Samstag, 11. Juli 2009

Wie ein Riss, wenn es beginnt zu rieseln

Die evangelische Kirche legt eine Analyse der Krise vor. "Spät", sagt der EKD-Ratsvorsitzende Huber. "Aber hoffentlich nicht zu spät." Von Reinhard Bingener

FRANKFURT, 2. Juli. Schenkt man Zeitungsberichten aus Italien Glauben, verzögert sich die Enzyklika des Papstes zur Wirtschaftskrise auch deshalb, weil der Vatikan angesichts des Vokabulars der Finanzwelt an die Grenzen seines Lateins stößt. Die Übersetzung der Fachbegriffe bereite Schwierigkeiten, hieß es. Mit derlei Dingen mussten sich die im Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland versammelten Laien und Geistlichen nicht plagen – am Donnerstag legte die EKD wie angekündigt ihr Wort zur gegenwärtigen Krise vor. "Spät, aber hoffentlich nicht zu spät", bemerkt der EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber, wolle die evangelische Kirche zur Umkehr rufen angesichts einer Krise, die den Rahmen des ökonomisch regelmäßigen Auf und Ab sprenge. Mit dem Zusammenbruch des Finanzmarkts habe abermals "eine neue Zeitrechnung" begonnen. Kaum ein Jahr nach ihrem Ausbruch spreche man schon von "der Krise" so, wie man vor zwanzig Jahren schon von "der Wende" gesprochen habe, schreibt der Berliner Bischof in seinem Vorwort. Binnen Jahresfrist habe sich durch die Krise auch das politische Bewusstsein umgekehrt: Wo eben noch ein hohes Maß an Deregulierung gefordert wurde, werde nun nach dem starken Staat gerufen.

Der Rat der EKD zollt der Politik Anerkennung für das bisherige Krisenmanagement. Er verbindet dieses Lob allerdings mit der Forderung, die Kosten der Krise nicht allein den Nachkommen aufzubürden. Dem Papier der evangelischen Kirche geht es aber weniger um das Für und Wider konkreter Instrumente als um eine Analyse der Ursachen der Krise und der deshalb gebotenen Folgerungen. Die Schuld für den Kollaps der Finanzmärkte sucht die EKD zunächst bei den Führungskräften der Finanzwirtschaft: Ihnen schreibt die Kirche ins Stammbuch, dass ihre Vergütungssysteme das unternehmerische Ethos untergraben hätten. Der Glaube, die Risiken zumindest im eigenen Einflussbereich beherrschen zu können, habe sich als Irrtum erwiesen, weil man gleichzeitig die sich entwickelnden gesamtwirtschaftlichen Risiken sehenden Auges in Kauf genommen habe. Das Grundübel der Krise, der "Mangel an Verantwortung, bis hin zur Verantwortungslosigkeit", greift nach Auffassung der evangelischen Kirche aber weit über den Finanzsektor hinaus: Frei vom Laster der Gier sei kein Teil der Gesellschaft gewesen, heißt es im Wort des Rates der EKD. Der Staat habe es versäumt, bei der Regulierung mit den Produkten der Finanzindustrie Schritt zu halten. Diese Entwicklung sei nicht nur von der Finanzwirtschaft gewünscht gewesen, sondern auch von Teilen der Politik. Über Banken des öffentlichen Sektors sei der Staat zudem selbst Akteur auf dem Markt gewesen, den er hätte regulieren sollen. Und auch die einfachen Verbraucher hätten das System befeuert. Auch sie hätten sich von der Gier nach schnellem Geld treiben lassen.

Die Wirkung dieser um sich greifenden Verantwortungslosigkeit beschreibt der Rat der EKD mit einem Bild des Propheten Jesaja: Sie wirke "wie ein Riss, wenn es beginnt zu rieseln an einer hohen Mauer, die plötzlich, unversehens einstürzt". (Jes 30, 13) Damit nicht schon bald die nächste Krise heraufbeschworen wird, empfiehlt die EKD zunächst einen unverstellten Blick. Denn mit den Finanzmärkten sei auch die dominierende wirtschaftstheoretische Annahme zusammengebrochen, dass Märkte für alle Teilnehmer gleichermaßen transparent seien. Der Rat der EKD ist demgegenüber der Ansicht, dass Macht und Wissen im Marktgeschehen ungleich verteilt seien. Auch wirtschaftsethisch habe man es sich bisher zu einfach gemacht, beklagt die EKD: Eigennutz sei zwar ein "tragendes Strukturelement der Marktwirtschaft" – er schlage aber in "zerstörerischen Egoismus" um, wenn sich der Blick einzig auf das Wirtschaftsleben richte. Mit Nachdruck wird deshalb das Gemeinsame Wort der evangelischen und der katholischen Kirche aus dem Jahr 1997 bekräftigt: "Marktwirtschaft ist moralisch viel anspruchsvoller, als im Allgemeinen bewusst ist. Die Strukturen müssen, um dauerhaften Bestand zu haben, eingebettet sein in eine sie tragende und stützende Kultur."

So wie aus der Krise der freien Marktwirtschaft in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die soziale Marktwirtschaft entwickelt worden sei, müsse nun die klassische soziale Marktwirtschaft zu einer "sozial, ökologisch und global verpflichteten Marktwirtschaft" mit einer robusten Regulierung der Finanzmärkte fortentwickelt werden, verlangt der Rat der EKD. Mit Sorge nehme man zur Kenntnis, dass die derzeitige Wirtschaftspolitik am Ziel des Größenwachstums festhalte. Das "vorherrschende Paradigma von Wachstum und Wettbewerb" scheine trotz der Krise unangetastet zu bleiben. Ziel müsse hingegen ein "qualitatives Wachstum" sein. "Selbst wenn diese Politik zu vergleichsweise niedrigerem quantitativem Wachstum führte, wäre sie zum Nutzen der meisten Menschen auf der Erde und der Natur." Das Vertrauen auf Gott, hebt der Rat der EKD hervor, könne nicht nur dabei helfen, der Krise standzuhalten, sondern auch aus ihr die richtigen Lehren zu ziehen.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 03.07.2009 Seite 4