Die Bildung der nächsten Generation geht nicht nur die Eltern an, sondern die ganze Gesellschaft. Dafür braucht es neue Visionen: Dankrede zum Börne-Preis. Von Frank Schirrmacher
Wer einen Preis bekommt, ist immer beschämt; aber noch beschämender ist es, eine Auszeichnung im Namen eines Schriftstellers zu bekommen, der selbst nie einen Preis bekam. Eines Schriftstellers, der nicht nur niemals einen Preis bekam, sondern, allem Ruhm zum Trotz, den Hass und die Verleumdung von Mitwelt und Nachwelt zu tragen hatte.
So stand es um Ludwig Börne. Er hat Vorkehrungen dafür getroffen, dass die Nachgeborenen sich sein Leiden an Deutschland nicht schönreden. Er hat übrigens auch Vorkehrungen getroffen, dass wir Heutigen ihn nicht so ohne weiteres mit Geschenkpapier verpackt und mit Schleife versehen in die Tasche stecken können. In seiner Rezension von Bettine von Arnims Buch "Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde" staunt er die Verfasserin an: "Wer Frankfurt kennt, den Geburtsort der Verfasserin, und ihrem Buche die Bewunderung zuwendet, die es verdient, der wird nicht begreifen können, wie eine in Frankfurt Geborene diese Freiheit des Geistes und des Herzens gewinnen konnte. Die Auflösung des Rätsels liegt darin: Frau von Arnim war eine Katholikin, sie gehörte zu den unterdrückten Volksklassen, sie war also Weltbürgerin." Das geht zwar gegen Frankfurt, aber in diesem Fall nur aus dramaturgischen Gründen: Denn in Wahrheit geht es natürlich gegen den, der auch in Frankfurt geboren worden ist, Protestant und herrschende Klasse war, es geht natürlich gegen Goethe. Börnes Maxime – und sie machte ihn zum ersten Journalisten in der deutschen Geistesgeschichte – lautete: Journalismus und Kunst dienen nicht der Verschönerung des Lebens, sondern seiner Erkenntnis.
Wir alle könnten das von ihm selbst hören, wenn wir jetzt die Paulskirche verließen, fünfhundert Meter nach Osten und 182 Jahre in die Vergangenheit wanderten. Wir sähen zwei eher unscheinbare Männer im Gespräch, die jetzt, in diesem Augenblick, vor der Judengasse stünden, unbemerkt von den Passanten und unverzeichnet von den Chroniken der Stadt. Und dennoch findet hier ein Gipfeltreffen statt, aus dem sich, wie Hans Magnus Enzensberger einmal formulierte, die "folgenreichste Kontroverse der deutschen Literaturgeschichte" entwickeln wird. Hier stehen Ludwig Börne und Heinrich Heine, zwei Juden, die Protagonisten des "Jungen Deutschland", wir schreiben das Jahr 1827, Börne macht den Stadtführer und zeigt dem Besucher nach dem Palais Thurn und Taxis – dem Sitz des Bundestags – den Römer und schließlich die Judengasse, das Frankfurter Getto, das erst sechzehn Jahre zuvor mehr schlecht als recht aufgelöst worden war. Schon hat die Beschönigung und Verschönerung der Vergangenheit begonnen, das Mittelalter wird glorifiziert, den angeblich pittoresken Lebensformen der Vergangenheit nachgetrauert. Sie stehen immer noch da, Heine gruselt es vor den schwarzen, kalten Mauern, und nun sagt Börne: "Betrachten Sie diese Gasse", sprach er seufzend, "und rühmen Sie mir alsdann das Mittelalter! Die Menschen sind tot, die hier gelebt und geweint haben, und können nicht widersprechen, wenn unsere verrückten Poeten und noch verrückteren Historiker, wenn Narren und Schälke von der alten Herrlichkeit ihre Entzückungen drucken lassen; aber wo die toten Menschen schweigen, da sprechen desto lauter die lebendigen Steine."
Kaum einhundert Jahre danach werden die Werke der beiden Juden verbrannt, und Börnes Satz klingt wie so vieles bei ihm: als hätte er etwas vorausgewusst. Was würde er heute sagen? Wenn er jetzt wirklich leibhaftig am heutigen Börne-Platz stehen würde, würde er über die Gegenwart als über die Geschichte reden. Er würde fragen, wie es möglich ist, dass für den Posten des Generalsekretärs der Unesco, der, man muss es aussprechen, Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur, allen Ernstes ein Mann kandidieren kann, der auf die Frage, ob in der Bibliothek in Alexandria auch hebräische Werke stehen könnten, antwortete: "Bring mir diese Bücher, und wenn es sie gibt, werde ich sie vor deinen Augen verbrennen." Wir hören, dass Staaten, auch Israel, sich aufgrund diplomatischer Deals am Ende mit dieser Wahl abfinden können. Es ist mir völlig egal, was die Staaten sagen, umso schlimmer für die Staaten. Wer es ernst meint mit Börne und dem, wofür er steht, den kann das nicht beeindrucken. Er kann es nicht anders als unerträglich empfinden.
Was würde er heute sagen? Das ist eine Spekulation, die Börne selbst sehr gereizt hat. Was würde Shakespeare heute schreiben?, fragte er einmal. Seine Antwort: Der liebe Gott ist der Finanzminister. "Der spricht: es werde! und es wird eine papierne Welt; Adam, der erste Bankier; das Paradies, ein seliger Pari-Stand der Staatspapiere; der Sündenfall: der erste Fall der Kurse." Die Blätter der Geschichte? Metallaktien, Bankaktien, Partiale. Der Jüngste Tag? Ultimo. "Oh, wie hätte Shakespeare, dieser große Wechselmakler zwischen Natur und Kunst, der das Geld der einen gegen das Papier der andern eintauscht, die Geheimnisse der Börsenherzen aufgedeckt."
Wir sind viel bescheidener. Wir wollen gar nicht die Börsenherzen aufdecken, uns würde es schon reichen, wenn wir aufdecken könnten, wer für die gegenwärtige Krise verantwortlich ist. Uns würde schon genügen, wenn, wie bei Shakespeare, wenigstens Rechenschaft gefordert würde, Verantwortungen benannt und Kosten geteilt würden. An Stoff mangelt es uns nicht, man kann ihn überall nachlesen und abrufen. Zum Beispiel auf der Website des amerikanischen Senats, wo dokumentiert ist, wie der Manager einer mittlerweile pleitgegangenen amerikanischen Bank im letzten Sommer den Vorschlag seiner Mitarbeiter, angesichts der schlechten Daten auf die Auszahlung der Boni zu verzichten, mit dem Satz quittiert: "Was haben sie euch denn ins Trinkwasser getan?"
Während zwischen Internetwelt und Zeitungen und Zeitschriften eine heftige Fehde ausgebrochen ist, was Papier ist und wofür es steht, während digitale Propheten die virtuelle Welt verkünden, ihre Bücher aber selbst noch gerne auf Papier verbreiten, tobt um uns herum ein Allegoriengewitter der papiernen Welt. Papiere werden "toxisch" oder "Schrott", Staaten legen Papiere auf, um sich zu finanzieren, Geld wird gedruckt, und vor diesen Druckmaschinen fürchtet die Welt sich mehr als vor den Zeitungen, und mancher sieht sich in einer Gegenwart, in der, und hier ist wieder Börne, nicht mehr mit "Lumpen Papier, sondern mit Papier Lumpen" gemacht werden.
Die totale Kommunikation und die Möglichkeit, Wissen in jedem Augenblick und an jedem Ort auszutauschen und abzurufen, haben nicht verhindert, dass wir einen Systemabsturz erlebten, den noch am Tage seines Eintritts keiner der Beteiligten für möglich hielt. Was wir in den letzten Monaten erlebt haben und immer noch erleben, war nicht nur ein Systemfehler, es war die Erfahrung eines Kontrollverlusts, die Erkenntnis, dass dort, wo wir rechnerische Rationalität vermuteten, Inkompetenz herrschte.
Der amerikanische Evolutionsbiologe Jared Diamond hat in seinem Buch "Kollaps" die Ursachen genannt, die bestimmten Eliten überhaupt die Chance geben, ihre Gesellschaften zu zerstören. Sie isolieren sich ökonomisch von der Gesamtgesellschaft, und zwar so sehr, wie der amerikanische Nobelpreisträger Paul Krugman bereits vor der Krise fassungslos feststellte, dass der bestbezahlte Hedge-Fonds-Manager der Vereinigten Staaten in einem Jahr mehr verdient als sämtliche Lehrer des Bundesstaats New York in drei Jahren. Ich zitiere Diamond – Sätze, geschrieben lange vor dem Ausbruch der gegenwärtigen Krise mit Blick auf die ökologische: "Sie fühlen sich sicher, weil sie sehr konzentriert und in überschaubarer Zahl auftreten. Sie sind durch die Aussicht auf schnelle, sichere Profite hoch motiviert, während sich die Verluste stets auf eine sehr große Zahl von Individuen verteilen." Diamonds Buch heißt in der wörtlichen Übersetzung aus dem amerikanischen Original im Untertitel: "Warum Gesellschaften wählen zu reüssieren oder zu versagen".
Das ist eine große Frage, ich schlage eine kleinere vor. Ich frage, mit Börne, dem Protagonisten des "Jungen Deutschland", wer uns helfen kann. Wen müssen wir umwerben, fördern, an uns binden? Ich frage mit Heine nach den Alliierten und Mitstreitern, die wir gewinnen müssen und können. Es gibt sie. Nicht mehr ganz so viele, aber man kann sie sehen, meistens morgens gegen 7.45 Uhr auf den Straßen unserer Städte. Sie sind jetzt fünf, zehn oder fünfzehn Jahre alt. Sie werden zum Beispiel dreißig Jahre alt sein, wenn die heute Dreißigjährigen, der Geburtsjahrgang 1978, sechzig sind, und die Achtundsiebziger tun gut daran, einmal nachzusehen, wie viele Dreißigjährige es dann noch gibt, denn die sind alle schon auf der Welt.
Die Frage, die unsere gesellschaftliche Zukunftsfrage wird, lautet, warum manche Kinder und Jugendliche reüssieren und andere versagen. Das war in der Vergangenheit eine Sonntagsfrage, geeignet für Festreden wie diese. Sie ist es nicht mehr.
Die Menschen glauben immer noch nicht, dass wirklich wahr ist, was sie mittlerweile fast täglich in den Zeitungen lesen. Und deshalb noch einmal als Aussagesatz: Diese Gesellschaft wird in Kürze eine Gesellschaft von sehr wenigen und immer weniger jungen Menschen sein. Wir bemerken es nur deshalb nicht, weil die Babyboomer im Augenblick auf der Höhe ihrer Leistungskraft stehen. Es ist ein Unterschied, ob man tausend Menschen die Aufgabe hinterlässt, einen Berg abzutragen, oder einem einzigen. Alle unsere pädagogischen und bildungspolitischen Maßnahmen tun so, als stimme das Gegenteil. Die Integration und Bildung von Migranten, die Konzentration auf frühkindliche Erziehung, die Notwendigkeit einer Bildungsrevolution für das junge Deutschland – das hat nichts mehr mit Ideologien zu tun, die gezielte und womöglich auch teure Förderung von Migranten nichts mit Gnadenerweisen. Es ist eine existentielle Frage geworden, die nur in die ferne Zukunft verschieben kann, wer die demographischen Fakten ignoriert. Wie in allem anderen, wo wir mühsam umlernen müssen, verdirbt uns auch hier die Erfahrung des Überflusses. Es war immer von allem genug da, auch von jungen Menschen, und weil genug da war, konnte man es sich leisten, vieles buchstäblich zu verschwenden.
Bildungsversagen heißt nicht nur, dass Menschen später womöglich keinen Beruf finden. Es heißt auch nicht nur, dass Innovationen und Gedanken vertrocknen. Bildungsversagen verändert die Psychologie einer Gesellschaft. Es führt dazu, dass Menschen nicht nur für ein, zwei Jahre, sondern ein ganzes Leben lang vom Bewusstsein ihrer eigenen Inkompetenz verfolgt werden. Die Sozialpsychologie hat diesen Teufelskreis exakt beschrieben. Denn die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, die sich einmal in diesem Teufelskreis befinden, lernen durchaus noch, aber sie lernen, wenn man so will, negativ. Der Begriff dafür lautet: "erlernte Hilflosigkeit". Sie geben auf. Manche von ihnen, wie wir wissen, schon mit fünfzehn Jahren. Eine Gesellschaft, die aufgrund der wachsenden Zahl von Älteren ohnehin ein viel stärkeres Gefühl erlernter oder wirklicher Hilflosigkeit hat, muss alles dafür tun, dass die jungen Menschen sich fähig und jeder einzelne sich gebraucht fühlt. Man sollte sich nicht auf die verlassen, die es geschafft haben. Wer sagt denn, angesichts des internationalen Wettbewerbs um junge Menschen, dass diese jungen Erwachsenen hierbleiben wollen? Der Soziologe Gunnar Heinsohn hat unlängst darauf hingewiesen, wie hoch der offizielle Bedarf an qualifizierter Zuwanderung junger Leute in der angelsächsischen Welt, von Australien bis Kanada, sein wird. Er entspricht – damit man sich die Dimensionen vor Augen führt – der Anzahl sämtlicher Lebendgeburten in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Österreich, Polen und Bulgarien.
Ist einmal erkannt, dass die Mission einer zweiten Aufklärung in unserer Gesellschaft, der "new deal" einer Bildungsvision, kein Thema unter vielen, sondern das Thema schlechthin ist, stehen unsere Chancen immer noch gut. Der Rohstoff, den wir haben, sind unsere Gehirne. Und es ist ganz einfach und gar nicht unerfüllbar, was zu geschehen hat. Es reicht, wenn wir der Ausbildung der nachwachsenden Generation den gleichen Stellenwert geben wie einer Bank namens Hypo Real Estate. Es reicht, sie systemisch zu nennen. Die Hypo Real Estate war eine Geldvernichtungsbank, aber es gibt auch vermögensbildende Banken. Und das gilt auch für die Bildung: Es gibt eine florierende und offenbar hochprofitable Verdummungsindustrie; warum sollte es so etwas nicht auch für das Gegenteil geben?
Das alles ist konkret, nicht abstrakt. Zum ersten Mal geht die Frage der Bildung nachwachsender Generationen nicht nur Eltern, sondern alle an. Ob heute Schulklassen zusammengelegt werden, weil es weniger Schüler gibt, oder ob Klassen klein bleiben, weil weniger Schüler die Chance des kleinen Unterrichts ermöglichen – das ist eine Entscheidung, deren Folgen in wenigen Jahren alle zu ertragen haben werden. Die Tatsache, dass wir, bei einer Lebenserwartung von bald fast neunzig Jahren, immer noch ganze Bildungskarrieren und Lebensläufe beim zwölften Lebensjahr zementieren, wird späteren Generationen nur noch als objektiver Wahnsinn vorkommen.
Psychologie und Hirnforschung haben in den letzten Jahren gezeigt, wie unglaublich vielfältig und reich die Möglichkeiten menschlichen lebenslangen Lernens sind. Es ist so, um die amerikanische Psychologin Ellen Langer zu zitieren, als hätte man alle Erkenntnisse der modernen Medizin auf dem Papier, weigerte sich aber, sie anzuwenden. Es ist so, als wären wir mit unserem Körper im 21. Jahrhundert, aber mit unserem Kopf immer noch im Frankfurt des Jahres 1827. Börne, der zeigt, was das Vertrauen in Aufklärung und Rationalität aus einem Menschen machen kann, träumte von einer Solidarität für die besseren Dinge. Was die heute bedeuten könnte, dafür gibt er uns selber den Titel: Solidarität mit dem jungen Deutschland.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 08.06.2009 Seite 27