Umweltschutz, Frieden und Bürgerrechte, wurde bespitzelt und bedroht, aus dem Theologischen Seminar geworfen und mit Berufsverbot belegt, obwohl das gegen die DDR-Gesetze verstieß. 1988 wurde er hauptamtlicher Koordinator der Oppositionsbewegung in der DDR, ein Berufsrevolutionär.
Heute schlägt sich Müller als freiberuflicher Historiker durch, und Volker Külow, der Mann, der ihn damals bespitzelt hat, sitzt als Vorsitzender der Leipziger Linkspartei im Stadtrat und könnte, wie der Schriftsteller Erich Loest unlängst beklagt hat, der nächste Kulturminister von Sachsen werden. "Fragen Sie mich mal, wie oft mich Lehrer einladen, in ihrer Schule über die Ereignisse von 1989 zu sprechen", sagt Rainer Müller grimmig. Auf einem Foto, das ihn zusammen mit Uwe Schwabe in der Nikolaikirche zeigt, hält er ein Transparent in den Händen: "Wir mahnen uns, an die zu denken, die gehen mussten." Er hätte die DDR nie verlassen. Seitdem er sich als junger Mann entschlossen hatte, den Wehrdienst zu verweigern, wusste er, dass er eines Tages im Gefängnis landen würde: "Von da an hatte ich keine Angst mehr."
Es habe eigentlich keine großen Visionen von der Zukunft gegeben, sagt Christoph Wonneberger, "höchstens Gorbatschow und das Modell vom Europäischen Haus". Die Köpfe, die in großen Dimensionen dachten, hätten gefehlt. Man sei Schritt für Schritt vorgegangen und habe zunächst die Grundlagen für eine bessere Gesellschaft herbeiführen wollen: Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, eine unabhängige Presse. Christoph Wonneberger gilt den Insidern als entscheidende Figur von damals. Aus der "offenen Jugendarbeit", mit der er in den siebziger Jahren begonnen hatte, entwickelte der Pfarrer den "Sozialen Friedensdienst" , der zu den Friedensgebeten führte, die am 13. September 1981 erstmals in der Nikolaikirche stattfanden. Wonneberger wollte einen Ort für Versammlungen und Diskussionen schaffen, acht Jahre später geht von diesem Ort eine Macht aus, der die SED nicht standhalten kann. Als die Mauer fällt, liegt Wonneberger nach einem Schlaganfall im Krankenhaus. Dann folgt eine langwierige Rehabilitation.
Wonneberger erinnert sich genau an den Tag, an dem das Flugblatt für den 9. Oktober verfasst wurde: "Ich habe das vorformuliert, wir haben alles diskutiert und dann drei Tage lang gedruckt, bis wir an die dreißigtausend Exemplare hatten." Und der Satz "Wir sind ein Volk"? "Stammt von mir." Aber wie aus einem Volk schließlich das Volk wurde, das weiß auch Christoph Wonneberger nicht.
Nun bleibt nur noch Hartmut Zwahr. Nach den Montagsdemonstrationen ist der Historiker mit seinem Notizbuch zum Neuen Rathaus gegangen, wo die Transparente abgelegt wurden, und hat die Parolen notiert. Mehrfach hat er über jenen kurzen glücklichen Augenblick in der deutschen Geschichte geschrieben, als die wenigen Köpfe der Opposition und die breite Bevölkerung zusammen gegen die Machthaber aufstanden, bevor sich ihre Wege wieder trennten. Auch Hartmut Zwahr hält die Wechselthese für glaubwürdig: ",Wir sind das Volk' lässt sich viel besser skandieren als ,Wir sind ein Volk'." Aber jetzt liegen Diagramme auf seinem Schreibtisch, die der Geschichte eine ganz neue Wendung geben.
Als die Stasi-Leute den Demonstranten die Transparente entrissen, blieb nur noch der Sprechchor als einzige Möglichkeit, sich zu artikulieren. Insgesamt 2360 Parolen, die auf 793 Protestveranstaltungen skandiert wurden, haben die Historiker Walter Heidenreich und Michael Richter für ihre Studie zur Friedlichen Revolution in Sachsen erfasst. Bewahrt wurden sie nicht zuletzt von denen, gegen die sie gerichtet waren: Die Mächtigen selbst trugen Sorge dafür, dass kein Wort verlorenging. So registrierten ihre aufmerksamen Büttel auch, wie zum ersten Mal der Ruf "Wir sind das Volk" erklang.
Es geschah nicht am 9. Oktober, sondern am 8., und nicht in Leipzig, sondern in Dresden, wie Richter durch ein Protokoll der Dresdener Bezirkspolizei belegt hat. Natürlich weiß niemand, wer den Satz in Dresden als Erster gesagt hat. Und erst recht vermag niemand zu sagen, ob derjenige nicht vielleicht jenes wenige Tage vor der Pariser "Junischlacht" von 1848 verfasste Gedicht von Ferdinand Freiligrath kannte, das mit den Worten endet: "Wir sind das Volk, die Menschheit wir! / Sind ewig drum, trotz alledem! / Ihr hemmt uns, doch ihr zwingt uns nicht – / unser die Welt, trotz alledem!" Erich Honecker könnte das Gedicht gekannt haben. Es erschien erstmals in der "Neuen Rheinischen Zeitung". Ihr Herausgeber hieß Karl Marx.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 07.05.2009 Seite B3
Italienische Ausreise Von Melanie Mühl Es war ihre erste Klassenfahrt nach dem Mauerfall. Sie führte von Königs Wusterhausen nach Rom. Danach machten sich die Schüler auf in den Westen. Sie sind heute sehr verschieden darin angekommen.
Der Tag, an dem sie zum ersten Mal in den Westen fuhren, schien ein Herbsttag wie jeder andere zu werden. Die Nacht hatte sich davongeschlichen, und auf den Feldern lag dichter Nebel. Ein Bus stand bereit, sie waren vierundzwanzig Schüler und ein Lehrer, alle in Anoraks verpackt, die Klassen 10.5 des Schillergymnasiums aus Königs Wusterhausen. Es war Oktober 1990, vor kurzem hatte das Schuljahr begonnen, die Klassen wurden gemischt, nun sollten die Schüler einander auf einer Reise kennenlernen, unter ihnen Anne Stolpe, Matthias König und Daniela Wonde. Elf Stunden würden sie in dem Bus verbringen, eher mehr, sie würden durch Deutschland fahren und dann weiter nach Österreich, über den Brenner, bis hinunter nach Italien, zum Gardasee und später nach Verona, Florenz und Rom, wo sich der Herbst ganz anders anfühlt. Aber davon wussten sie nichts. Vor einem Jahr wären sie ins Erzgebirge gereist, in den Harz, vielleicht an die Ostsee campen. Vor einem Jahr stand noch die Mauer. Dann fiel sie, und keiner von ihnen wollte mehr ins Erzgebirge.
Anne Stolpe ist dreiunddreißig Jahre alt, groß und schlank, man bemerkt sie, betritt sie einen Raum. Ihr Wohlwollen verschenkt sie nicht, man muss etwas dafür tun, sich an sie und ihr Leben herantasten. Sie lebt in Potsdam, gemeinsam mit ihrem Mann, einem Richter, und zwei Söhnen, der eine fünf, der andere acht. Im brandenburgischen Landtag schreibt die Juristin Reden für die Linksfraktion und Anträge. Sie führt das Leben, welches sie schon als Jugendliche führen wollte, mit Familie und Beruf.
Im Mittelmeer stand Anne Stolpe zum ersten Mal während der Klassenfahrt. Es war Nacht, als sie den Badeort nahe Rom erreichten, niemand sehnte sich nach Schlaf, sie wollten zum Meer, aber erst fanden sie es nicht in der Dunkelheit. Nur sein Rauschen hörten sie und folgten ihm. Auf einmal lag der Strand vor ihnen, wie ausgerollt. Sie krempelten ihre Jeans hinauf und rannten hinein. Anne Stolpe sagt: "Das war Freiheit."
Zu Mauerzeiten reisten die Stolpes, wohin es das System zuließ, nach Ungarn, Rumänien, Polen, Tschechien. Annes Eltern verdienten gut in der ehemaligen DDR. Der Vater übersetzte im Dienst der staatlichen Dolmetscherfirma Intertext, die Mutter arbeitete beim Fernsehen. Die Stolpes hatten es zu kleinem Wohlstand gebracht, mit großem Haus, Garten und Pool. Blickten sie aus dem Fenster, sahen sie in die Natur, dennnoch hatten sie es nicht weit nach Ost-Berlin. Jedes Jahr zu Weihnachten bekamen sie ein Päckchen von ihrer Westverwandtschaft geschickt, Feinstrumpfhosen für die Damen, Schogetten für die Herren, Luxseife für beide. Anne Stolpe musste nie kämpfen in der Schule, ihre Noten waren gut, und immer waren Freunde um sie, auch Jungs. Ihre Eltern gaben ihr keinen Grund, aufzubegehren. Der Vater, gebürtiger Pole, genoss Freiheiten, die für Ostdeutsche nicht galten. Er reiste viel und erzählte zu Hause davon. Einmal hielt er einen Diavortrag in Annes Klasse über die Akropolis, da war er gerade aus Griechenland heimgekommen. Anne Stolpe fühlte sich nicht eingesperrt. "Ich hatte eine genaue Vorstellung davon, was hinter der Mauer liegt", sagt sie. "Ich habe nichts vermisst."
1990 trug sie ihr Haar nach der damaligen Mode, über die Schulter und toupiert. Auch Daniela Wonde frisierte ihr Haar in der Art, nur war es blond, nicht braun. Das "New Kids on the block"-T-Shirt, das sie auf einem Klassenfahrtfoto trägt, gehörte Daniela, sie haben oft Klamotten getauscht. Sie sitzen auf einer Bank in Rom und lachen. "Rom", sagt Anne Stolpe, "das war irre." Italien wie aus dem Fernsehen. Petersplatz und Vatikan. Das Wetter. Die Vespas, auf ihnen Italiener mit aufgeknöpften Hemden bis zum Bauch. Der Circus Maximus. Spaghetti's, die scheußlich schmeckten. Eis in allen Sorten. Anne Stolpe weiß noch, wie sie staunte.
Am Tag, nachdem die Mauer gefallen war, wollten die Stolpes unbedingt nach West-Berlin, Anne, ihre Eltern, ihr jüngerer Bruder. Herr Stolpe wusste eine Stelle, an der gerade ein Stück Mauer rausgebrochen worden war, dort gingen sie hin. So gerieten sie nach Kreuzberg, in das Viertel der besetzten Häuser, zwischen denen Westdeutsche herumliefen und Bauchläden trugen mit Negerküssen und Überraschungseiern als Willkommensgruß. Der kleine Bruder wollte zugreifen, da schlug sie ihm auf die Finger. "Wir waren doch keine verhungerten Kinder aus Afrika", sagt Anne Stolpe.
Sie hatte Angst, dass der Westen den Osten überrennt. Sie fand, dass die Wende nicht automatisch aus zwei Ländern eines machte. Die DDR war ja ihre Heimat. In der Schule sammelte sie Unterschriften, gegen eine Annektierung, für eine Partnerschaft. Nicht, dass sie etwas gegen die Freiheit gehabt hätte, aber die Sicherheit wog schwer in ihrem Leben. Zum ersten Mal wusste sie nicht, was kommt.
Vielleicht ist die Klassenfahrt der Moment gewesen, in dem sie begriff, dass sie etwas machen konnte aus der Freiheit. Und dass der Mut, den sie dafür brauchte, irgendwann belohnt werden würde. Nach dem Abitur ging sie ein Jahr nach Amerika, nach Washington, dort hütete sie das Kind zweier Amerikaner. Eigentlich wollte Daniela Wonde sie begleiten, es war der gemeinsame Traum der Freundinnen, aber kurz bevor es losging, sagte sie ab. Sie hatte einen Freund zu dieser Zeit. Es ging nicht. Auch Anne Stolpe hatte einen Freund, Matthias König, er wartete auf sie, aber sie wurde in der Ferne erwachsen, während er der Gleiche blieb. Als sie heimkehrte, zerbrach die Beziehung.
Auf der Klassenfahrt hatten sie sich ineinander verliebt, seine blauen Augen und sein Charme zogen sie an. Eines Nachts, Anne Stolpe weiß nicht mehr genau wo, da wollte sie in sein Zimmer schleichen, doch sie irrte sich in der Tür und stand vor ihrem Klassenlehrer Herrn Witte. Der schlief und schnarchte.
Anne Stolpe hatte nie das Gefühl, staatenlos zu sein, nur fühlte sie sich dem Westen gegenüber lange Zeit unterlegen. Sie dachte nicht, dass sie es tatsächlich war, aber die Westdeutschen vermittelten ihr dieses Gefühl. "Ich habe einen Oststolz entwickelt", sagt sie. Deutschland, das seien zwei Länder, wie zwanzig Jahre zuvor. Stünde sie in einem Raum mit jungen Menschen, sie wüsste schnell, wer aus dem Osten kommt, wer aus dem Westen.
Nach dem Mauerfall bekam ihr Vater eine Stelle als Übersetzer bei einer West-Berliner Baufirma, später gründete er eine Firma in Polen. Ihre Mutter fing beim MDR in Leipzig an. Die Wende hat den Stolpes mehr gegeben als genommen.
Matthias König sagt: "Ich habe mich in Annes Erscheinung verliebt." Alles an ihr fand er schön. Sie war seine erste große Liebe. Heute hat er kaum Kontakt zu ihr, höchstens mal ein Anruf am Geburtstag.
Matthias König spricht wie jemand, der für alles, was das Leben noch bereithält, bereits einen Plan hat, dabei ist er erst vierunddreißig. Sich treiben zu lassen hieße für ihn, der Zeit keinen Respekt zu zollen. Er arbeitet für einen Autozulieferer und betreut ein Werk in der Slowakei. Jeden Montag fliegt Matthias König nach Bratislava, von München aus, jeden Freitag fliegt er zurück. Seine Freundin ist Rechtsanwältin in Frankfurt. Mal treffen sie sich bei ihr, mal bei ihm, je nachdem. Die Karriere ist beiden wichtig, im Sommer heiraten sie.
Wäre es nach ihm gegangen, sie hätten 1990 auch Westdeutschland bereisen können anstatt Italien. Er war nicht gespannt darauf, was die Welt zu bieten hatte, er war gespannt auf seine neuen Mitschüler. Die Erlebnisse, die er erinnert, haben mehr mit Menschen zu tun als mit Orten. Er weiß nicht mehr, wo am Gardasee sie übernachteten, er weiß noch, dass Mädchen und Jungs in getrennten Flügeln des Hotels untergebracht waren. Wollten sie einander besuchen, mussten sie durch ein Foyer, in dem ein Italiener aufpasste, mit Walkman auf den Ohren. Er weiß noch von der Kissenschlacht in Rom und den Pizzaecken, teuer und klein geschnitten. Er weiß auch noch, dass sie sich einmal beinahe verspäteten, da mussten Anne und er auf Daniela warten. Die ließ sich mit Kohle zeichnen.
Vergessen hat er den Moment, als die Alpen auftauchten, zum ersten Mal. Auch Florenz im Sonnenlicht, verschwunden. Ebenso die Gassen von Verona, der Liebesbalkon und Julias linke Brust, die zu berühren Glück bringen soll, weshalb sie ganz blank poliert ist.
Matthias König wuchs in Motzen auf, einer Gemeinde am See. Nie hat ihn die Mauer gestört, er hat sich einfach keine Gedanken gemacht über sie. Er mochte das Leben, das er lebte, es gab daran nichts auszusetzen. Die Familie war eng miteinander, niemand aus ihr engagierte sich für das Regime. Ganz in der Nähe betrieben die Großeltern eine Fleischerei, die Eltern arbeiteten als Ingenieure. Sein Vater war der Stellvertreter des Chefs, er hätte das Werk, das Kunststoffteile herstellte, auch leiten können, aber dafür hätte er in die Partei eintreten müssen, und das wollte er nicht. Zur Wende hat er das Werk dann übernommen.
Eines Morgens wurde Matthias König von seiner Mutter geweckt. Die Mauer, sagte sie, sei gefallen. Er schlief schnell wieder ein.
Bevor Matthias König in die Welt hinausging, ging er tiefer in den Osten hinein. Möglich, dass ihn die Freiheit überfordert hat, er nicht wusste, was er anfangen sollte mit ihr. Nach der Armee studierte er in Cottbus Wirtschaftsingenieurwesen und bewarb sich einige Semester später auf eine Praktikumsstelle in Singapur. Es klappte, für drei Monate. "Meine Mutter dachte damals, die würden dort Hund essen", sagt er. Er ging auch nach New York und nach Mexiko. Er lebte in Frankfurt, Braunschweig und jetzt in München. Mit einem Mal hatte er verstanden, dass die Zeiten andere waren. Die Chancen, die sich ihm boten, wollte er nutzen.
Matthias König denkt nicht in Ost-West-Kategorien, was daran liegt, dass er sich nie bevormundet fühlte vom Westen. Zwanzig Jahre Mauerfall, es ist für ihn ein Datum, irgendwie besonders, das schon, aber er guckt lieber nach vorne, nicht zurück. Er sagt: "Ich bin Bundesbürger."
Als sie Rom besichtigten, schien fortwährend die Sonne, Papst Johannes Paul II. feierte eine Messe, und Europas Politiker hielten in der Stadt ein Gipfeltreffen ab. Uniformierte, wohin die Schüler blickten, und sie mittendrin. Sie liefen durch die Straßen, wie die Menschen um sie herum es taten, ganz selbstverständlich, aber das ist es eben nicht gewesen. Daniela Wonde sagt: "Mehr Ausland ging nicht."
Das Erste, was einem an Daniela Wonde auffällt, ist ihr Lachen. Ein Lachen wie eine Einladung, unmöglich, sich ihm zu entziehen. Oft trennt sie damit zwei Sätze, anstatt eine Pause zu machen. Niemand, der sie nicht möge, sagt Anne Stolpe. Ihre Freundschaft hat einige Bewährungsproben überstehen müssen, es gab eine Zeit, da sah es sogar aus, als sei sie endgültig zerbrochen. "Daniela hat von der weiten Welt geträumt, und dann ist sie nicht nach Amerika mitgekommen", sagt Anne Stolpe. "Ich war von ihr enttäuscht." "Es war ein Fehler, nicht nach Amerika zu gehen", sagt Daniela Wonde. Lars hieß damals der Mann an ihrer Seite, ihm gehörte ein Gas-Wasser-Unternehmen. Er kam wie Daniela Wonde aus dem Osten, sie lernten sich 1989 in der Schuldisko kennen und wohnten später in einem kleinen Häuschen am Rande WestBerlins. Aber er war der Falsche, er wusste sie nicht zu schätzen.
Mit der Mauer ging es Daniela Wonde, wie es auch Anne Stolpe und Matthias König ging. Sie hat sie nicht gestört. Sie hatte ein Moped, einen Kassettenrekorder, Freunde und eine Cousine, die in einem Jugendmodegeschäft arbeitete und an Klamotten aus dem Westen rankam. Wäre die Mauer nicht gefallen, Daniela Wonde hätte eine Lehre in einer Apotheke begonnen, sie hatte die Zusage schon in der Tasche. Jetzt schrieb sie als Erste in ihrer Familie Abitur und sich für Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin ein. Vier Wochen, dann betrat sie die Universität nicht wieder. "Ich fühlte mich verloren, niemand kümmerte sich um einen." Sie verdiente Geld, jobbte im Kaufhaus des Westens in der Spirituosenabteilung, und am Wochenende sammelte sie Eier auf einer Hühnerfarm. Sie bestückte Supermarktregale mit Schokolade. Sie brach eine Ausbildung zur Notarsgehilfin und eine zur Immobilienfachwirtin ab. Plötzlich war ihr das Leben entglitten, sie hatte nicht genügen acht darauf gegeben. Sie hätte die Schuld an ihrer Orientierungslosigkeit auch auf den Westen schieben können, aber das wäre ihr zu einfach und wie eine Kapitulation erschienen, also kämpfte sie weiter. Eher zufällig kam sie zu einer Lehrstelle in einem Zehlendorfer Reformhaus und stellte sich so geschickt an, dass man ihr bald den Einkauf übertrug und Personalverantwortung. Ihre Unbeschwertheit, dieses Alles-ist-möglich-Gefühl, aber war da schon lange verschwunden.
Sie weiß noch, wie sie sich eine INXS- Platte in Verona kaufte, sie hat sie heute noch. Das fand sie damals toll am Westen, die Platten, nach denen sie suchte, auch zu finden. Und dass die Leerkassetten bei Aldi nur 3,99 Mark kosteten. Auch Garfield-Comics mochte sie und McDonald's. Der Westen ängstigte sie nicht.
An einem Tag im Sommer, es muss Mitte der Neunziger gewesen sein, grillte Daniela Wonde mit Freunden im Garten. Auch Anne Stolpe, zu der sie nur noch flüchtig Kontakt hielt, kam. Vor der Wende nannten sie alle "die Zwillinge". Jetzt lagen ihre Leben so weit auseinander, dass es zwischen ihnen nur Schweigen gab. Aus Freundinnen waren Fremde geworden. "Wir fanden nicht zueinander", sagt Daniela Wonde. Von Annes Hochzeit 2001 erfuhr sie von einem gemeinsamen Freund, sie war nicht eingeladen.
Die Wende kostete ihren Vater und ihre Mutter die Jobs, er verlor seinen bei der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft, sie ihren in einer Großküche in Boddinsfelde, wo sie damals wohnten und bis heute geblieben sind. Mittlerweile arbeitet Frau Wonde bei Real, Herr Wonde sucht wieder. Die Wende hat ihr Leben eher schwerer als leichter gemacht.
Vor acht Jahren zog Daniela Wonde nach Hamburg, sie hatte sich von ihrem Freund getrennt und fing beim Hamburger Sportverein an. Inzwischen ist sie für vier Fanshops verantwortllich und das Personal darin. Neulich besuchte Anne Stolpe Daniela Wonde und den Mann, mit dem sie jetzt in Hamburg lebt. In den vergangenen Jahren hatten sie zwar regelmäßig telefoniert, sich aber nicht gesehen. Nun war es, als seien sie wieder die Zwillinge von früher, die alles miteinander teilen. Was aus ihren Mitschülern geworden ist, weiß keine von ihnen so genau, nur zwei, haben sie gehört, seien bei einem Autounfall ums Leben gekommen.
Die Klasse 10.5 des Schillergymnasiums verbrachte eine Woche in Italien. Während der Rückfahrt fürchtete Anne Stolpe, diese Reise könnte eine Ausnahme gewesen sein. Ein Glücksfall. Oder ein Versehen. Natürlich wusste sie es besser, trotzdem blieb das Erlebte unwirklich. Als sie in Deutschland waren, schaute sie andauernd auf die Gegenfahrbahn. Vielleicht, dachte sie, würde sie ihre Eltern sehen, die waren unterwegs zum Nürnberger Flughafen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 07.05.2009 Seite B4
Deutschstunde Was Auslandskorrespondenten über ihre Heimat zu hören bekommen
AMERIKA
Als nach der Wiedervereinigung die Hauptstadtfrage den Deutschen zusetzte, gab es in Amerika verwunderte Blicke über den Atlantik. Wie konnte darüber Streit entstehen? War es nicht eine Selbstverständlichkeit, dass die alte Hauptstadt jetzt, da sie von keiner Mauer mehr durchschnitten wurde, wieder die neue werden sollte? Das Zögern der Deutschen erschien vielen Amerikanern so, als wäre die Mauer umsonst gefallen, als wären all die Besucher aus Übersee vergessen, die "Ich bin ein Berliner" und "Mr. Gorbatschow, reißen Sie diese Mauer nieder" gerufen hatten. Auf einer jener New Yorker Abendgesellschaften, auf denen sich Wirtschaft, Diplomatie und Kultur nicht immer reibungslos begegnen, mischte sich damals auch eine amerikanische Erbin in die Debatte. Ohne sich bei jenem Teil der Geschichte Deutschlands aufzuhalten, der schlichte Fortsetzungen historischer Gegebenheiten ausschließt, argumentierte sie fern aller Politik. Für sie ging es um so etwas wie eine internationale Klangästhetik. Paris, London, Bonn, das ergab in ihren Ohren keinen harmonischen Dreiklang. Aber: Paris, London, Berlin! Ein Akkord mit kosmopolitischem Nachhall! JORDAN MEJIAS
CHINA
Grundsätzlich ist China für Wiedervereinigungen, schon wegen Taiwan. Das war auch im Fall Deutschlands so, worauf Pekinger Politiker gerne hinweisen, wann immer Zweifel an der antiseparatistischen Standfestigkeit Berlins aufkommen. Die faktische Wiedervereinigung wurde anderthalb Jahre nach Bonns Kritik an der blutigen Niederschlagung der Studentenbewegung dann allerdings eher verhalten kommentiert. Außerhalb der offiziellen Kreise kümmert Deutschlands geteilte Vergangenheit die Chinesen wenig; nach den beiden unterschiedlich sozialisierten Hälften fragt kaum einer. So ist auch der letzte Militärattaché der DDR in China, Steffen Schindler, nicht so sehr als Zeitzeuge begehrt, sondern weil er in Peking heute eine gutgehende deutsche Schlachterei und zwei Gaststätten betreibt. MARK SIEMONS
RUSSLAND
Einen meiner russischen Bekannten, den Literaturwissenschaftler Grigori Vtornik, lehrten die Ereignisse der Herbstes 1989, dass die westlichen Länder untereinander nicht so einig sind, wie er geglaubt hatte. Er war frappiert, dass Engländer und Amerikaner Moskaus Entgegenkommen gegenüber Deutschland beinahe leichtsinnig fanden. In Deutschland beeindruckte ihn, dass vor allem die Westler keine nationale Euphorie aufkommen lassen wollten. Als er einem Verleger vorschlug, zur Feier des Tages in ein deutsches Restaurant zu gehen, entgegnete ihm der: "Wir sind hier in Europa. Gehen wir zum Italiener!" Der Russe fand das typisch deutsch. Wenn die Franzosen oder die Polen ein lange abgetrenntes Stück ihrer Heimat zurückbekommen würden, dachte er sich, wäre dort sicher der Teufel los. Umso mehr staunt Vtornik heute, dass er, wie er meint, noch immer an den Augen eines Deutschen ablesen kann, ob der aus dem Osten kommt oder aus dem Westen. Der Blick eines Wessis hätte ein gewisses Blitzen, aber auch etwas Dressiertes. Ossis schauten weicher drein, irgendwie menschlicher. Außerdem widerlegten Ostdeutsche das Klischee vom typischen Deutschen. Ihr Leben sei nicht so wohlgeordnet, ihr Denken nicht besonders klar. Westler haben Stil, Ostler haben dafür Seele, findet Vtornik, sie seien den Russen ein bisschen ähnlich. Der feine Unterschied im Ausdruck erinnert ihn an zwei Hunde der gleichen Rasse, von denen der eine geschlagen wurde. Das merke man ihm auch nach langer Zeit noch an; es ist das, was den Unterlegenen vom Sieger unterscheidet. KERSTIN HOLM
POLEN
Vor zwanzig Jahren waren die Polen groß. Sie stürzten die Diktatur, und dann freuten sie sich auch noch selbstlos, als die Deutschen nachzogen. Ein vereinigtes Deutschland, das ist unser Tor zum Westen, jubelte damals ganz Warschau klug und hochherzig. Heute hängt an der polnischen Botschaft beim Brandenburger Tor ein Transparent. Es zeigt unter dem Satz "Es begann in Gdansk" einen großen runden Tisch in Schwarzweiß. "Die Deutschen haben uns ein wenig zu oft gefragt, wie der Fall der Mauer sich auf den Sturz des Kommunismus in Polen ausgewirkt hat", verriet neulich Malgorzata Lawrowska von der polnischen Botschaft in Berlin. "Dabei war es ja genau umgekehrt." Das schmerzt. "Die Deutschen liegen vorn mit ihrer Legende vom Sturz der Berliner Mauer", hat kürzlich der Historiker Andrzej Friszke konstatiert, und der Kulturminister Zdrojewski ließ wissen, Polen werde "permanent verdrängt", wo es um seinen Beitrag zur Befreiung gehe. "Schließlich waren wir es, die die Teilung Europas überwunden haben." Was also tun? Jammern? Drängeln, bis die Deutschen ein ordentliches Denkmal bauen, für die Solidarność, für den Papst, oder für alle zusammen? Und warum nicht gleich "ein Mausoleum" fordern, oder "Lech Walesa zu Pferde,"wie Parlamentspräsident Komorowski unlängst sarkastisch gefragt hat. Es wird wohl zu einer "kleinen" Lösung kommen. Der Bundestag wird kein Reiterstandbild errichten, aber immerhin eine Gedenktafel für die Solidarność. Für alle, denen das nicht genügt, gibt der Satz auf dem Transparent "Es begann in Gdansk" die nötigen Hinweise: Die Freiheit hat in Polen begonnen, zuerst mit der Solidarność an der Danziger Werft, dann in Warschau am "Runden Tisch". Und als ihr Deutschen dann endlich auf der Mauer getanzt habt, hatten wir Polen die Kastanien längst für euch aus dem Feuer geholt. KONRAD SCHULLER
FRANKREICH
Sie liebten das geteilte Deutschland. Für viele Franzosen war die Mauer wie ein Brett vor dem Kopf. Sie entsprach der ideologischen Demarkationslinie im eigenen Land. Er liebe Deutschland so sehr, dass er sehr gerne zwei davon habe, hatte der Literaturnobelpreisträger François Mauriac gehöhnt. Im Zweifelsfall hielt es manch einer mit der DDR, nach der Überwindung des Kommunismus im eigenen Land erst recht. Noch hatte die eigene Vergangenheitsbewältigung erst zaghaft begonnen. Mitterrand fürchtete die Wiedervereinigung und konnte sie doch nicht offen ablehnen. Das ungeteilte Deutschland drängte Frankreich an den Rand Europas und beflügelte die historischen Urängste vor dem Erbfeind. Inzwischen haben sich die Beziehungen fast bis zur Gleichgültigkeit normalisiert. Ein bisschen Verlogenheit ist geblieben. In diesen Wochen wickelt der Auslandssender Radio France Internationale seine osteuropäischen Redaktionen ab. Auch die deutschsprachigen Programme werden eingestellt. Zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung scheint man Deutschland nun doch zu vertrauen. Es braucht die Stimme Frankreichs in Berlin nicht mehr. JÜRG ALTWEGG
SPANIEN
Sie konnten etwas an uns immer verstehen, denn sie hatten es im eigenen Land: die Teilung. Spanien fühlte sich nicht erst seit dem Bürgerkrieg in ein rechtes und linkes Lager gespalten. Was unsere beiden deutschen Staaten genau besagten, ahnten die Spanier wohl nur ungenau. Sie hatten ja bis 1975 ihre eigene Diktatur, ein bisschen Repression gehörte zum Alltag. Die Touristen, die ihnen Geld ins Land brachten, kamen aus dem Westen, so viel wussten sie, und das war für die Spanier "Deutschland". Als die Mauer fiel, empfanden die Spanier das als überfällige Versöhnung. Die feineren Fragen der Aufarbeitung interessierten sie nicht. "Was wollt ihr denn? Ihr seid wieder zusammen, oder nicht?" Man hätte ihnen gern erklärt, dass es da noch das Kleingedruckte gibt. Und weil ein spaltungserprobtes Land anders denkt, regnete es nach der Bildung der großen Koalition 2005 Blumen und Komplimente: "Seht mal", hieß es in Spanien, "die Deutschen schaffen es, dass sich ihre beiden großen Parteien gemeinsam an einen Tisch setzen, um die Probleme des Landes zu lösen. Das ist Kultur. Unsere Politiker können das nicht." PAUL INGENDAAY
ENGLAND
Im Londoner Stadtbild bringt eine Werbekampagne die Verschiebung ins Bewusstsein, die das Deutschlandbild seit 1989 erfahren hat. Auf einigen Taxis prangt neben Nahaufnahmen der Graffiti an den Mauerresten der Spruch: "Post Wall Germany. 20 years on. Have you been there yet?" Anfangs gab das Zusammenkommen von Ost- und Westdeutschland den alten Ängsten frische Nahrung. Auf dem berühmten Chequers-Seminar, zu dem Margaret Thatcher im Frühjahr 1990 Historiker lud, um aus der Vergangenheit Lehren zu ziehen, lag den Teilnehmern eine Liste deutscher Nationaleigenschaften vor, die von "Angst" und "Aggressivität" bis zu "mangelnder Sensibilität" reichte. Dieses durch die ständige Besinnung auf Englands "größte Stunde" im Zweiten Weltkrieg geschürte Empfinden flammte bei der Fußball Europameisterschaft 1996 wieder auf. Aber das Unbehagen, das Schlagzeilen wie "Achtung! Surrender" und "Let's Blitz Fritz" weckten, war bereits symptomatisch für einen Stimmungswandel. Die Wende trat mit der Fußball Weltmeisterschaft 2006 ein. "We love you, really" erklärte damals der "Guardian" mit sanfter Ironie. Gina Thomas
ISRAEL
Die Berliner Mauer war nicht lange gefallen, als der israelische Premier Schamir gegenüber dieser Zeitung zur Vereinigung beider Deutschland Stellung bezog. Bis dahin galten Likud-Politiker als Zweifler an der westdeutschen Demokratie. Schamir überraschte nun mit der Bemerkung, es sei nur natürlich, dass die Mauer endlich gefallen sei: Das sei für Europa und die Welt auch nicht gefährlich, denn Deutschland beweise sich als faire Demokratie, sagte Schamir. Es fehlte auch nicht der Hinweis, dass Berlin nun so vereint wie Jerusalem sei. Zwei Jahrzehnte später ist die Berliner Mauer wie spurlos verschwunden. Aber in Zion teilt neben der osmanischen Stadtmauer eine drei Meter hohe Betonmauer die Stadt, trennt arabische Quartiere und schafft neben dem ohnedies schon armen arabischen "Osten" einen noch ärmeren arabischen "Ost-Osten". Doch im politischen Diskurs gerät bei Israels Mehrheit in Verruf, wer diese Mauer mit der einst in Berlin vergleicht. Es handele sich nur um eine "Schutzanlage" gegen Terror, nicht um eine ideologisch begründete Mauer, die eine Nation spalte. Die Palästinenser sprechen von einer neuen "Berliner Mauer, nun in Al Quds", die die palästinensische Hoffnung auf das eigene Jerusalem begraben solle. "Die deutsche Geschichte brachte uns erst den jüdischen Staat und nun diese Mauer", heißt es. JÖRG BREMER
ITALIEN
"Reunificazione" – das ist selbst für Italiener kein unkompliziertes Wort. Zudem hat Italien seit Cäsar und Augustus diverse Wiedervereinigungen hinter sich, und keine ist recht gelungen: die zerstrittenen Stadtstaaten der Renaissance, Garibaldis Handstreiche, halb verlorene Kriege der Savoyer, erbitterter Widerstand des Papstes, die Heimholung der italienischen Gebiete Triest und Trient, die Okkupation von Südtirol. Dann kamen die Separatisten. Wer so eine wacklige Nationalgeschichte vorzuweisen hat, der neigt zur Idealisierung anderer. Die Wiedervereinigung ist für die meisten Italiener nur die reibungslose Fortsetzung der deutschen Erfolgsgeschichte nach 1945: "Il Wirtschaftswunder due". Das Pathos der Bürgerbewegung in der DDR, die Tumulte der Maueröffnung, die vernarbenden Wunden beim Zusammenwachsen, die neue Armut – davon hört man in Italien so gut wie nichts. Stattdessen: "Großartig, wie ihr das so schnell wieder hingekriegt habt. Wir in Italien dagegen, alles ein Chaos." Verzagte Hinweise, dass die deutsche Wiedervereinigung weder reibungslos noch gratis war, noch mental abgeschlossen ist, mag man in Italien nicht hören. Das Stereotyp des Industriegiganten im Norden mit effektiven, etwas langweiligen Menschen, schlechtem Essen und noch schlechterem Wetter hat die Reunificazione überlebt. Doch warum ist Berlin dann zur italienischen Reisedestination Nummer eins in Europa geworden? "Viele Diskotheken, viele Clubs, viel junge Architektur und Mode." Das hört man über die vereinigte Hauptstadt, und: "Berlin ist so billig, und man kann zum Essen prima zum Italiener gehen." Nur das Wetter, naja, das ist auch nach der Reunificazione dasselbe Grau in Grau geblieben. DIRK SCHÜMER
SÜDAFRIKA
In meinem Gastland weiß keiner, dass es so etwas wie die Mauer überhaupt gegeben hat. Ich fürchte, ich muss bei der Geschichte passen. THOMAS SCHEEN
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 07.05.2009 Seite B5
Der Historiker Frederick Taylor über die Mauer in unseren Köpfen, Büchern und Filmen Die Leerstelle Sie war das Symbol der Teilung, wurde zur Projektionsfläche und lebt bis heute als Metapher weiter. Ein Gespräch über die Karriere der deutsch-deutschen Grenzbefestigung.
Mr. Taylor, derzeit wird in Berlin die "East Side Gallery" renoviert: Die Künstler müssen ihre Bilder von neuem auf die Reste der Mauer malen. Was 1961 als "antifaschistischer Schutzwall" begann und bis 1989 hundertsechs Menschen das Leben kostete, ist zu einer Installation geworden, die gehegt und gepflegt werden muss. Stört Sie das?
Kunstwerke bringen normalerweise keine Menschen um. Nach 1990 ist so viel so schnell von der Mauer verschwunden – es ist gut, dass es die East Side Gallery noch gibt. Ich weiß, manche Leute wünschten sich, dass der Mauer mehr gedacht würde. Jemand hat vorgeschlagen, entlang des Grenzverlaufs Lichter in die Erde einzulassen, die nachts aufleuchten. Warum also nicht ein bisschen Kitsch? Warum die Mauer nicht in Kunst verwandeln? Sie war ein außerordentliches, schreckliches Gebilde, aber sie brachte auch Absurdes mit sich: Denken Sie an die dämlichen Uniformen, die Grenzkontrollen, den Tränenpalast . . .
Wie könnte man die Erinnerung daran authentisch bewahren?
Wenn man die Mauer zwanzig Jahre später in ihrem ganzen Schrecken rekonstruieren wollte, käme zwangsläufig Kitsch heraus. Weil es keinen politischen Zweck mehr hätte, sondern nur dazu diente, den Menschen zu zeigen, wie sie war. Bei den Stasigefängnissen hat man richtig daran getan, sie so zu belassen, wie sie waren. Oder nehmen Sie die Stasi-Zentrale in der Normannenstraße: Man geht in Mielkes Büro, sieht das helle Holz und das Telefon auf seinem Schreibtisch – das wirkt viel beklemmender und beängstigender als so ein Rest Beton.
Von Anfang an galt die Mauer als "Symbol" des Kalten Kriegs. Künstler haben das geteilte Land allerdings auch als Metapher für Trennung, Gefühlskälte und Isolation benutzt, auch in der DDR, etwa in Christa Wolfs Roman "Der geteilte Himmel". Warum bot sich die Mauer so als Metapher an?
Das ist vor allem eine westliche Angelegenheit gewesen. Denn nur, wenn man sich von hier nach dort bewegen kann, spürt man eine Teilung. Wenn man dagegen eingesperrt ist wie die Ostdeutschen, gibt es keine Teilung. Dann ist man da eben. Und bleibt dort. Als Teenager habe ich ein Fernsehspiel des britischen Dramatikers David Mercer gesehen: "The Birth of a Private Man" von 1963. Die Hauptfigur war eine gequälte Existenz, hin und her gerissen zwischen Sozialismus und Kapitalismus, zwischen schlechtem Gewissen und dem Wunsch nach gutem Leben. Zum Schluss stürmt er aus einem Transenclub in West-Berlin, versucht, die Mauer hochzuklettern – und wird dabei erschossen. Das war das erste Mal, dass ich dieses Leitmotiv erlebt habe: das geteilte westliche Gewissen.
Gibt es ein Kunstwerk, das der Berliner Mauer und dem geteilten Deutschland je gerecht geworden ist – ein Buch, einen Film, ein Bild?
Ich fand "Das Leben der Anderen" sehr gut. Die Handlung ist etwas unrealistisch, aber die Atmosphäre ist schön gelungen, die Straßen, die Ost-Berliner Vororte, die Büros: Genau wie im Film ist es in meiner Erinnerung gewesen. Was die Literatur angeht: Ian McEwan hat die fünfziger Jahre in "Unschuldige" sehr gut beschrieben. Am besten hat Berlin aber Len Deighton hinbekommen. Ich ziehe Deighton auch John Le Carré vor. Weil er eine Normalität der Abnormalität erschuf, was man tun muss, wenn man verstehen will, was in der Stadt vor sich ging. Der große Film über das geteilte Berlin bleibt aber "Eins, zwei, drei" von Billy Wilder.
Der Film erlitt eine Art Kollateralschaden durch die Mauer: Niemand wollte ihn sehen, als er 1961 in die Kinos kam.
Stimmt.
Als er dann 1986 wiederentdeckt wurde und in die Berliner Kinos kam, haben sich die Leute kaputtgelacht.
Vor der Mauer konnte man das noch witzig finden, aber sobald sie stand, wurde das viel schwerer. Wilder hat den Film in letzter Sekunde fertigstellen können.
Mercer, Le Carré, McEwan, Deighton: was hat gerade Ihre Landsleute so an der Mauer und an Berlin fasziniert?
Es waren ja nicht nur Schriftsteller, es gab auch eine Tradition in der Popmusik: David Bowie hat über die Mauer gesungen, Pink Floyd ein Album nach ihr benannt: Dabei hatte "The Wall" natürlich gar nichts mit der Mauer zu tun, aber dann fiel sie, und Pink Floyd haben die Gelegenheit genutzt, um ein Konzert auf dem Grenzstreifen zu geben. Wir Briten haben uns immer für Berlin interessiert – und besonders für die Nazis, Gott bewahre. Unsere Verbundenheit mit Berlin ist ja gut und schön. Aber sie entmenschlicht die Stadt auch: Berliner sind immer irgendwie symbolisch. Für mich bestand die Stadt aus ein paar Millionen Menschen, die versuchen, so gut es geht, mit ihrer Lage klarzukommen. Das fehlt mir in der britischen Literatur über Berlin. Sie bevormundet die Berliner geradezu: als sei es ihnen nicht gestattet, normale Menschen zu sein. Sie sind Symbole.
Die Mauer war wie eine Leinwand, das sieht man bis heute an der East Side Gallery. Vielleicht lag der Hang zur Metapher ja daran: Auf Stacheldraht kann man mämlich nichts projizieren.
Mag sein. Ich habe vor kurzem einen Film gesehen, der wenige Monate nach dem Fall der Mauer gedreht wurde: Der ostdeutsche Regisseur hatte alte Filmaufnahmen von marschierenden Nazis und vom Kaiser Wilhelm beim Truppendefilee auf die Mauer projiziert, die damals noch stand. Aber solche Projektionen finden bis heute auch im Kopf statt. Vor einiger Zeit hat die britische Künstlerin Tacita Dean im Palast der Republik eine Installation gezeigt: Sie hatte Gespräche von Passanten aufgenommen, und nun sollte man da sitzen und den Leuten zuhören, dem Klang ihrer Stimmen, wie sie an- und abschwellen. Und ich dachte: Moment mal, nur weil es Berlin ist, wo diese Leute herumlaufen und völlig normale Gespräche führen, bedeutet das noch lange nichts! Vielleicht aber doch – für einen britischen Künstler. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein deutscher Künstler so etwas machen würde.
Wenn man unbelebte Dinge mit Bedeutung auflädt, spricht man in der Kunst von "pathetic fallacy". Der amerikanische Popmusiker Lou Reed hat das 1973 bei "Berlin" getan, seiner Rockoper über ein auseinanderfallendes Liebespaar. Er war nie in Berlin gewesen.
O ja! Lou Reed gefiel nur der Gedanke. Er fand es cool.
Die Mauer als persönliche Angelegenheit zu betrachten, ja zu vermenschlichen, wie Lou Reed es tat: Hat das vielleicht geholfen, mit ihrer Monströsität klarzukommen?
Man kehrt immer zu einem emotionalem Trauma zurück.
In John Le Carrés "Spion, der aus der Kälte kam" beschließt der Held bei seiner Flucht über die Mauer, lieber an der Seite seiner erschossenen Freundin zu bleiben als in Freiheit zu leben – und springt zurück.
Bei Le Carré spiegelt sich das Trauma der Mauer im Verhältnis des Helden zu seiner Freundin. Romantische Liebe ist sehr optimisch, das größte Glück im Leben, und sie zu verlieren das Schlimmste, was man sich vorstellen kann. Mir ist diese Projektion aber zu dick aufgetragen. Ich bewundere Le Carré, aber er neigt zum Romantisieren.
Aber auch Sie selbst haben die Mauer als persönliche Angelegenheit betrachtet. Ihr neues Buch über die Mauer beginnt mit einer Anekdote: Am Tag, als sie gebaut wurde, starb Ihr Vater.
Ein seltsamer Zufall, ja. Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich daran liegt, dass ich über Berlin schreibe. Aber mir fällt es sehr schwer, die Mauer nicht persönlich zu nehmen, vor allem, seit ich vor ihr stand. Ich weiß noch, wie geschockt ich war, als ich sie zum ersten Mal sah. Da war ich siebzehn und ging noch zur Schule. Wenn man dann eine Weile in Berlin lebt, gewöhnt man sich an ihren Anblick. Und wo man erst noch Leidenschaft und Widerwillen und Wut gefühlt hat, spürt man gar nichts mehr. Man stumpft ab. Man geht um die Ecke, da steht sie. Man geht weiter seines Wegs, biegt wieder ab und weg ist sie.
Wenn man sich als Existentialist versteht, zieht einen so ein desolater Ort an.
Die Leere zieht einen an, ja. Das leere Herz.
Und diese zerrissene Seele: Das bin ich. Es ähnelt mir. So, wie es Berlin geht, geht es auch mir.
Aber ich glaube, das ändert sich gerade. Berlin normalisiert sich langsam.
Haben Sie bei Ihren Recherchen Hinweise gefunden, dass es den SED-Machthabern klar war, was sie mit dem Bau der Berliner Mauer nicht nur den Menschen, sondern auch der Phantasie antun?
Es ist sehr schwer, da einen Einblick zu finden. Es steht nichts in den Quellen, es liegt nichts in den Archiven. Aber ich glaube, dass die kommunistischen Anführer, die 1945 nach Deutschland zurückkamen, sich so an Gewalt gewöhnt hatten, dass sie zu allem fähig waren. Denken Sie an Walter Ulbricht. Diese seltsamen Jahre, die er in der stalinistischen Sowjetunion verbrachte, haben ihn so verbogen, dass er kaum noch menschlich war. Ulbricht hat alles getan, um zu überleben, das hat ihn hart gemacht. Und wenn eine Mauer nötig war, um einen kommunistischen Staat auf deutschem Boden am Leben zu erhalten, dann würden Ulbricht und seine Genossen eben eine Mauer bauen. Und anschließend so tun, als ob diese Mauer überhaupt nicht schrecklich sei, sondern eine feine, wunderschöne, ehrenwerte Sache. Das taten sie dann ja auch.
Aber wie hält man das aus?
Ulbricht und seine Genossen taten, was die meisten Menschen in Extremsituationen tun: Sie dachten einfach nicht darüber nach. Sie gaben Befehle, sorgten dafür, dass alles seinen Gang nimmt, und hofften auf das Beste. Sie drückten die Daumen, dass alles gut gehen würde. Es ist schade, dass die Mauer nicht früher gefallen ist, dann hätten wir Ulbricht noch fragen können, was er sich dabei gedacht hat. So werden wir es niemals erfahren. Er war schwer zu durchschauen.
Die Mauer begann als Hilfsmittel, wurde zum Symbol, dann zur Projektionsfläche, heute überlebt sie als Metapher: Denn über "die Mauer in unseren Köpfen" werden die Deutschen in diesem Jubiläumsjahr sicher oft reden.
Sie tun es doch schon! Aber Deutschland ist ja auch noch immer klar geteilt, auch wenn ich keinen großen Unterschied erkennen kann zur Teilung zwischen Engländern und Schotten: Sie sollten mal sehen, wie wir darüber debattieren, wer die Früchte des Wohlstands bekommt, wer gibt und wer nimmt! Wir hatten ja sogar unsere eigene Mauer, vor zweitausend Jahren: den Hadrianswall. Die fünfundvierzig Jahre kommunistischer Herrschaft in Ostdeutschland haben das Land radikal verändert. Die neunziger Jahre waren kein guter Augenblick für ein zweites Wirtschaftswunder, erst recht, seit klar war, wie schlecht es um die ostdeutsche Wirtschaft steht. Und so wurden die Ressentiments in den Köpfen der Menschen zementiert.
Letzte, unvermeidliche, hochsymbolische Frage: Mr. Taylor, wo waren Sie, als die Mauer fiel?
Ich muss zu meiner Schande gestehen: Den Fall der Mauer habe ich verpasst. Am 9. November 1989 war ich zu Besuch bei meiner Frau in London, wir hatten eine Wohnung ohne Fernseher gemietet. Wir haben früh zu Abend gegessen und sind danach schlafen gegangen. Erst als ich am nächsten Morgen aus dem Haus ging, um Kaffee und die Zeitung zu holen, wurde mir klar, was geschehen war. Ich bin bald danach nach Berlin geflogen, aber ich bedauere noch immer, den Fall der Mauer nicht live erlebt zu haben.
Die Fragen stellte Tobias Rüther.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 07.05.2009 Seite B6
Dahin, wo alles aufbricht Als Junge haben meine Eltern und ich im Osten Urlaub gemacht, da hieß er noch DDR. Als Regisseur habe ich in ihm später die Landschaft für meine Geschichten entdeckt. Über das Prekäre an der Prignitz. Von Christian Petzold
Kurz nach dem Mauerfall habe ich ein Drehbuch geschrieben, das im Osten spielt. Darin wird ein Gewerkschafter aus Frankfurt am Main in ein Dorf nach Thüringen geschickt, um den Leuten zu erklären, wie man sich in Bewerbungsgesprächen verhält. Für ihn ist das eine solidarische Selbstverständlichkeit, dass diejenigen, die neu dazugekommen sind, wissen müssen, wie der Kapitalismus funktioniert, damit sie darin ihre Würde bewahren können. Aber als er dabei eine junge Frau kennenlernt, zeigt sich, dass jede Lehrtätigkeit auch eine Machttätigkeit ist. Er macht aus dieser jungen Frau seine Geliebte und nimmt sie mit in den Westen, wo er ihr eine Wohnung mietet und sie vor seiner Familie versteckt. Sie ist vollkommen abhängig von ihm und hat keinen eigenen Antrieb. Als sie das begreift, geht sie in ihr Dorf zurück, und ihr wird klar, dass alles nur ein Albtraum und sie längst eine lebende Tote war.
Das Dorf, das ich damals im Sinn hatte, gibt es wirklich. Es heißt Sitzendorf und ist der Heimatort meiner Mutter. Sie stammt aus der DDR, genau wie mein Vater, der aus Zwickau kommt. Beide sind, kurz bevor die Mauer gebaut wurde, weggegangen, weil sie im Osten keine Zukunft für sich sahen. Sie waren noch sehr jung damals, achtzehn, neunzehn Jahre, aber ich glaube, dass junge Menschen, vor allem junge Frauen, sehr früh spüren, wenn ein Land zumacht. Meine Eltern sind nicht in den Westen wegen des Geldes gegangen, sondern weil sich dort eine Gesellschaft formierte, die transparent war, in der man aufsteigen konnte, es Chancen für die Kinder gab. Mein Vater war im Bergbau gewesen, meine Mutter hatte Chemielaborantin gelernt, es ging schnell aufwärts mit ihnen. Das erste Bild, das ich von meinem Vater habe, entstand noch vor meiner Geburt. Darauf lehnt er wie James Dean am Kotflügel eines Ford mit Weißwandreifen. Allein um dieses Foto zu machen, denke ich, hatte es sich für ihn gelohnt, wegzugehen.
Im Westen war das die Zeit, als alles orange zu werden begann, die SPD, die Olympischen Spiele, Creme 21. Orange, das war für meine Eltern die Farbe, und Willy Brandt war der wichtigste Politiker. Sie fühlten Genugtuung, sich für die richtige Seite entschieden zu haben, und obwohl sie immer unfassbares Heimweh nach dem Osten behielten, haben sie diese Genugtuung auch gezeigt, wenn wir im Sommer in der DDR Urlaub machten. Meine Oma besaß in Sitzendorf ein Wirtshaus, in dem immer Männer saßen, die rauchten, als müssten sie sich an der Zigarette wärmen. Mein Vater rauchte, als komme er aus einem amerikanischen Film. Meine Mutter lief durch den Ort, als wolle sie sagen: "Seht her, ich bin Großstadt!" Und ich erinnere mich, wie ich zusammen mit anderen Kindern an dem Fluss in der Nähe spielte, die Schwarza, so hieß auch das Wirtshaus, "An der Schwarza". Wir falteten Papierschiffe, und offenbar habe ich anders gefaltet als die anderen, darum meinten sie: "Du musst das so machen!" Sie wussten nicht, woher ich kam, und weil wir alle nur Badehose trugen, konnten sie es mir auch nicht ansehen. Also sagte ich: "Wir im Westen falten das so."
Einige Jahre darauf wurde mein Vater arbeitslos, dauerarbeitslos. Er kam nicht mehr in den alten Beruf zurück und auch in keinen neuen. Er begann an sich zu zweifeln und zu trinken, es war schwer für ihn. Wenn wir jetzt in den Osten fuhren, dann weil unser Auto dort noch etwas galt und meine Eltern die Gewinner spielen konnten, die sie im Westen schon nicht mehr waren. Es waren richtige Lügenurlaube, und irgendwann haben wir sogar angefangen, Kameras zu schmuggeln und zu Hause zu verkaufen. Das sind so Schamsituationen, die einem erst wieder einfallen, wenn man daran denkt, was man besser unterlassen hätte im Leben. Ich bin nach der Wende auch nicht mehr dort gewesen, in Sitzendorf.
Als die Mauer fiel, lebte ich in West-Berlin. Ich bin an dem Abend zum Grenzübergang Bornholmer Straße gefahren. Es hat mich nicht gewundert, dass nach dem Tag alle Versuche, aus der DDR einen anderen, aber eigenen Staat zu machen, endeten und die Runden Tische auseinander liefen. Ich hatte bei unseren Familienurlauben nie einen Menschen getroffen, der für dieses Land war. Immer ging es um Sachen aus dem Westen, Autos, Zigaretten, Kleidung, Musik, weil alles, was es in der DDR davon gab, immer nur versuchte so auszusehen, als sei es von drüben. Aber ein Staat, der immer nur versucht, muss sich auflösen, wenn seine Bewohner die Möglichkeit haben, etwas Echtes zu bekommen. Sie haben den Westen eben als riesigen Intershop gesehen.
Erstmals im Osten gearbeitet habe ich, da war die Mauer schon seit vielen Jahren gefallen. Wir drehten in der Prignitz, die ich damals noch nicht kannte. Es ist eine Gegend im Nordwesten von Brandenburg, das letzte Stück Land, das die Elbe durchquert, bevor sie nach Niedersachsen wechselt. Ich lebte seit Anfang der achtziger Jahre in West-Berlin und hatte mich bewusst mit dem Rücken zu allem gestellt, was deutsche Landschaft heißt. Jetzt stand ich in den Elbauen, die das Vorbild gewesen sind für den Berliner Tiergarten, und erkannte in ihnen einen Ort wieder, der mir wichtig war. Das war der Anfang, und danach hat es mich immer wieder in die Prignitz gezogen. Sie ist eine Fiktionslandschaft für mich geworden. Alle meine letzten Filme habe ich dort gedreht.
Es gibt an der Elbe eine Stadt, Wittenberge, die ist ähnlich wie Wolfsburg, wo ich kurz zuvor gedreht hatte, ganz von einem Werk geprägt worden, nur dass es keine Autos, sondern Nähmaschinen waren. Singer hatte um die Jahrhundertwende seine erste Fabrik errichtet und dann immer wieder erweitert. Es wurde ein Hafen gebaut, in dem die Maschinen nach Übersee verschifft wurden, und die größte Uhr der Stadt drehte sich nicht auf der Kirche, sondern auf dem Werksturm. Um dieses Werk herum wuchs eine Arbeitergesellschaft mit eigenen Siedlungen, einem eigenen Theater, Boulevards, einem schönen Stadtkern. Nach dem Krieg hat die DDR das Werk übernommen und in "Veritas" umbenannt, die Wahrheit. Es lieferte Nähmaschinen in den ganzen Ostblock, selbst der Vietcong hat seine schwarzen Pyjamas auf "Veritas" genäht. Im Jahr des Mauerfalls wurden noch sieben Millionen Maschinen davon gebaut.
Als ich nach Wittenberge kam, war davon nicht mehr viel zu sehen. Das Werk war nach der Wende von der Treuhand abgewickelt worden. Aber man konnte noch erkennen, dass alles aus ihm entstanden war. Man verstand ein Stück der komplexen Industriegeschichte, die sich im Westen schon Anfang der siebziger Jahre zu verstecken begann. In welche neue Schulklasse ich damals kam, überall waren die Eltern in der Dienstleistung, in der Logistik, es schien keine Arbeiter mehr zu geben, keine Industrie, und später in Berlin war es genauso. Das war eine Stadt, in der man als Student nur noch in Bibliotheken forschen konnte, aber nicht mehr durch Anschauung. Im Osten fand ich ein Stück Vergangenheit wieder, die durch den Nationalsozialismus unterbrochen und von der DDR nicht aufbereitet worden war. Dort standen die Maschinen noch, an denen unsere Eltern und Großeltern sozialisiert worden waren. Dort konnte man fast bis in die zwanziger Jahre zurückreisen und ein Gefühl bekommen für den Glauben an die enorme Kraft, die in der Arbeiterklasse steckt, und dass diese Kraft vielleicht die einzige ist, die der Entfremdung der Arbeit und der Geldwirtschaft etwas entgegensetzen kann. Wo wir einmal hergekommen sind, das habe ich im Osten gesehen.
Auf der anderen Seite gibt es in der Prignitz diese Geschichte nur noch als Ruine. Die Ortskerne sind renoviert, aber es spielt sich kein Leben mehr darin ab. Die neuen Straßen führen an den Siedlungen vorbei, und die einzigen Zentren, die dort neu entstanden sind, sind Einkaufszentren. Ich fand die Menge an Baumärkten, die es im Osten gibt, ein treffendes Bild für die Vereinsamung, weil sich in Baumärkten vor allem einzelne Männer treffen, die versuchen, gegen die Komplexität der Welt eine handwerkliche Lösung zu setzen. Alles selbst machen, den richtigen Dübel nehmen, den richtigen Zaun, und dann, denken sie, kriegen sie es unter Kontrolle. Wenn Leute mein Drehbuch lasen über den Film, der in der Gegend spielen sollte, fragten sie oft, wo die Szene sei, in der alte Freunde vorkommen, Nachbarn, ein Ort, wo man sich trifft. Aber es wäre mir unehrlich vorgekommen, so etwas hineinzuschreiben. Das ist die andere Zeitreise, die man im Osten machen kann, auf ihr erlebt man, was passiert, wenn Leute mit ein paar Transferleistungen ins Nichts gestellt werden. Ich habe selten eine Gegend gesehen, in der das Soziale so zerstört ist wie in der Prignitz, gleichzeitig sieht sie sehr schön aus. Mich hat sie in ihrer Sehnsucht nach ihrer Weite immer an Amerika erinnert.
Das Drehbuch, das ich nach dem Mauerfall über diese junge Frau aus dem Dorf in Thüringen geschrieben hatte, habe ich schließlich in der Prignitz verfilmt, allerdings erst sehr viel später. Der Film heißt "Yella", an der Handlung hat sich nicht viel verändert. Die Frau geht noch immer in den Westen, noch immer hat sie am Anfang einen Autounfall, bei dem erst am Ende klar wird, dass sie ihn nicht überlebt hat und alles nur ein Traum war. Aber diese Frau ist jetzt viel selbstbestimmter, viel weniger abhängig, als sie es in meinem ersten Drehbuch war. Das sind eben die fünfzehn Jahre, die dazwischen liegen.
Protokolliert von Marcus Jauer
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 07.05.2009 Seite B7
Das ist euer Ding Berlin, 4. November 1989: Auf dem Alexanderplatz fordern eine Million Menschen eine freie DDR. Der Westbesuch denkt ans Essen. Von Andreas Kilb
Der 4. November 1989 begann als eisgrauer Berliner Spätherbsttag. Über dem von Gestrüpp umwucherten Reichstag, an dem die S-Bahn vorbeiratterte, hing der Himmel wie ein Kanaldeckel. Als ich aber eine halbe Stunde später aus dem Tränenpalast auf die Friedrichstraße trat – nach dem üblichen absurden Grenzritual unter den Legebatterie-Lampen der Volkspolizei –, blitzte die Sonne über den rußgeschwärzten Dächern hervor. Und die Friedrichstraße war, was sie seitdem wohl nie mehr gewesen ist: leer. Kein Auto, kein Touristenbus, keine Fahrradfahrer-Kavalkade. Nur Fußgänger, die ins Stadtzentrum liefen, zum Alexanderplatz, auf dem die große Kundgebung stattfinden sollte. Ich aber bog Unter den Linden nach rechts ab zum Brandenburger Tor.
Ich war auf der Suche nach dem Geschichtsgefühl, von dem der Schriftsteller Martin Walser gesprochen hatte, dem Gefühl der Trauer über die deutsche Teilung und der Sehnsucht nach Deutschland, dem einen und ganzen. Diese Sehnsucht hatte ich nie gespürt – weder im Geschichtsunterricht an einem westdeutschen Gymnasium noch bei den sporadischen Kindheitsbesuchen an der "Zonengrenze", hinter der für den Zehn- oder Zwölfjährigen aus Frankfurt am Main keine Deutschen, sondern deutsch redende Russen lebten, fremdartige Wesen mit Pelzmützen, die an Stalin glaubten, zwanzig Jahre auf ein Auto warten mussten und ständig warme Unterwäsche aus dem Westen brauchten.
Erst ein Besuch auf der Leipziger Buchmesse im Jahr zuvor hatte mir die Augen über die ostdeutschen Aliens geöffnet – und mich zugleich noch mehr verwirrt. All die Dichter, Lektoren, Taxifahrer, Hauswirtinnen: Wollten sie noch den Sozialismus, nur besser und schöner als unter Honecker, oder schon einen ganz anderen Staat? Und warum schmeckte die Cola bei ihnen nach Spülwasser? Warum saßen sie bei drei Grad im Freien und aßen Vanilleeis? Warum kostete ein Morgenmantel bei ihnen einen halben Monatslohn? Warum erklärte mir ein Wirtschaftswissenschaftler in einem Café, unrentable Betriebe würden in der DDR nicht geschlossen, sondern im volkswirtschaftlichen Interesse weitergeführt? Warum kam ich mir in Leipzig zum ersten Mal im Leben wie ein reicher, privilegierter westdeutscher Schnösel vor?
Mit diesen Fragen im Rücken stand ich vor dem weiträumig abgesperrten, von schlechtgelaunten Vopos bewachten Brandenburger Tor. Walsers Geschichtsgefühl: Jetzt wollte ich es spüren. Das deutsche Herzweh! Aber ich fühlte nichts. Da war nur dieser graue, protzige, klassizistische Klotz, der den Blick nach Westen versperrte. Und so keimte in dem Berlin-Besucher kein patriotisches Sehnen, sondern pure Zerstörungslust. Genussvoll stellte ich mir vor, wie das Tor wie ein Pfropfen aus dem Hals der geteilten Stadt herausfliegen und den Weg freigeben würde in die Wildnis des Tiergartens, ins Niemandsland der Zukunft. Ein deutsches Symbol, von Flaneuren zerschmettert. Zum Glück hat niemand dieselbe Idee gehabt. Noch heute gehe ich oft mit schlechtem Gewissen unter Langhans' Sandsteinsäulen hindurch. Damals aber lief ich zurück nach Osten, an der Festungsfassade der russischen Botschaft vorbei zum Palast der Republik.
4. November 1989, 10 Uhr. Vor dem Republikpalast kommt mir das Volk der DDR entgegen. Keine Menge von Demonstranten, sondern das Volk selbst: Hunderttausende, schweigend. Ruhig, geordnet, wie ein Kondukt, zieht das Menschenband über die Breite Straße zum Alexanderplatz. Am Straßenrand stehen die Fotografen und Fernsehteams. Die Apparate klicken. Gelegentlich hört man Pfiffe und Rufe. Ich suche ein einzelnes Plakat: "Mielke zu den Akten". Nach einer Viertelstunde entdecke ich es in dem Wald von Schildern und Transparenten.
Die Bekannten vom Prenzlauer Berg, mit denen ich mich auf dem Alexanderplatz verabredet habe, sind Mathematiker, Lyriker, Filmemacher, Verlagsvertreter. Nur dass die wenigsten den Beruf, den sie erlernt haben oder zu dem sie sich berufen fühlen, auch ausüben dürfen. Einer arbeitet in einem Kulturhaus, ein anderer betreibt einen Sommerkiosk an der Ostsee, ein Dritter hat sich mit einer Petition an die DDR-Behörden gewandt. Menschen im Wartestand. Es ist dieselbe Generation, die im Sommer in Massen über Ungarn in den Westen geflohen ist. Einer der Geflüchteten, ein Vertreter des Aufbau-Verlags, hat mir die Adresse seiner Freunde gegeben. So kann ich mich als Wessi bei den Demonstranten einreihen.
Am Abend zuvor habe ich zum ersten Mal auf dem Alexanderplatz gestanden. Im Licht der Laternen ist er das Inbild eines gescheiterten Staates: nackte, trostlose Leere, bewacht von Betonklötzen. Der Pfropfen, den das Brandenburger Tor in Richtung Westen bildet, steckt hier dem Fernsehturm als silberner Kloß im Hals. Das Haus der sozialistischen Elektroindustrie, das Haus des Reisens und das vierzigstöckige Interhotel überbringen architektonische Grüße aus Bukarest und Wladiwostok. Als einziger Trost ragt aus der steinernen Steppe die Weltzeituhr Erich Johns mit Uhrzeiten von Bombay bis Honolulu.
Jetzt ist der hässliche Platz von Menschen zugedeckt bis hinüber in die Karl-Marx-Allee und, jenseits der Stadtbahntrasse, zum Roten Rathaus. Das DDR-Fernsehen überträgt die Kundgebung live; leider hat R., in dessen Wohnung wir uns abends wiedertreffen wollen, vergessen, sein Videogerät anzuschalten. Vielleicht, erklärt er, klappe es beim nächsten Mal. Aber es gibt kein nächstes Mal.
Die Reden beginnen. Die Schauspielerin Marion van de Kamp begrüßt im Namen der Künstlergewerkschaften die "Mitdenker und Hierbleiber". Der Schauspieler Ulrich Mühe, späterer Stasi-Held des deutschen Oscar-Films "Das Leben der Anderen", erläutert das Motto der Kundgebung: Meinungsfreiheit (Artikel 27 der DDR-Verfassung) und Versammlungsfreiheit (Artikel 28). Jan Josef Liefers, zu dieser Zeit noch am Deutschen Theater, anschließend vor allem im deutschen Kino und Fernsehen beschäftigt, erklärt, dass die führende Rolle der SED "zur Disposition gestellt" werden müsse. Dann folgen die politischen Schwergewichte: Gregor Gysi, Marianne Birthler, Markus Wolf, Jens Reich, Günter Schabowski. Schabowski, der noch nicht ahnt, dass er fünf Tage später das Signal zur Öffnung der Berliner Mauer geben wird, beschwört noch einmal den "festen Bund mit unseren sowjetischen Freunden". Die Menge pfeift ihn aus. Auch der Sowjetunion bleiben ja nur noch eineinhalb Jahre Lebenszeit nach diesem Novembervormittag.
Allmählich macht sich der sozialistische Grundcharakter der Veranstaltung unangenehm bemerkbar. Denn es gibt keinerlei Verpflegung auf dem Alexanderplatz, weder privatwirtschaftliche Würstchenbuden noch kleinunternehmerische Getränkestände. Der Westbesucher, der weder Stullen- noch Wasservorräte mitgebracht hat, leidet Hunger und Durst. Und – nach zwanzig Jahren ist es Zeit für ein Geständnis – er langweilt sich. Während Stefan Heym für einen "Sozialismus, der des Namens wert ist" trommelt, während Friedrich Schorlemmer den Demonstranten zuruft: "Bleibt doch hier!", während Christa Wolf mit gedämpfter Stimme eine feinziselierte Rede über die Kunst hält, "den Zwiespalt nicht in Konfrontation ausarten zu lassen" – während all dieser historischen Sätze denkt der Gast aus dem Westen insgeheim an ein saftiges Steak und ein kühles Helles. "Du bist halt nichts gewohnt", wird sein Gastgeber später zu ihm sagen. Und das ist fürwahr ein historischer deutsch-deutscher Satz.
Gegen drei Uhr endet die Kundgebung. Die Plakate werden für Ausstellungszwecke auf einen Haufen gelegt; heute sind sie im Deutschen Historischen Museum zu sehen ("Mielke zu den Akten" ist nicht dabei). Ich marschiere mit zum Prenzlauer Berg, wo ich mir in einer Kult- und Künstlerkneipe endlich den Magen füllen kann. Und der Lyriker S., der als Kellner in einem Strandbad sein Geld verdient, verkündet, dieser Tag sei "das Allergrößte, das je in Deutschland gelaufen ist". Dann ist die deutsche Revolution vorbei. Die letzte S-Bahn in Richtung Westen fährt kurz vor Mitternacht. Nächste Station: Mauerfall.
Die Geschichte geht traurig aus. Vier Jahre nach der Demonstration auf dem Alexanderplatz stürzen zwei der Freunde vom Prenzlauer Berg mit einen Privatflugzeug in den Alpen ab, die übrigen zerstreuen sich. Nur mit A., dem Mathematiker, der an jenem Tag nicht mitgelaufen ist, weil er die Kundgebung für eine Stasi-Veranstaltung hielt, habe ich nach langer Zeit wieder Kontakt. Inzwischen dreht er Dokumentationen für deutsche Fernsehsender. Wenn er gewusst hätte, wie viele Leute an diesem Tag gemeinsam demonstrieren würden, wäre er wahrscheinlich mitgekommen, sagt er am Telefon.
Über den Alexanderplatz fahren jetzt die Straßenbahnen. Wer will, kann für fünfzig Cent in der edelsten öffentlichen Toilette der Stadt sein Wasser abschlagen. Und das Centrum-Warenhaus hat sein Kleid gewechselt und heißt jetzt Galeria Kaufhof. Dass der Platz hässlich ist, hat jüngst sogar der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit bei einer städtebaulichen Busrundfahrt gemerkt und mit zerknirschter Miene Besserung gelobt.
Aber die Weltzeituhr ist immer noch da. Jetzt gerade, an diesem kühlen Maimorgen, ist es in Honolulu elf Uhr nachts. Genau wie damals um zehn Uhr an einem grauen und kalten Novembermorgen im Wendejahr 1989. Ach, Honolulu!
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 07.05.2009 Seite B8
Das war unsere Revolution Berlin, 7. Mai 2009: Auf dem Alexanderplatz feiert eine Ausstellung ein Volk, das die Welt veränderte. Von Regina Mönch
Hunderttausende hasten jeden Tag über diesen Platz, dem noch immer die Form fehlt und dessen karger Charme an ein Durchgangszimmer erinnert, das zu möblieren seine Benutzer auf irgendwann verschoben haben. Jetzt wird sich das ändern, für einige Monate wenigstens. In die Wege der hastenden Menschen sind Fotowände gestellt, die man natürlich links oder rechts liegenlassen könnte, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Doch wer innehält, kann sich in eine Geschichte begeben, die nur hier, auf dem Alexanderplatz erzählt wird im Jubeljahr 2009: Die Revolution von 1989 als Akt der Selbstbefreiung ganz normaler Menschen aus der Vormundschaft des SED-Staates.
Am Ende, nach Mauerfall und Wiedervereinigung, war nicht nur dieser Staat untergegangen, sondern ein ganzes Weltreich. Ein ziemlich marodes zwar, aber doch eines, das hochgerüstet war und ein halbes Jahrhundert lang Eigensinn und Zivilcourage und jede Sehnsucht nach Freiheit zu unterdrücken verstand.
An langen hohen Fotowänden entlang wird der Betrachter in diese Zeit hineingezogen, als eine unzufriedene und zerrissene Gesellschaft, die bis dahin brav und überangepasst schien, sich die Freiheit nahm, über ihr Schicksal selbst zu verfügen. Dass dazu nicht nur Mut, sondern auch Phantasie gehörte, die diesem Volk zuvor keiner zugetraut hat, gehört zum Subtext dieser Ausstellung.
In den bleiernen Monaten vor dem Herbst 1989 hatte das Land Hunderttausende seiner Bewohner verloren, zum Schluss jede Woche so viele, wie eine Kleinstadt Einwohner hat. Es waren nicht nur, aber vor allem die Jungen, die über die grüne Grenze in Ungarn verschwanden, aus dem falschen Leben ins richtige. Ihre Eltern standen in diesem Herbst auf der Straße und riefen "Wir sind ein Volk". Auf dem Alexanderplatz aber wird auch erzählt, was geschah, bevor das Volk demonstrieren lernte und einem prügelnden Polizistenmob das Fürchten vor der gewaltlosen Freiheit lehrte. Es ist die Geschichte der Opposition, die zwar zahlenmäßig schwach war und doch in den bleiernen achtziger Jahren ein Netzwerk von gleichgesinnt Unzufriedenen gespannt hatte, was sich nun auszuzahlen begann. Herausragend in dieser einmaligen Geschichte zivilen deutschen Widerstandes ist der Erfolg des "Neuen Forums", des Wunderkinds dieser Revolution.
Es war nicht als Massenbewegung gedacht und wurde doch eine, weil die Zeit dafür reif war. Der erste Aufruf, sich zu versammeln und vor allem sich zu erkennen zu geben, platzte in das Vakuum der großen Ratlosigkeit. Keine andere Bürgerbewegung hat so viele Menschen angezogen wie das "Neue Forum" vor zwanzig Jahren, obwohl es, liest man heute den Gründungsaufruf, seltsam unbestimmt in seinen Zielen blieb. Vielleicht aber war es gerade diese Unbestimmtheit, die eine noch schweigende, ängstliche Menge bewog, sich anzuschließen. Für die SED und ihre Satrapen muss es besonders bitter gewesen sein, dass das "Neue Forum" gerade jene zusammenschmiedete, die sich der Staatsvolk-Idee von Honeckers SED zunehmend verweigerten.
Schon nach wenigen Tagen war der Aufruf der dreißig Forum-Gründer in aller Munde, hundertfach von Hand abgeschrieben und weitergereicht. Es ist schon fast vergessen, dass dies in einem Land geschah, in dem außer der Staatssicherheit kaum jemand über Kopierer, ja nicht einmal jeder über ein Telefon verfügte. Die SED-treuen Medien hatten sich geweigert, den Aufruf abzudrucken, und pflichtschuldigst an die Stasi weitergereicht. Korrespondenten aus dem Westen hatten es immer schwerer, Kontakt mit Bürgerrechtlern aufzunehmen. Trotzdem gab es immer wieder in der ARD und im ZDF kurze Interviews, auf abenteuerliche Weise zustande gekommen, die im Osten millionenfach gesehen wurden und eine nicht geringe Mobilisierungskraft entfalteten. Die Stasi wiederum, gefangen im eigenen weltfernen Bild, beklagte, wie immer mehr den ihrer Ansicht nach staatsfeindlichen Charakter des "Neuen Forums" nicht erkannten. Wochenlang pilgerten stattdessen einander wildfremde Menschen aus der ganzen DDR zu den Wohnungen der Erstunterzeichner. Die gingen tagsüber durchaus noch einer normalen Arbeit nach, kochten nach Feierabend Tee für diese ständig wachsende Mitgliedergemeinde und stellten Bänke und geborgte Stühle in ihre Wohnzimmer, um die Nacht über zu diskutieren oder auch nur zuzuhören.
Es hat viele Ursachen für das Ende der DDR gegeben, die katastrophale Wirtschaftslage etwa und die Zweiklassengesellschaft aus Westgeldbesitzern und Habenichtsen, die Solidarność-Bewegung in Polen, der Prager Frühling, Gorbatschows Perestrojka und die Erosion des gesamten Ostblocks und schließlich die Massenfluchten. Doch eine Diktatur bricht erst zusammen, wenn ihr das Volk den Gehorsam verweigert, seine Angst verliert und sich verbündet gegen die Macht. Das vor allem wird hier erzählt.
Die Robert-Havemann-Gesellschaft hat diesen Geschichtsparcours der besonderen Art am historischen Ort der großen Demonstration ausgerichtet. Wenn alles gutgeht, wenn viele stehenbleiben und sich erinnern oder belehren lassen, könnte diese Ausstellung sogar das Bild über die DDR, die Ostdeutschen und ihre Revolution geraderücken, das in den letzten zwei Jahrzehnten reichlich verdreht wurde und fast verschwunden ist unter all den Legenden von vermeintlich entwerteten Biographien. Nicht das Kleinbürgerglück mit Spreewaldgurke und Trabi oder Zonen-Gabys erste Banane gehörten zu den Fixsternen dieser unglaublichen Zeit, sondern Vacláv Havel und Wolf Biermann, Bärbel Bohley und Jens Reich und Hunderttausende Namenlose, die den Mut fanden, ihr Leben vom Kopf auf die Füße zu stellen. Sie hatten dafür kein Vorbild, nicht einmal Gewerkschaften und erst recht keine Versicherung, dass sich in Zukunft alles zum Besten richten würde.
Bis zum November dieses Jahres ist auf dem Alexanderplatz in Berlin noch einmal die rote Linie zu sehen, an der wir alle vor zwanzig Jahren standen und hinter der sich die Welt zu verändern begann.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 07.05.2009 Seite B8
Chronik des Mauerfalls
5. Mai 1989: Ungarn beginnt mit dem Abbau des Grenzzauns nach Österreich. Eine Massenflucht von DDR-Bürgern in Richtung Westen setzt ein, die erst mit dem Fall der Mauer endet.
6. Mai: Bürgerrechtler prangern die Fälschung der Kommunalwahl in der DDR an.
30. September: Rund 5500 Flüchtlinge aus den Botschaften in Prag und Warschau dürfen ausreisen.
7. Oktober: Am 40. Jahrestag der DDR fordert der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow die SED zu Reformen auf.
9. Oktober: Auf der Leipziger Montags-Demo rufen 70 000 Teilnehmer: "Wir sind das Volk."
18. Oktober: Honecker tritt zurück. Egon Krenz wird SED- Generalsekretär, hält sich aber nur wenige Wochen.
23. Oktober: 300 000 Menschen demonstrieren in Leipzig.
3. November: Die DDR erlaubt ihren Bürgern die Ausreise aus der Tschechoslowakei in den Westen.
4. November: Eine Million DDR-Bürger verlangen auf dem Berliner Alexanderplatz Reformen.
8. November: Das SED-Politbüro tritt zurück.
9. November: Der SED-Funktionär Günter Schabowski verkündet das neue Reisegesetz. Es tritt sofort in Kraft. Zehntausende Menschen strömen noch am Abend zu den Grenzübergängen an der Mauer. Die Jubelbilder gehen um die Welt. An der innerdeutschen Grenze waren zu diesem Zeitpunkt mehr als achthundert Menschen gestorben.
3. Dezember: Das Zentralkomitee der SED löst sich auf. Führende SED-Genossen wie Honecker und Stasi-Chef Erich Mielke werden aus der Partei ausgeschlossen.
22. Dezember: Das Brandenburger Tor wird geöffnet.
30. Januar 1990: Gorbatschow stimmt im Beisein des neuen DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow der deutschen Einheit zu.
13. Februar: Die vier Sieger- mächte befürworten die Wiedervereinigung.
18. März: Die erste freie Wahl zur Volkskammer gewinnt die von der CDU angeführte "Allianz für Deutschland".
5. Mai 1990: Beginn der Zwei-plus-Vier-Gespräche zwischen den Außenministern der beiden deutschen Staaten und denen der Vereinigten Staaten, Großbritanniens, Frankreichs und der Sowjetunion über die außenpolitischen Aspekte der deutschen Einheit.
1. Juli: Die Wirtschafts- und Währungsunion zwischen den deutschen Staaten tritt in Kraft.
20. September: Die Volkskammer und der Bundestag stimmen für den Einigungsvertrag.
3. Oktober: DDR und Bundes- republik sind zu einem Land vereinigt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 07.05.2009 Seite B8